Читать книгу Stadt der See - Jasmin Jülicher - Страница 11
Kapitel 2
Оглавление»Ich möchte gern auf deinem Schiff arbeiten.« Alexander hatte Jimmy auf dem Weg zum Hafenmeister abgefangen.
»Ach ja? Das hat ja lange gedauert.«
»Ich weiß, aber ich habe mich entschieden.« Alexanders Herz pochte heftig. Nun hatte er es ausgesprochen, es gab kein Zurück mehr.
»Schön, schön. Dann mach dich fertig, wir fahren in einer Stunde los.«
»Eine Stunde?« Das war allerdings kurzfristig.
»Ja, was hast du denn gedacht? Dass ich warte, bis du dich endlich bequemst, das Schiff zu besteigen?« Tiefe Linien furchten ihre Stirn.
»Nein, nein, schon gut«, erwiderte Alexander hastig. »In einer Stunde dann.« Jimmy hob die Hand und ging mit langen Schritten den Steg entlang.
Der Hafenmeister stand noch immer vor dem Steg und notierte etwas in einem in Leder gebundenen Notizbuch.
»Bert?«
»Ja, Alexander?« Das Gesicht des Hafenmeisters war rot und mit feinen Adern durchzogen. Er schnaufte.
»Ich muss dir sagen, dass ich Jimmys Angebot angenommen habe. Ab heute arbeite ich leider nicht mehr für dich.« Bereits letzte Woche hatte er Bert darüber informiert, dass Jimmy ihm dieses Angebot gemacht hatte.
»Ich kann nicht gerade sagen, dass es mich freut, das zu hören.« Bert strich sich über seine Halbglatze. »Aber ich kann’s verstehen, weißt du? Es ist eine Chance, eine gute.«
»Ich müsste dann auch jetzt sofort los. Sie hat gesagt, dass wir in einer Stunde abfahren.«
»Kein Problem, geh ruhig. Ich werde einem der anderen Bescheid sagen, dass er heute arbeiten muss. Aber vielleicht denkst du dann ja mal an mich, wenn du etwas findest? Jetzt, wo du doch ein Freibeuter bist.«
»Ja, das werde ich sicher«, erwiderte Alexander erleichtert. »Ich gehe dann jetzt, bis später.«
»Bis gleich.«
Alexander lief zum Haus zurück und packte in Windeseile seine Kleidung in einen Sack aus kratzigen Pflanzenfasern. Ein Stück Seife wanderte ebenfalls hinein, genau wie sein Kissen. Da er nicht wusste, wo er schlafen würde, hielt er das für eine gute Idee. In der Küche wickelte er getrocknetes Gemüse und gedörrten Fisch in Stoff ein und packte sie ebenfalls in den Sack. Ein letztes Mal ließ er den Blick durch die Zimmer seines Hauses wandern. Nein, hier gab es nichts mehr, was er mitnehmen könnte. Abgesehen davon, dass er ohnehin kaum etwas besaß. Es gab nur noch eine Sache, die er vor der Abfahrt erledigen musste.
Sein Ziel lag in der Nähe des Hafens nicht weit vom Gebäude der Alcalde und dem Arbeitsplatz des Hafenmeisters. Es war ein langer, flacher Bau mit schlichten rechteckigen Fenstern. Auf dem Holz der Wand befanden sich Buchstaben aus Metall: Hospital.
Alexander betrat das Gebäude und schwang sich den Sack mit seinem Hab und Gut auf den Rücken. Dies würde der schwerste Teil an seinem neuen Beruf werden.
In der Eingangshalle begrüßte ihn Mary, eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die die Besucher normalerweise in Empfang nahm und sie nach einer ersten oberflächlichen Untersuchung an den richtigen Arzt oder die richtige Krankenschwester weiterleitete.
»Alexander!«
Mit einem strahlenden Lächeln umrundete Mary die Theke, hinter der sie Formulare ausgefüllt hatte.
»Wie geht es dir? Du bist doch nicht hier, weil dir etwas fehlt, oder?« Eine Augenbraue hochgezogen, musterte sie ihn von oben bis unten.
»Nein, keine Sorge, ich wollte nur zu Amy, ist sie hier?«
»Ja, sie hatte vorhin eine Operation zusammen mit Doktor Bridges. Vermutlich ist sie jetzt fertig und sieht nach den Patienten in Raum 2A.«
2A. Die leicht verletzten Patienten. Zum Glück nicht 5B, die Station, auf der die sterbenden Patienten untergebracht waren.
»Warte, ich bringe dich zu ihr.« Mary griff hinter die Theke und förderte ein Schild zu Tage, auf dem stand: »Ich bin sofort zurück.«
Dann öffnete sie die Tür, die aus der Empfangshalle in einen langen Gang führte, von dem rechts und links weitere Türen abgingen. Im Gang verliefen schmale leuchtende Lampen über die Decke, die den Flur in Helligkeit tauchten. Alle Türen bestanden aus massivem Metall, möglicherweise Eisen, und viele hatten rostige Stellen. Die Schilder neben den Türen wiesen auf die jeweilige Station hin, die sich dahinter befand. Vor der Nummer 2A blieb Mary stehen.
»Warte kurz hier«, sagte sie und verschwand hinter der schweren Tür. Alexander stand allein im Zwielicht und versuchte den Geruch zu ignorieren, der über dem gesamten Hospital lag. Krankheit und Tod.
Nach einiger Zeit – Alexander begann gerade zum zweiten Mal damit, die Fugen auf dem Boden zu zählen – kam Mary wieder heraus.
»Du kannst jetzt rein«, sagte sie in gedämpftem Tonfall. »Bis gleich.« Sie ging den Weg wieder zurück zur Empfangshalle.
Vorsichtig schob Alexander die schwere Tür auf und betrat Station 2A. Er stand in einem Raum, in dem allerlei medizinisches Zubehör in Regalen lag. Verbände, Scheren, Skalpelle. Noch dazu einiges, das er nicht kannte. Auf einer schmalen Theke an der Wand standen Tabletts mit je einem Glas Wasser und einem Brot. Wohl das Mittagsessen für die anwesenden Patienten. Die Betten, in denen die Patienten lagen, waren wuchtige Konstrukte aus Metall, deren Höhe man verstellen und deren Kopfteile man anheben konnte.
Amy war gerade damit beschäftigt, die Kopfwunde einer älteren Frau neu zu verbinden.
»So, fast fertig.« Amy befestigte den Verband und lächelte die Frau an.
»Danke.« Die Frau lehnte sich in ihrem Bett zurück und schloss die Augen.
Amy sah auf und blickte Alexander an. »Komm mit.« Sie zog ihn in einen Nebenraum mit weiterem medizinischen Zubehör. »Was gibt es?« Sie packte Schere und Verbandsmaterial zurück ins Regal.
»Ich habe mit Jimmy gesprochen. Ich fahre noch heute los, eigentlich sogar bereits in ein paar Minuten.«
Amy nickte, ohne ihn anzusehen. »Das habe ich mir schon gedacht.« Sie deutete auf den Sack auf seinem Rücken.
Alexander ging zu ihr und legte die Arme um sie. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. Ihr Atem war laut, aber sie weinte nicht. »Ich werde dich vermissen.« Er streichelte sanft ihre Wange. »Und es dauert ja auch nicht so lange, bis ich wieder da bin.« Vermutlich würde er immer nur eine Woche fort sein, selten länger.
»Ja. Pass nur bitte auf dich auf, hörst du? Ich werde dafür beten, dass die Riesenkraken euch verschonen. Und wenn du eine Meerjungfrau siehst, denk immer daran, sie will dich nur hereinlegen. Das sind menschenfressende Monster.«
Alexander drückte sie an sich. »Danke, Amy.«
»Komm nur wieder heil zurück, ja?«
»Mache ich.« Er löste sich von ihr und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Den sanften Schwung ihrer Augenbrauen, die kleinen Falten neben ihrem Mund und die weiße Narbe, sie sich auf der linken Seite an ihrem Kiefer entlang zog. Das Überbleibsel von einem Tauchunfall vor der Küste.
Ein Gefühl fraß sich in den schönen Augenblick hinein wie ein Parasit. Das Gefühl, dass Amy und er nicht zusammenpassten. Dieses Gerede von Monstern und vom Beten. Ihre Ansichten über die Welt. Er glaubte nicht daran und es ärgerte ihn, dass sie es tat. Noch tolerierte er es, aber es vergiftete ihre Beziehung bereits jetzt, das konnte er fühlen. Angestrengt schluckte er und versuchte, sein Lächeln aufrechtzuerhalten. Passten sie vielleicht einfach nicht zusammen? Hatte er sich so sehr nach einem normalen Leben gesehnt, dass er mit Amy nur zusammen war, weil sie eben da war?
»Amy? Tut mir leid, wenn ich störe, aber Doktor Bridges sucht nach dir. Der Patientin von vorhin geht es schlechter. Sie hustet Blut.«
Eine Schwester stand in der Tür. Sie hatte ein hageres Gesicht und mochte Mitte dreißig sein, wirkte jedoch älter. Ihre herabgezogenen Mundwinkel verrieten, dass sie ihren Beruf nicht mit Begeisterung ausübte. Ihre blonden Haare hatte sie hochgesteckt und unter ihre Schwesternhaube geschoben.
»Danke Jane, ich komme sofort.« Amys Miene war ernst, als sie sich wieder Alexander zuwandte. »Alex, ich muss los. Sei bitte vorsichtig. Ich liebe dich.« Sie drückte seine Hände und verschwand gemeinsam mit der anderen Schwester aus dem Raum.
Alexander sah herab auf seine Finger. Es war sein Glück, dass Amy so schnell fortmusste. Er wusste nämlich nicht, ob er ihr Liebesgeständnis hätte erwidern können. Bohrende Zweifel in ihm ließen ihn glauben, dass die Antwort »Nein« gewesen wäre.
Er erreichte den Hafen völlig außer Atem und lief hinüber zur Edward Teach. Das Schiff lag ruhig im Wasser und war noch vertäut. Er überquerte die Planke und stand an Bord des größten Schiffs, das Roatán zu bieten hatte. Der hölzerne Rumpf war mit langen Metallstreben verstärkt, die im Licht der Sonne golden glänzten. Über einen Teil des Decks spannte sich ein Aufbau aus Bronze, auf dem das Steuerrad thronte. Die drei Masten knarrten in der leichten Brise, die über den Hafen wehte. Abgesehen von den Segeln besaß das Schiff zwei metallische Schaufelräder an den Seiten. Die Kombination aus der Windkraft und der Dampfmaschine machte die Edward Teach zum schnellsten Schiff, das im Hafen anlegte.
»Ah, Alexander, da bist du ja.«
Alexander drehte sich um und sah Jimmy mit einem breiten Lächeln auf sich zukommen. »Wir haben schon auf dich gewartet.«
»Aber ich bin doch pünktlich.« Alexander zog seine Taschenuhr heraus und warf einen prüfenden Blick darauf. »Ich habe sogar noch zehn Minuten.«
Jimmy winkte ab. »Ja, es ist alles in Ordnung. Wir sind nur bereit, jetzt auszulaufen. Du warst das letzte Mitglied der Crew, was noch gefehlt hat.«
Orientierungslos sah Alexander sich auf dem Deck um. Er erkannte viele der Seeleute, die bereits mit den Segeln und den vielen Seilen an Bord hantierten. Unter Deck musste es Freibeuter geben, die damit beschäftigt waren, den Ofen für die Dampfmaschine zu befeuern. »Soll ich helfen?«
Jimmy lachte. »Wie wäre es, wenn du erstmal deine Sachen in deine Kabine bringst, und dann zu mir in die Kapitäns-Kajüte kommst? Dann kann ich dir alles erklären.«
»Oh … ja, gerne.«
Etwas an dem Angebot machte Alexander misstrauisch. Jimmy wollte ihm persönlich alles erklären? Sie war die Kapitänin, die wichtigste Person an Bord. Sollte sie diese Aufgabe nicht einem ihrer Männer überlassen?
»Es kann losgehen.« Jimmys Ruf schallte über das Schiff und gleich darauf setzte eine Geräuschkulisse ein, die Alexander schon oft genug gehört hatte, um sie zu erkennen. Die Schaufelräder begannen sich zu drehen, ein stetiges Schnaufen erklang. Das Schiff legte ab. Und er befand sich darauf. Das war es, ein Zurück gab es nun nicht mehr.
»Komm mit.« Jimmy führte ihn zu einer Tür. Dahinter verschwand eine Treppe unter Deck. »Ich bringe dich zu deiner Kabine. Versteh mich nicht falsch, es ist eher eine Abstellkammer als eine Kabine, aber sei froh, dass du eine für dich allein hast. Es könnte schlechter sein.«
»Ist schon in Ordnung. Ich habe keine hohen Erwartungen.« Alexander stützte sich mit einer Hand an der Wand neben der Treppe ab. Die Stufen waren gefährlich glatt vom jahrelangen Gebrauch.
»Wann fange ich denn mit der Arbeit an? Werde ich einfach direkt mithelfen oder leitet mich jemand an?«
»Hier ist deine Kabine.« Jimmy deutete auf eine niedrige Tür mit einem Knauf.
Hinter der Tür befand sich ein winziges Zimmer, kaum mehr als ein Regal und ein Schemel, auf dem eine Schüssel stand.
»Wo ist denn das Bett?« Nirgendwo war eine Schlafgelegenheit zu erkennen.
»Ah, Moment.« Jimmy drückte einen Knopf an der Wand und ein Knirschen und Schleifen erklang. Schlitze wurden sichtbar und ein Bett klappte heraus. »Spart Platz.«
Alexander legte sein Gepäck auf das Bett und eine große Staubwolke stob davon auf.
»Die Kabine ist lange nicht benutzt worden«, sagte Jimmy entschuldigend. »Und jetzt komm bitte mit.«
Neugierig folgte Alexander ihr weiter den Gang hinunter. Am Ende, direkt dort, wo die Galionsfigur des Schiffes von außen prangen musste, befand sich die Kapitäns-Kajüte. Sie war bestimmt zehnmal so groß wie sein winziges Zimmer und erstaunlich geschmackvoll eingerichtet. Ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem ein Chaos aus Karten, Listen und Navigationsgeräten lag. Dazu ein gemütliches Sofa in hellem Rot, einige Schränke, ein großer Globus. Licht kam von einer elektrischen Lampe, die in der Mitte des Zimmers herabhing. Da es auf dem Schiff eine Dampfmaschine gab, waren die Kabinen offenbar mit Strom versorgt.
Lässig ließ Jimmy sich auf das Sofa fallen, das die Länge der kompletten Wand einnahm. Sie klopft mit der Hand neben sich auf das Polster.
»Setz dich, ich beiße nicht.«
Was genau erwartete sie von ihm? Es fiel ihm schwer, Jimmy einzuschätzen. Vorsichtig setzte Alexander sich auf die Kante des Sofas, möglichst weit entfernt von Jimmy, die soeben ihre Jacke auszog, unter der sie nur eine kurze weiße Bluse trug, die eigentlich mehr sehen ließ, als sie verdeckte. Zumindest wusste Alexander jetzt, dass sie nichts anderes mehr darunter trug. Eine Information, auf die er lieber verzichtet hätte.
»Alexander«, begann Jimmy und betonte jede einzelne Silbe. »Ich bin froh, dass du dich doch noch dazu entschieden hast, mich zu begleiten. Eine gute Entscheidung.« Sie lächelte ihn an. Ihre Zähne schimmerten weiß in ihrem gebräunten Gesicht.
»Ich bin schon sehr gespannt auf meine Aufgaben an Bord«, erwiderte Alexander, weil er nicht genau wusste, welche Reaktion Jimmy von ihm erwartete.
»Da wird es einige geben. Aber eigentlich wollte ich dich für etwas anderes. Eine ganz besondere Aufgabe.« Sie lehnte sich in den Kissen zurück und betrachtete ihn eingehend.
Oh, oh. Alexander gefiel gar nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch bewegte. Diese Stelle anzunehmen, war ein Fehler gewesen, ein riesengroßer Fehler! Jimmy wollte gar nicht, dass er auf dem Schiff arbeitete, sie wollte …
»Es gibt eine Aufgabe, die ich niemandem sonst anvertrauen kann. Dazu sind meine Männer und Frauen zu gierig, zu gradlinig, zu sehr Freibeuter, als dass sie sie zufriedenstellend ausführen würden.«
Das ging wirklich in eine seltsame Richtung.
»Was …«, versuchte er zu fragen, doch Jimmy schnitt ihm das Wort ab.
»Ich möchte, dass du etwas tust, das ich noch nie getan habe, und von dem ich auch nicht weiß, ob es richtig ist.«
Das wurde ja immer besser. Alexander schluckte und versuchte, seinen Mut zusammenzukratzen.
»Ich kann nicht …«
»Ich möchte, dass du der persönliche Begleiter eines Gastes auf diesem Schiff wirst.«
»Was?«
Jimmy schlug die Beine übereinander. »Ich habe zugestimmt, eine Person mit auf unsere Reise zu nehmen, die mich darum gebeten hat. Sie hat mir versichert, dass sie sich selbst versorgt, was Essen und Wasser angeht, und dass sie keine Scherereien machen wird.«
»Warum soll ich ihr persönlicher Begleiter sein?«
»Weil sie kein Freibeuter ist. Ihren Angaben nach ist sie eine Forscherin. Eine Position und eine Einstellung, die man, wie ich finde, unterstützen sollte. Gerade, wenn es sich dabei um eine Frau handelt.«
Oh, nein, das kann unmöglich wahr sein.
»Ihr Name ist Nic. Soweit ich weiß, ist sie neu auf der Insel. Ich weiß nicht, ob …«
»Wir kennen uns.«
Die Stimme hätte Alexander überall wiedererkannt. Er sprang vom Sofa auf und starrte Nic an, die mit einem schiefen Lächeln im Türrahmen stand und ganz offensichtlich nicht wusste, ob sie eintreten durfte.
»Ah, komm rein, Nic. Na, wenn ihr euch kennt, umso besser.« Jimmy stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Mit einer Hand zog sie den Korken aus einer Flasche mit brauner Flüssigkeit und goss einen Schluck davon in ein Glas.
»Auf euch und darauf, dass diese Reise erfolgreich sein wird, so Gott es will.«
Sie prostete ihnen zu und kippte die braune Flüssigkeit hinunter.
»Was genau wird meine Aufgabe sein?« Alexander stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem Schreibtisch. Er musste sich verhört haben. Schlimm genug, dass Nic ebenfalls hier war, aber er konnte unmöglich ihren Aufpasser spielen.
»Nun.« Jimmy räusperte sich. »Sobald wir unser Ziel erreichen, werden die Freibeuter das Schiff verlassen, um nach Material zu suchen. Ihr zwei werdet ebenfalls das Schiff verlassen. Allerdings beschützt du Nic dabei, wenn sie Proben einsammelt oder Affen zeichnet, oder was weiß ich, was sie so vorhat. Du kannst dabei auch Material sammeln, aber verlier sie niemals aus den Augen, verstanden? Ihre Sicherheit hat Priorität.«
»Warum?« Es wollte Alexander nicht einleuchten, warum die Kapitänin eines so großen Schiffes so viel Wert auf die Sicherheit einer Forscherin legte. Einer Forscherin, die ihr keinen Profit einbringen würde.
»Weil ich es sage, hast du mich verstanden?« Jimmy stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. Ihre Stimme war ein aggressives Knurren geworden, auf der Stirn zeichnete sich deutlich eine Ader ab. »Du tust, was ich sage. Ich bin dein Kapitän, du hast zugestimmt.«
So ganz richtig war das nicht. Er hatte zugestimmt, ein Freibeuter zu sein, kein persönlicher Beschützer. Und noch dazu für Nic. Hätte er das vorher gewusst, hätte er doch niemals Ja gesagt. Nun würde er für Tage oder sogar Wochen mit ihr auf diesem Schiff eingesperrt sein. Wie sollte das funktionieren?
»Ich will hören, ob du mich verstanden hast!« Nun schrie Jimmy und Alexander wich zurück. Dann drückte er den Rücken durch und antwortete: »Ich habe verstanden.«
»Sehr gut. Dann könnt ihr beide jetzt gehen. Alexander, du kannst den anderen helfen. Frag einfach, wo sie Hilfe brauchen. Sobald wir am Ziel ankommen, erhältst du deine Waffe. Wie ich gehört habe, kannst du ja damit umgehen. Das ist der eigentliche Grund, warum ich dich dabeihaben wollte. Und du Nic … Versteh mich nicht falsch, aber du wirkst nicht so, als wärst du meinen Männern eine große Hilfe. Vermutlich würdest du sie nur ablenken. Vielleicht bleibst du unter Deck und liest?«
Was sie sagte, klang gleichzeitlich herablassend und besorgt, eine seltsame Mischung, aus der Alexander nicht schlau wurde. Warum war Nic hier? Warum ausgerechnet jetzt, warum ausgerechnet auf der Edward Teach? Es gab so viele andere Schiffe, die Coxen Hole anliefen, musste es ausgerechnet das sein, auf dem er gerade angeheuert hatte? Warum konnte in seinem Leben nicht einmal etwas nach Plan laufen, warum gab es immer wieder diese unliebsamen Überraschungen? Nie lief etwas wirklich glatt. Er würde nicht vermeiden können, Nic zu sehen, und das vermutlich mehrere Tage lang. Das war ein Alptraum.
Nic und er verließen die Kapitäns-Kajüte gleichzeitig. Alexander wollte sich schon verabschieden, doch Nic schlug den gleichen Weg ein wie er.
»Ich wusste nicht, dass du auch hier sein würdest«, begann Nic auf halbem Weg zu seiner Kabine. »Als Jimmy gesagt hat, sie würde einen Beschützer für mich finden, dachte ich an einen aus ihrer Crew oder sogar einen Golem, auch wenn ich keine Ahnung habe, ob die hier so etwas überhaupt kennen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie dich dafür rekrutieren würde.«
»Nic.« Alexander blieb stehen und sah ihr zum ersten Mal, seitdem sie ins Zimmer gekommen war, wirklich ins Gesicht. »Was machst du hier?«
»Was meinst du?«
»Dieses Schiff … Was machst du hier?« Ihr konnte doch unmöglich eines Tages eingefallen sein, dass sie gern zur See fahren würde. Warum verschwand sie nicht wieder zurück nach Biota? Dahin, wo sie hingehörte?
»Achso. Mir fehlen Pflanzen für meine Arbeit. Die Vegetation auf Roatán ist, gelinde gesagt, beschränkt. Wenn ich andere Pflanzen mitbringe, kann ich sie kreuzen oder direkt anbauen. Vielleicht erschließt sich dadurch eine neue Nahrungsquelle. Außerdem ist es um Heilkräuter auf der Insel auch nicht gerade gut bestellt. Ich habe dem Hospital versprochen, Ausschau für sie zu halten. Sie brauchen Narkosemittel, Schmerzmittel, Blutstiller und so viel mehr. Es fehlt an allen Ecken und Enden.«
Konnte das ihr Ernst sein? Begab sie sich auf diese Reise, um ein paar Pflanzen zu suchen? Soweit er wusste, konnte es sehr gefährlich werden. Stürme, Felsen, andere Schiffe. Er konnte nur darauf vertrauen, dass die anderen wussten, was sie taten.
»Warum hat Jimmy zugestimmt, dich mitzunehmen?«
»Das Hospital kommt zum Teil dafür auf. Und ich habe mein eigenes Essen dabei, eigentlich störe ich also kaum.«
In dem Punkt waren Nic und er wohl nicht einer Meinung. Ihn störte sie. Er fühlte sich verfolgt. Da hatte er einmal etwas für sich tun wollen, und schon war sie wieder da. Noch dazu sah sie ihm nicht mehr in die Augen. Irgendetwas stimmte nicht. Nic hatte ihn schon mal belogen und auch damals hatte er es gemerkt.
»Und warum bist du hier?« Nic legte den Kopf leicht schief. Ihre grünen Augen schimmerten in Halbunkel und ihm fiel auf, dass sie bleich war und Schweißperlen auf ihrer Oberlippe standen.
»Ich habe im Hafen gearbeitet und Jimmy …« Ihm fiel ein, dass sie ihn ja nur gefragt hatte, weil sie einen Beschützer für Nic brauchte, nicht weil sie ihn für qualifiziert als Seemann hielt. »… Jimmy hat mir einen Posten auf ihrem Schiff angeboten. Inzwischen weiß ich ja auch, welchen.« Klang er verbittert? Egal, Nic sollte ruhig spüren, dass ihm die Situation nicht behagte.
»Aber warum hast du dich für diese Arbeit entschieden? Ich meine, es ist gefährlich und du bist so lange fort.«
»Ja, aber es ist auch aufregend. Ich möchte etwas von der Welt sehen. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass die Freiheit das Risiko wert ist.«
»Kann ich verstehen. Ich hätte vermutlich auch jemand anderes schicken können, aber ich wollte selbst gehen. Ich wollte weg von der Insel und andere Gebiete erkunden.«
Alexander lächelte sie an. Für eine Sekunde fühlte er sich ihr so nah wie in der Zeit, bevor er den Brief gelesen hatte, doch das Gefühl verflog so schnell, wie es gekommen war.
»Hör mal: Ich möchte hier arbeiten, auch wenn du beim nächsten Mal keinen Beschützer mehr brauchst. Ich möchte, dass die anderen mich respektieren. Das funktioniert aber nicht, wenn alle denken, ich hätte den Posten auf dem Schiff nicht verdient. Könnten wir also Abstand voneinander halten? Damit die anderen sich an mich gewöhnen können und mich als Mitglied der Crew akzeptieren?«
Er hörte Nic Luft holen. »Ich werde dir nicht in die Quere kommen. Ich werde es machen, wie Jimmy gesagt hat: Ich bleibe in meiner Kabine und lese. Ich fühle mich ohnehin nicht besonders.«
Schuldgefühle stiegen in Alexander auf, doch er verdrängte sie. Das war doch genau das, was Nic gewollt hatte. Allein sein, die Wissenschaft über alles stellen. Das konnte sie nun haben.
Als er den Knauf seiner Kabinentür bereits in der Hand hielt, fiel ihm noch etwas ein. »Sag mal, hast du den Brief eigentlich verbrannt?«
»Ja, habe ich. Gleich als ich von euch nach Hause gekommen bin.«
»Sehr gut. Man kann ja nie wissen.« Er betrat seine Kabine. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und endlich war er allein. Sorgfältig räumte er seine Kleidung in das kleine Regal und legte die Seife neben die Wasserschale. Das Essen verstaute er unter seinem Bett. Er konzentrierte sich auf jeden Handgriff. Auf keinen Fall wollte er weiter über Nic nachdenken. Über ihre Anwesenheit an Bord der Edward Teach und was diese bedeutete.