Читать книгу Hinten im Universum - Jasmin Hütt - Страница 5

Kapitel 3

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Ich schreckte hoch. Finsternis umhüllte mich. Wo war ich? Mir war kalt und ich lag unbequem verdreht auf hartem Beton. Maja hob ihren Kopf von meinem Bauch und damit dem einzigen warmen Fleck meines Körpers. Noch nicht ganz bei mir setzte ich mich auf und streichelte sie gedankenverloren. Plötzlich fiel es mir wieder ein. Die Hauptstadt. Der Orkan. Die U-Bahn. Das Gespräch mit Mike. Die Lüge über Samira.

Was war nur in mich gefahren, hier so lange sitzenzubleiben und einzuschlafen? Wie viel Zeit war vergangen? Warum hatten mich die anderen nicht geholt und warum war das Licht aus? Ich tastete neben mir nach dem Leuchtstab. „Komm schon“, flüsterte ich, als ich ihn endlich fand, und aktivierte ihn. Nichts. Panisch drückte ich abermals auf den Knopf. Eine endlose Sekunde später leuchtete das Licht auf. Ich checkte die Energieanzeige: Noch halb voll. Aufatmend sah ich zu Maja, sie wedelte ungeduldig mit dem Schwanz. Klar, sie wollte zum Clan zurück. Schnell legte ich mir die Kette meiner Mutter um den Hals und warf einen Blick nach hinten. Es war ganz schön unheimlich hier, wieso war mir das vorhin nicht aufgefallen? Was, wenn jetzt die Decke zusammenbrach? Hastig sprang ich auf. Unsinn. Dieser Raum hatte zweihundert Jahre überdauert, ohne einzustürzen.

Die Lichtquelle fest umklammert, bewegte ich mich auf den Durchgang zu. Maja lief voraus. Als ich durch den Gang ging, hörte ich sie plötzlich bellen. Was war passiert? Ich hastete vorwärts. Weit konnte es nicht mehr sein … Endlich erreichte ich unsere Halle, Maja stand fiepend in der Mitte. Sonst war sie leer. Das konnte doch nicht sein! War ich in die falsche Richtung gegangen und hatte mich verlaufen? Aber Maja war doch vor mir gewesen und sie hatte vorzügliche Sinne! Ich stand starr vor Schreck im Eingang. Die Hündin steigerte ihr Jaulen und bestätigte mir damit, dass wir nicht falsch zurückgelaufen waren. Unsere Familie war weg. Ich kniff mir ins Ohr, um mich zu konzentrieren. Keiner von ihnen würde uns freiwillig zurücklassen. Oder?

Geschockt umrundete ich einmal den Raum. Hatten sie irgendeinen Hinweis zurückgelassen? Nichts, keinen Fetzen. Auch meine Sachen waren weg, mir blieb nur, was ich am Körper trug. Maja schnüffelte quiemend an einem dunklen Fleck vor mir. Ich hatte ihn nicht für wichtig gehalten, kniete mich jetzt aber hin und hielt den Leuchtstab darüber. Dunkelrot. Als ich ihn mit dem Zeigefinger berührte, wurde er auch rot. Verdammt, das war Blut! Ich fuhr zurück. Was war hier passiert? Waren sie überfallen worden? Zumindest stapelten sich keine Leichen. Das musste zwar nichts heißen, aber die Hoffnung blieb. Genau das hatte mein Vater gemeint …

Verwirrt ließ ich mich an der Wand herunterrutschen und fing an zu weinen. Das konnte einfach nicht sein! Bestimmt waren sie alle tot. Jemand hatte sie überfallen, die Sachen genommen und ihre Körper irgendwo verscharrt. Was sollte ich nur tun? Ich war ganz allein. Maja kam zu mir, die Ohren hängend. Gut, sie zählte auch, aber trotzdem …

„Wir beide gegen den Rest der Welt“, schluchzte ich und ein weiterer Weinkrampf schüttelte mich. Die Hündin legte mir den Kopf auf mein Knie und sah mich aus ihren großen, braunen Augen traurig an. Sie würde mich nie im Stich lassen und auch nicht aufgeben. Vielleicht sollte ich mir davon mal eine Scheibe abschneiden. Ich hatte nie einen guten Grund zum Leben gehabt, jetzt war mir sogar das letzte bisschen, was ich hatte, genommen worden. Das war nicht fair und ich würde es nicht auf mir sitzen lassen. „Wenn sie noch leben, werden wir sie finden. Wenn nicht, werden wir uns an den Verantwortlichen für ihren Tod rächen!“, schwor ich Maja und mir. Dann wischte ich mir die Tränen ab und stand auf.

Aber wo sollten wir anfangen? Ich versuchte, logisch zu denken. Es war rätselhaft, wie die zwölf Personen einfach verschwinden konnten, während wir nur einen Raum entfernt gewesen waren. Maja bekam es normalerweise immer mit, wenn wir aufbrachen, obwohl sie oft irgendwo herumstromerte. Wie konnte das also sein?

Ich beobachtete Maja. Sie schnüffelte mal hier, mal da, schien aber keine Fährte zu finden. „Such Mike!“, befahl ich ihr. Die Hündin warf mir einen niedergeschlagenen Blick zu, setzte sich hin und ließ den Kopf hängen. Dieses Such-Spiel hatten wir früher oft gespielt und sie hatte meine Aufgaben immer ohne Probleme bewältigt. Also hatte sie wirklich keine Spur …

Was jetzt? In der Enge der U-Bahn konnte ich kaum denken. Die Wände schienen immer näher zu kommen, es war sehr beklemmend. Meine Mutter war in der U-Bahn gestorben, die Gruppe verschwunden und ich ganz allein. Eigentlich wollte ich hier nur noch raus. Das war sogar sinnvoll, vielleicht gab es am Ausgang eine Spur. Schließlich konnten sie nur nach oben verschwunden sein, Maja und ich hatten ja an den Gleisen gesessen.

„Komm“, flüsterte ich leise. Als hätte sie mein Vorhaben erraten, lief die kluge Hündin sofort zur Treppe. Während wir nach oben stiegen, erwartete ich hinter jeder Biegung die Leichen des Clans. Es war gruselig, aber wir kamen ohne Zwischenfälle oben an. Der Sturm schien weitergezogen zu sein, denn es war nichts zu hören. Dunkel war es auch, wahrscheinlich war es mitten in der Nacht.

Wo war nur der Spalt? Maja stand vor der Trümmerwand und sah sie verwundert an. Ich leuchtete die Steine ab und war schnell fertig, denn die Fläche war nicht besonders groß. Das konnte doch nicht wahr sein, wohin war diese riesige Lücke verschwunden? Ich lehnte mich gegen die Steine, aber sie gaben keinen Millimeter nach. Dann fuhr mir der nächste Schock bis in den kleinen Zeh. Nicht nur die Gruppe war verschwunden, nein. Wir waren in einer U-Bahn eingesperrt und von der Außenwelt vollständig abgeschnitten.

Mein Albtraum hatte sich gerade in einen Super-GAU verwandelt, aber ich verbat es mir, abermals in Tränen auszubrechen. Ich würde jedes bisschen Flüssigkeit brauchen, wenn ich hier lebend herauskommen wollte. Aber ich verstand diesen ganzen Horror nicht! Irgendwer entführte Leute und ließ sie nicht einfach laufen oder brachte sie sofort um, obwohl das viel einfacher wäre. Dann machte er sich auch noch die Mühe und blockierte den Ausgang der U-Bahn, obwohl sich seines Wissens niemand mehr unten aufhielt, den er einsperren konnte. Das ergab doch keinen Sinn! Außer natürlich, meine eigenen Leute hätten mich verraten und in einem Tunnelsystem zurückgelassen, dessen Kumpel in München die Todesfalle meiner Mutter gewesen war. Doch mein Gehirn weigerte sich, dieser Theorie Glauben zu schenken. Gut, ein Esser weniger, aber als Gruppe war es immer besser, mit so vielen Leuten wie möglich unterwegs zu sein, um Angreifer abzuschrecken. Die größte Dummheit wäre es gewesen, den besten Wachhund der Welt mit mir zusammen vergammeln zu lassen. Nein, das konnte, durfte einfach nicht sein.

Für uns zählte jetzt, sobald wie möglich an die Oberfläche zu kommen. Als ich auf die Anzeige des Leuchtstabs sah, wurde mir klar, dass uns dafür nicht viel Zeit blieb. Vielleicht noch fünf, sechs Stunden, dann würden wir im Dunkeln sitzen. Unsere einzige Chance waren die Tunnel, in denen damals die Züge gefahren waren. Vielleicht kamen wir bis zu einer Haltestelle durch, deren Ausgang nicht verschüttet war. Also brachte ich wiederstrebend die ersten Stufen hinter mich. Es gefiel mir gar nicht, noch einmal zurückzugehen, aber hatte ich eine Wahl?

Als wir unsere alte Lagerhalle durchquerten, warf ich einen letzten Blick auf den dunkelrot leuchtenden Fleck. Wem das Blut wohl gehörte? Ich wollte es lieber gar nicht wissen und beschleunigte meine Schritte. Schließlich kamen wir in der Abfahrtshalle an. „Und jetzt?“, fragte ich Maja.

Immerhin blieben uns vier Möglichkeiten und mir war klar, dass wir nicht alle ausprobieren konnten, bevor der Leuchtstab leer war. Im Dunkeln würden wir endgültig verloren haben. Die Hündin antwortete natürlich nicht und hob bloß schnüffelnd die Nase, rührte sich aber nicht vom Fleck. Von ihrer Seite schien ich keine Hilfe erwarten zu können.

Am sinnvollsten war es wahrscheinlich, in Richtung ehemalige Innenstadt zu gehen, weil dort mehr Haltestellen gewesen waren. Angestrengt dachte ich nach. Ursprünglich waren wir auch in den Stadtkern unterwegs gewesen, daher versuchte ich, mir ein Abbild der Oberfläche und der U-Bahn-Gänge vorzustellen. Es war schwierig und ich war mir nicht sicher, entschied mich aber für die Seite mit einem schwarzen Fleck an der Wand. Mithilfe eines Kompasses hätte ich mein Ergebnis überprüfen können, aber das einzige Navigationsgerät unserer Gruppe befand sich immer in Mikes Obhut.

Jetzt blieben noch zwei Tunnel zur Auswahl. Während ich noch herumstand und überlegte, ob ich losen sollte, sprang Maja ungeduldig in das rechte Gleisbett. „Auch gut“, dachte ich und ließ mich langsam von der Kante herunter. Der Boden bestand aus Steinen, man konnte nicht besonders gut darauf laufen. Außerdem war es noch dreckiger als oben. Seufzend betrat ich den Gang.

Der Schein des Leuchtstabes reichte etwa sieben Meter, dahinter war alles schwarz. Um nicht eine Haltestelle zu verpassen, sah ich immer abwechselnd nach rechts und links. Die Tunnelwände waren dunkelgrau und verschluckten viel von meinem kostbaren Licht. Während wir langsam vorwärtskamen, holten mich die Ereignisse der letzten Stunden wieder ein und erinnerten mich schmerzhaft daran, dass wir ohne den Schutz durch den Clan so gut wie verloren waren. Vorausgesetzt, wir schafften es überhaupt aus dem Untergrund heraus. Irgendwann würde das Licht ausgehen und wir kämen nur noch sehr langsam voran. Dann würde ich bestimmt stolpern und mich so verletzen, dass ich gar nicht mehr weiterkam. Früher oder später, mit Verletzung oder ohne, irgendwann würde ich verdursten und verhungern. Dann wäre die U-Bahn für immer mein steinernes Grab.

Als die Lichtstrahlen auf ein Hindernis trafen, riss ich mich aus meinen düsteren Spekulationen. Beim Näherkommen erkannte ich Schutt und Trümmer. Hoffentlich kamen wir da irgendwo durch! Maja winselte und kurze Zeit später wurde mir klar, dass die Decke eingestürzt sein musste. Auch über uns sah sie nicht besonders fest verankert aus.

„Los, weg hier“, flüsterte ich und drehte mich um. Der erste Weg war eine Sackgasse, wir hatten unnötig Zeit verschwendet. Blieben noch drei. Ich hätte gerne den anderen Tunnel in Richtung Innenstadt genommen, aber mir kamen Zweifel. Wenn die ganze nächste Station verschüttet war, wäre uns damit nicht geholfen. So ein Mist!

Der Rückweg nahm kein Ende, langsam musste doch die Haltestelle auftauchen … Mein Verstand schien mir Streiche zu spielen. Ich fror und meine Sachen waren klamm. Auch der Hunger meldete sich zurück, vom Durst mal abgesehen. Außerdem war es anstrengend, auf den rutschenden Steinen zu laufen. Wie lange würde ich durchhalten? Plötzlich war ich wieder im Flashback.

Ich ziehe meinen ausgemergelten Körper immer höher. Rutsche beinahe ab. Lasse mich schließlich auf eine Plattform fallen. Neben mir der Abgrund. Steinchen rollen in die Tiefe.

Zurück in der Wirklichkeit musste ich mich taumelnd an der Tunnelwand abstützen. Warum konnte ich nicht mit der Vergangenheit abschließen? Es war vorbei, ich musste nach vorne sehen. Das tat ich im wahrsten Sinne des Wortes und konnte endlich die Station erkennen, von der wir vorhin losgegangen waren. Würden wir auf der anderen Seite mehr Glück haben?

Gegenüber sah alles gleich aus. Schwarze Wände und das rutschige Gleisbett. Seite an Seite liefen wir immer weiter. Maja hatte Ohren und Schwanz aufgestellt, ihr entging nichts. Nach einer Weile hätte ich nichts gegen eine Pause gehabt, aber so viel Zeit blieb uns nicht. Ich sah auf die Anzeige des Leuchtstabes. Nur noch 25%! Also blieben uns etwa drei Stunden. Würde, konnte die Zeit überhaupt reichen? Ich erhöhte mein Tempo, musste aber sehr aufpassen, den Halt nicht zu verlieren.

Irgendwann machte der Tunnel eine leichte Kurve und stieg etwas an. Ob das Vorzeichen für eine Haltestelle waren? Hier sahen Wände und Decke stabil aus, soweit ich das beurteilen konnte. Hindernisse hatte es bisher auch nicht gegeben und Hoffnung keimte in mir auf. Doch die wurde sofort zerstört, als ich plötzlich einen menschlichen Umriss ein paar Meter weiter vor mir liegen sah. Mein Puls raste, während ich langsam näher kam. „Bitte, bitte lass es keinen von uns sein!“, betete ich, obwohl ich an keinen Gott glaubte. Zitternd blieb ich stehen. Es war ein Kind, soviel war klar. Es lag mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache. Tot.

Ich wusste, dass von Leichen Krankheiten übertragen werden konnten, aber ich musste wissen, ob es Luca war. Er war der kleinste von uns. Maja war mir nicht von der Seite gewichen und sah nun fragend zu mir hoch. Sie schien nicht so recht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Ich auch nicht. Also konnte ich mich nur zusammenreißen und es hinter mich bringen. Schnell machte ich die letzten Schritte, packte den Toten am Arm und drehte ihn um. Das Gesicht war voller Blut, die Kehle brutal durchgeschnitten. Trotzdem gab es keine Zweifel. Ich fiel auf die Knie. Es war Luca. Mein Cousin war tot. „Nein“, flüsterte ich. Tränen traten mir in die Augen. Der unschuldigste Mensch, den ich je kennengelernt hatte, würde mich nie wieder anlachen. Wie konnte jemand einen fünfjährigen Jungen so eiskalt ermorden? Das konnte einfach nicht sein. „Nein!!!!“ Mein Schrei verursachte ein Echo, das durch den Tunnel dröhnte. In meinen Ohren hallte er noch viel länger nach.

Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, bis Maja erst Luca, dann mir über die Hand schleckte. So ungern ich ihn hier zurückließ, wir mussten weiter. Um zu überleben und seinen Tod zu rächen. Mit diesem stillen Versprechen schloss ich seine Augen und stand auf. Dann wischte ich mir, so gut es ging, erst sein Blut von den Händen und schließlich mir die Tränen aus den Augen. Unkontrolliert zitternd machte ich mich erneut auf den Weg und die Hündin folgte mir. Jeden Moment erwartete ich die nächste Leiche auf dem Gleisbett. Inzwischen war mir klar, dass unsere Flucht in die U-Bahn niemand außer Maja und mir überlebt haben konnte. Wie lange würden wir noch durchhalten?

Beim Laufen grübelte ich vor mich hin. Die ganze Sache wurde immer bizarrer. Da ich Luca weit vom Tunnelausgang entfernt gefunden hatte, waren wohl auch seine Mörder hierentlang verschwunden. Dafür müssten sie aber die Halle durchquert haben, in der Maja und ich geschlafen hatten. Niemand konnte mir erzählen, dass sie uns nicht bemerkt hatten. Unser Leuchtstab war vielleicht schon aus gewesen, aber um einen ganzen Trupp Menschen zu entführen, brauchte man seinerseits ebenfalls Leute und Licht. Die Halle war nicht besonders groß und ich hatte deutlich sichtbar am Bahnsteig gesessen. In dem Fall, dass sie mich wirklich übersehen hatten, hätte Maja sie hören müssen.

Dazu kam der verbarrikadierte U-Bahn Schacht. Ich rief mir den Moment vor Augen, in dem ich die Hündin kläffend vor dem Spalt entdeckt hatte. Nein, da war nichts, das herunterfallen und die Öffnung unter sich hätte begraben können. Konnte ich mich so täuschen oder hatte mich jemand absichtlich hier unten eingesperrt? Der Clan kam dafür jetzt wirklich nicht mehr infrage, sie hätten Luca nie im Leben etwas angetan.

Die zweite Möglichkeit war, dass ein Fremder mich hier zurückgelassen hatte. Aber warum? Der Leuchtstab war Gold wert, genau wie Maja. Ich hatte keine Ahnung, welche Version mir lieber war, denn der oder die Entführer würden wiederkommen, falls diese ganze Aktion Absicht war. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter. Ab jetzt würde ich doppelt so vorsichtig sein. Doch das Licht konnte ich nicht ausmachen oder dämpfen, ich sah jetzt schon zu wenig. Also blieb nur, mich leise zu verhalten, aufmerksam zu sein und Majas Sinnen zu vertrauen. Unten im Tunnelsystem war ich möglichen Feinden sowieso gnadenlos ausgeliefert.

Der Gang nahm einfach kein Ende, die Enge schien mich erdrücken zu wollen. Mittlerweile hatte der Automatikmodus meines Körpers übernommen. Der Schmerz über Lucas Tod und die Ungewissheit über das Schicksal meiner Gefährten lähmten mich. Meine Kräfte ließen nach, aber ich lief immer weiter. Zu allem Überfluss war ich plötzlich abermals in der Vergangenheit.

Schwer atmend liege ich auf dem Rücken. Jetzt bin ich oben, ich habe es geschafft. Bin vorerst an meinem Ziel. Über mir ist es grau, alles ist grau. Ich werde es durchziehen.

Die Realität war schwarz, nicht grau. Ich wollte das nicht. Diese Flashbacks schienen immer häufiger die Kontrolle zu übernehmen, ich war ihnen schutzlos ausgeliefert! Aber was konnte ich schon dagegen machen? Mein Hirn spielte verrückt!

Eine kleine Last fiel von meinen Schultern, als mit einem Mal die Wände verschwanden und wir endlich die nächste Station betraten. Vorsichtshalber duckte ich mich erst mal hinter die Bahnsteigkante, um die Lage zu überblicken. Möglicherweise waren diese Verrückten noch hier. Ein paar Minuten starrte ich in die Dunkelheit, aber es regte sich nichts. Also stemmte ich mich nach oben und auch Maja sprang auf den gepflasterten Bahnsteig.

Auf den ersten Blick sahen sich die beiden Stationen relativ ähnlich. Geflieste Wände, aus denen einzelne Steine abgebröckelt waren. Die beiden Gleise und eine hohe Decke. Hier war alles irgendwie größer, aber ich würde mich schon zurechtfinden. Hinter einem der Stützpfosten entdeckte ich den Gang nach oben und lief aufgeregt weiter.

Wie ich kurz darauf feststellte, mündete er in eine im Vergleich zu der anderen Haltestelle riesige Halle. Um mir einen Überblick zu verschaffen, umrundete ich sie einmal. Zwei weitere Gänge führten in die Tiefe, vermutlich zu weiteren Gleisen. In einer Ecke fand ich einen verrosteten Kasten. Ob der einmal Fahrkarten ausgespuckt hatte?

Außerdem gab es einen breiten Schacht nach oben. Ein bisschen wunderte ich mich, als ich direkt davor stand. Es gab keine Treppenstufen, nur ein paar Tritte in der Mitte und zwei Schrägen rechts und links. Hatten sich die Menschen früher auf den Hintern gesetzt und waren blitzschnell in die U-Bahn gerutscht? Diese Vorstellung fand ich lustig, aber dann fiel mir ein, dass es damals auch elektrische Treppen gegeben hatte. Vielleicht waren die in den abfallenden Kanälen installiert gewesen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als die Hühnerleiter zu benutzen. „Was machen wir nur mit dir?“, fragte ich Maja. Die Rutschen waren für sie viel zu steil. Eigentlich konnte ich sie nur tragen, aber ich brauchte beide Hände zum Festhalten und hatte nichts, um sie mir auf den Rücken zu binden. Außerdem war sie ganz schön schwer. Doch ein weiteres Mal wurde ich des Besseren belehrt, die Hündin nicht zu unterschätzen. Mit einem Satz sprang sie auf den Absatz zwischen den ehemaligen Treppen. Kurz sah es so aus, als würde sie mit voller Absicht den Kopf schütteln, dann balancierte sie die Stufen nach oben, als wäre es für einen Hund das Normalste auf der Welt. Geschickt hielt sie das Gleichgewicht und hatte schnell die Hälfte geschafft. Das riss mich aus meinem Staunen und ich kletterte ihr hinterher. Zum Glück waren die Eisenverstrebungen noch nicht vollständig verrostet, sodass sie mich ebenfalls trugen.

Schnell kam ich oben an, Maja wartete schon ungeduldig auf mich. Froh, dass sie das Problem selbst gelöst hatte, streichelte ich ihr über den Rücken. Dass wir so weit kommen würden, hatte ich vor ein paar Stunden nicht gedacht. Vorsichtshalber warf ich einen Blick auf den Leuchtstab. 13%. Keine schöne Zahl, aber es würde wohl reichen. Trotzdem mussten wir uns wieder einmal entscheiden: Von dem Raum, in dem wir uns jetzt befanden, führten drei Tunnel weg. Drei Chancen auf unverschlossene Ausgänge, das musste einfach klappen!

Ich beschloss, zuerst den linken auszuprobieren. Erst liefen wir immer geradeaus, dann bogen wir schräg nach rechts ab. Es kam mir vor, als wäre es nicht mehr ganz so dunkel wie eben, aber ich war mir nicht sicher. Ein paar Meter weiter wandte sich der Gang scharf nach links. Erst konnte ich es kaum fassen, aber nun war es wirklich heller und hinter der Ecke konnte ich den Leuchtstab abschalten. Die letzten Meter bis zur Treppe rannte ich, dann passierte alles gleichzeitig.

Maja fing plötzlich an, zu knurren. Ich registrierte, dass auf dem Ausgang ein Gitter lag und das Herz rutschte mir fast in die Hose. Dann sah ich einen Mann darauf stehen und Maja fing an, laut zu kläffen. Erschrocken wich ich zurück, wir mussten abhauen. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, tauchten hinter uns aus dem Tunnel drei weitere Männer auf. Wir saßen in der Falle.

Was jetzt? Panisch versuchte ich, einen Ausweg zu finden, aber ich konnte nicht klar denken. „Ruhe!“, brüllte plötzlich der Mann auf dem Gitter. „Pfeif den Hund zurück oder er ist Geschichte!“ Einer der Männer aus dem Tunnel zog ein langes Messer.

„Maja.“ Mehr konnte ich nicht herausbringen, aber sie verstummte tatsächlich und kam widerspruchslos zu mir.

„Na also, ich sehe, wir sind gute Freunde“, meinte der Mann von oben. Er machte einen sehr ungepflegten Eindruck, trug einen langen verfilzten Bart und schien der Anführer zu sein. Ich beobachtete, wie er von dem Gitter heruntersprang und es nach oben klappte. Dann kam er die Treppe herunter, an ihrem Fuße blieb er stehen. Zwischen uns und dem Ausgang. Fieberhaft dachte ich nach, während ich mich vorsichtshalber so drehte, dass ich sämtliche Gegner im Blick hatte. Was hatten sie mit mir vor?

Filzbart vor mir genoss es sichtlich, mir überlegen zu sein. Breit grinsend musterte er mich. Wenn dieses Schwein für die Entführung und Lucas Tod verantwortlich war, würde ihm diese Überheblichkeit noch vergehen. Ich spürte, wie meine Panik in kalte Wut umschlug. „Lassen sie mich gefälligst in Ruhe!“, forderte ich.

„Tut mir leid, das geht nicht“, antwortete er übertrieben freundlich und machte einen Schritt auf mich zu. „Dann sehe ich dich wahrscheinlich nie wieder.“

„Kommen sie zur Sache oder lassen sie mich sofort gehen“, unterbrach ich ihn mit fester Stimme und sah ihm dabei direkt in die Augen. Sie waren blau und ich konnte keine Gefühlsregung erkennen.

„Du hast Widerstandsgeist, Mädchen, das muss man dir lassen. Aber das kennen wir schon, nicht wahr?“

Was sollten diese Andeutungen? Ich hätte ihn gerne für verrückt erklärt, aber sein selbstsicheres Auftreten bewies das Gegenteil. Er saß in diesem Moment am längeren Hebel, ich konnte nichts tun und hasste ihn dafür. „Was wollen sie?“, fragte ich abermals.

Ohne darauf einzugehen, kam er noch näher. Zwei Schritte trennten uns jetzt noch. „Rubyn, du bist groß geworden …“, meinte er. Wie bitte? Verwirrt starrte ich ihn an. Was sollte ich nur davon halten?

Doch diese Entscheidung erübrigte sich, denn plötzlich ließ er seine freundliche Fassade fallen und zog ein Messer. Ehe ich mich versah, hatte er mich gepackt und hielt es mir an die Kehle. Maja schnappte nach ihm, doch er schleuderte sie mit einem kräftigen Tritt mehrere Meter durch den Tunnel. In einer dunklen Ecke blieb sie benommen liegen. Mir traten Tränen in die Augen.

„Schluss mit lustig“, zischte er. „Sag mir wo es ist und ich lasse dich vielleicht am Leben.“

Was sollte das jetzt wieder? „Meine Sachen wurden alle gestohlen, vermutlich von ihnen. Ich habe nichts mehr!“, schrie ich. „Mörder!“

Eiskalt drückte er die Klinge stärker an meinen Hals. Dieselbe Klinge, mit der er Luca die Kehle durchgeschnitten hatte? „Du hast nur diese eine Chance und ich werde schnell ungeduldig“, brummte er.

„Aber ich habe keine Ahnung, was sie meinen!“ Langsam verzweifelte ich. Aus seinem festen Griff würde ich mich nie befreien können, er würde mich umbringen. Hier und jetzt.

„Stell dich nicht dümmer, als du bist. Wenn du es versteckt hast, will ich wissen, wo!“, verlangte er.

Meine Todesangst schwand. Ich konnte es kaum fassen, aber er hatte tatsächlich einen Fehler gemacht. Nie und nimmer würde er mich umbringen, wenn er davon ausging, dass ich seine ach so wichtige Beute versteckt hatte. Tausend Fragen wehten mir durch den Kopf. Wer war er? Was war dieses Ding? Warum war es ihm so wichtig? Was wollte er ausgerechnet von mir?

„Wir drehen uns im Kreis, ich habe wirklich kein Es! Können sie mich bitte mal aufklären?“, verlangte ich mit neuer Hoffnung.

„Meine Liebe, ich hatte dich für schlauer gehalten. Dein Hund bedeutet dir etwas, oder?“

Das konnte er nicht tun! Aber er hatte bewiesen, wie brutal er war. Jetzt hatte er mich und das wusste er. Sein Bart kratzte mich im Nacken. Aber ganz so schnell würde ich nicht aufgeben! Der einzige Ausweg war Flucht, doch dazu musste ich mir ein bisschen Zeit erkaufen. „Ganz ruhig. Lassen sie mich erst mal los, dann können wir uns bestimmt einigen“, schlug ich vor.

„Glaub ja nicht, dass du abhauen kannst“, höhnte er. Trotzdem nahm er das Messer weg und gab mir einen Schubs. Als ich das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah ich einer Pistole entgegen. Die waren extrem selten, woher hatte er die nur? Er zielte auf mein Bein und bestätigte damit meine Vermutung. Das eben war kein Fehler gewesen, sondern volle Absicht. Er hatte mich manipuliert, aber das konnte ich auch.

„Wollen wir doch mal sehen, wer hier schlauer ist“, dachte ich. Keinen Millimeter würde ich nachgeben, doch mein Kampf beruhte auf einem einzigen großen Bluff. Ich musste ihn irgendwie hereinlegen. „Woher soll ich wissen, dass sie mir nicht einfach den Kopf wegpusten, wenn ich ihnen gegeben habe, was sie wollen?“

„Denk an die Gesundheit von diesem Köter und hör auf, Forderungen zu stellen“, sagte er. „Los jetzt, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Wo ist das AYA?“

Was sollte das denn sein? Ohne einen blassen Schimmer biss ich mir auf die Lippe und sah zu Maja. Der Fleck, an dem sie gelegen hatte, war leer. Innerlich jubelnd sah ich schnell weg. Filzbart durfte auf keinen Fall bemerken, dass sein Druckmittel verschwunden war!

„Ich habe es tatsächlich versteckt“, log ich. Mir war klar, dass ich mich ganz schön weit aus dem Fenster lehnte, aber ich musste es riskieren.

„Du gehst vor“, bestimmte er. „Und keine Tricks, sonst schieße ich dir ins Bein!“

Das hatte ich verstanden und die Hündin schien er vergessen zu haben. Aber wohin sollte ich ihn führen? Zwar sehnte ich mich nach der Oberfläche, aber dort war dieser Erpresser klar im Vorteil, da er sich dort besser auskannte als ich. Außerdem musste unsere kleine Reise glaubwürdig erscheinen. „Haben sie Licht?“, fragte ich.

„Allerdings, aber ich bin dafür, dass wir deinen Leuchtstab benutzen“, antwortete er. Seufzend schaltete ich ihn ein. 15%, das Halbdunkel hatte gereicht, um ihn ein bisschen aufzuladen. Trotzdem war es viel zu wenig.

Hinten im Universum

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