Читать книгу Stadt der See - Jasmin Jülicher - Страница 5

Kapitel 1

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Breitbeinig stand Alexander auf den flachen Felsen. Mit beiden Händen hielt er eine Angel ins tiefblaue Meer. Die Wellen schlugen träge ans Ufer und der Schwimmer tanzte munter auf den Schaumkronen. Eine leichte Brise wehte und Alexander drehte das Gesicht zur Morgensonne. Um diese Uhrzeit war die Wärme noch angenehm. Später am Tag dagegen würde er froh sein, Schutz vor den unerbittlichen Sonnenstrahlen zu finden.

Ein leichter Zug spannte die Leine seiner Rute und Alexander straffte sich. Er zog ebenfalls an der Angel und lehnte sich zurück. Ein Ruck ging durch die Leine und er stellte einen Fuß auf den Felsen vor sich, um einen besseren Halt zu haben. Kraftvoll riss er die Angel zurück und begann damit, die Leine einzuholen.

So wie sich die Angel bog, musste es ein richtig großer Brocken sein. Er stellte sich vor, wie die anderen ihn ansehen würden, wenn er dieses Exemplar durch die Stadt trug. Natürlich, er hatte auch zuvor schon etwas gefangen, kleinere Fische, doch in den vier Monaten, die er jetzt hier war, hatte er alles erst von Grund auf lernen müssen. Nie zuvor hatte er geangelt. Dafür war er ganz gut. Das hatte auch Alvaro ihm bestätigt, als er ihm das Angeln beigebracht hatte. »Machst das erstaunlich gut«, hatte er ihm damals gesagt. Alvaro hielt ihn für einen verwöhnten Jungen aus gutem Haus. So hatte er es ausgedrückt. Noch immer wusste Alexander nicht genau, was das eigentlich heißen sollte, doch er vermutete, dass die Reichen, die guten Häuser eben, viele Dinge nicht selbst machen mussten. Zumindest damals vor dem Krieg. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre nach dem Großen Krieg, musste jeder an der Oberfläche die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wer etwas zu essen wollte, der musste es fangen. Wer ein Dach über dem Kopf wollte, der musste es sich bauen. So lief das hier auf Roatán. Es war nicht wie in Biota, wo jeder einzelne Einwohner seine Rolle gehabt hatte, die ihm schon kurz nach der Geburt zugewiesen worden war. Er war ein Hüter gewesen, ein Aufpasser, damit alle die Regeln einhielten. Welchen Sinn hatte dieser Beruf gehabt? Er hatte nichts produziert, er hatte niemanden versorgt, er hatte keine Ahnung gehabt, wie es in der echten Welt ablief. So nannte er die Welt hier draußen inzwischen. Echt. Biota, eine Stadt unter Kuppeln tief am Grund des Meeres, war nicht echt. Und das Leben dort war es auch nicht gewesen.

Der Fisch kämpfte hartnäckig. Die Schnur war straff gespannt und Alexander bekam Angst, sie würde reißen. Doch Aufgeben kam nicht infrage. Zentimeter um Zentimeter holte er die Schnur ein. Nach ein paar Minuten durchbrach seine Beute die Wasseroberfläche: ein Fisch so lang wie sein Unterarm. Er zuckte und wand sich, doch jetzt konnte er nicht mehr entkommen. Alexander holte die Schnur ein und tötete den Fisch mit einem schnellen Schlag auf die Felsen. Auch das hatte Alvaro ihm beigebracht. Ein Schlag – und das Tier musste nicht leiden. Es hatte Alexander allerdings einiges an Überwindung gekostet, seinen Anweisungen zu folgen.

Er ließ den Fisch einfach am Haken hängen. Auf dem Weg nach Hause machte es keinen Sinn, ihn in der einen, die Angel in der anderen Hand zu tragen. So konnte er sich die Rute bequem über die Schulter legen und den Fisch transportieren. Er warf einen letzten langen Blick hinaus aufs Meer. Diese Tageszeit mochte er am liebsten. Den frühen Morgen, der wunderbar klar war und wo einfach alles noch möglich schien. Von Zeit zu Zeit fragte er sich, wie er das Leben in Biota überhaupt ertragen hatte. Wie hatte er die dunklen Gänge und schmalen Räume für schön halten können? Wie hatte er sich mit Menschen unterhalten können, deren Antworten durch die Wissenschaftler schon vorgegeben waren? Niemand hatte eine eigene Meinung. Sie waren vor dem Einzug in die Stadt alle darauf programmiert worden, ihr vorheriges Leben zu vergessen und nach den Regeln und Sitten Biotas zu leben.

Nun war er frei. Nicht länger war er an die Stadt gefesselt. Und an solchen Morgen wie heute glaubte er es sogar selbst. Doch konnte er jemals wirklich frei sein? Wenn er schlief, verfolgte ihn das, was er gesehen hatte. Es war so viel geschehen. Und nichts davon konnte er rückgängig machen, nichts davon konnte er vergessen. Er träumte von Biota, von Jack the Ripper, diesem Wahnsinnigen, der ihn eingesperrt und beinahe getötet hatte. Von den Spheon, grauenhaften Kreaturen, die die Wissenschaftler der Stadt erschaffen hatten. Von dem Keller in Narau, in dem er Nic halbtot aufgefunden hatte. Und von den riesigen Maschinen in Theben, denen Nic und er nur knapp hatten entfliehen können.

Nic.

Noch immer, auch nach den vergangenen Monaten, dachte er oft an sie. Sie war in Biota eine Wissenschaftlerin gewesen, eine Botania. Hoch angesehen, erfolgreich und beinahe unantastbar.

Er hatte gedacht, sie hätte all das hinter sich gelassen, um mit ihm zusammen zu sein. Doch er hätte nicht falscher liegen können. Was sie getan hatte, war ein einziges großes Experiment gewesen. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die wohl zeigen sollte, wie gut die Anpassung der Menschen an die Regeln Biotas funktioniert hatte. Sonst war da nichts zwischen ihnen gewesen, sie hatte ihm all die Zeit etwas vorgespielt.

Er hatte sie nun wie lange nicht mehr gesehen? Drei Monate? Fast seit ihrer Ankunft in der Stadt nicht mehr. Er wollte sie nicht sehen und sie hatte bisher keine Versuche unternommen, ihn umzustimmen.

Sie waren mit einem Luftschiff von der Stadt Theben nach Roatán befördert worden. Interessanterweise hatten die Inselbewohner sie wesentlich freundlicher aufgenommen als zuvor die Einwohner von Narau, die ihnen sofort an den Kragen gewollt hatten. Sklaven hatten sie aus ihnen machen wollen. Oder die Menschen in Theben, die ihnen mehr als skeptisch gegenübergestanden hatten.

Doch die Einwohner von Roatán waren anders. Entspannter, fröhlicher. Sie führten ein einfaches Leben, ohne einen Tyrannen, der über sie herrschte. Jeder von ihnen war frei und der Anführer der Stadt mit dem Namen Coxen Hole wurde jedes Jahr von den Bürgern selbst gewählt und »Alcalde« genannt. In diesem Jahr war es eine Anfüherin – eine Frau namens Anne Bonny. Angeblich hatte ihr Name eine lange Tradition, wie sie ihm eines Tages erzählt hatte, aber dazu, was genau es damit auf sich hatte, war sie leider nicht mehr gekommen. Doch sie war nett und freundlich und Alexander mochte sie. Ihr vertraute er auf jeden Fall eher als diesem Wahnsinnigen, der Narau mit eiserner Hand regiert hatte. Pat Garrett. Als seine Gedanken diesen Namen streiften, sank Alexanders gute Laune. Oder die Hohepriesterin von Theben. Sie hatte Rosa ermorden lassen und es auch bei ihm versucht. Niemals waren sie irgendwo sicher. Aus diesem Grund hatte Alexander nach ihrer Ankunft auf der Insel gleich nach einer Möglichkeit gefragt, mit der sie weiterreisen konnten. Doch Nic hatte sich geweigert. Sie war blass gewesen, todmüde und erschöpft. Sie hatte ihm erklärt, dass sie nicht mehr reisen wollte. Sich zu verstecken wäre nicht die Lösung. Und inzwischen musste er ihr Recht geben. Selbst wenn es noch weitere menschliche Verstecke auf der zerstörten Welt geben sollte, wer sagte ihnen denn, dass sie dort sicher wären? Und dass die Menschen sie dort einfach so aufnehmen würden? Es war ja schon ein Wunder, dass sie bisher mit heiler Haut entkommen waren. Noch einmal würde ihnen das vielleicht nicht gelingen. Und eine weitere Reise mit Nic erschien ihm inzwischen – nach allem, was er erfahren hatte – wenig verlockend.

Auf dem Weg in die Stadt versuchte er die düsteren Gedanken zu verdrängen. Sie kamen oft in ihm hoch, wenn er allein und es zu ruhig war. Doch zum Glück war man in Coxen Hole selten allein. Die Menschen waren gesellig und trafen sich an den Abenden zu einer Partie Schach oder ähnlichen Spielen und aßen und tranken gemeinsam.

Alexander erklomm den Abhang, der vom Strand her leicht anstieg. Dahinter führte ein staubiger Weg in das Innere der Insel. Coxen Hole lag nur wenige Hundert Meter von der Küste entfernt und so kamen die ersten Häuser bald in Sicht. Bei ihrer Ankunft hatte der Anblick der Behausungen ihn erschreckt. Die Häuser waren einstöckig und bestanden aus Holzbalken von unterschiedlicher Größe und Farbe und glichen dadurch einem riesigen Flickenteppich. Wie arm mussten diese Menschen sein, hatte er sich gedacht.

Doch jedes Haus war einzigartig, da jeder Einwohner es eigenhändig erbaut hatte, der eine mehr, der andere weniger kunstvoll. Und die Menschen auf Roatán waren auch nicht wirklich arm, nein, sie waren sorgsam. Da die Insel nicht allzu groß war, verzichteten sie darauf, die Wälder abzuholzen, da sie ihnen sonst keine Nahrung mehr liefern würden. Stattdessen gab es in der Stadt eine Vielzahl von sogenannten Freibeutern. Diese Männer und Frauen besaßen große mit Dampfmaschinen angetriebene Schiffe, mit denen sie das Meer überquerten und auf verlassenen Landstrichen nach Material suchten, das es wert war, eingesammelt zu werden. Sie brachten Eisenstäbe mit, Kupferplatten, das Innenleben von mechanischen Golems, Holzplanken und vieles mehr. Sofern sie es fanden, nahmen sie dankend auch Glas oder Porzellan oder sogar kleinere Tiere, wenn sie einfach zu fangen waren. Jeden Tag legten mehrere Schiffe, die man Presas nannte, in dem kleinen Hafen an und die Menschen strömten zusammen, um sich die Ausbeute anzusehen. Danach wurde gefeilscht und gehandelt. Die Freibeuter waren die einzige Verbindung der Inselbewohner zum Festland und zu anderen Inseln. Sie nahmen Kontakt zu anderen Städten auf und tauschten mit ihnen auf Befehl der Alcalde Material gegen Essen, Saatgut oder andere wertvolle Besitztümer.

Das einzige, worauf die Bewohner wirklich Wert legten, waren die Krankenstation und der Hafen von Coxen Hole. In beide Einrichtungen wurde das meiste gesteckt, was die Freibeuter mit zurück zur Insel brachten. So hatte der Hafen allerlei mechanische Vorrichtungen, um Schiffe außerhalb des Wassers zu reparieren, und die Krankenstation war mit Operationsgeräten ausgestattet, von denen Alexander vorher noch nie etwas gehört hatte.

Aus Alexanders Sicht ging es der Insel gut. Die Menschen erschienen ihm glücklich. Doch war er wirklich Experte darin, einzuschätzen, ob Menschen glücklich waren? Ob in der Stadt alles mit rechten Dingen zuging? Er hatte das Gleiche von Biota gedacht. Doch alles, was er geglaubt hatte, zu wissen, war nur eine Lüge der Leiter der Stadt gewesen, nur Schein.

Doch er wollte nicht an Biota denken. Er wollte nach Hause gehen, dann zur Arbeit und dann diesen wunderbaren, selbst gefangenen Fisch genießen. Er straffte die Schultern und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Sofort hob sich seine Stimmung. Die ersten Häuser zogen vorbei und er grüßte die Menschen, die in Schaukelstühlen vor ihren Hütten saßen. So ärmlich die Häuser auf den ersten Blick auch wirkten, sie waren mit einigem an Kunstfertigkeit gebaut worden. Die einzelnen Teile passten perfekt ineinander. Und wie handwerklich geschickt die Menschen hier wirklich waren, hatte er gemerkt, als sie ihm geholfen hatten, sein eigenes Haus aufzubauen. Die Alcalde hatte ihm einen Platz zugewiesen und bereits am nächsten Tag war es losgegangen. Viele Menschen hatten sich freiwillig zum Helfen gemeldet. Vermutlich waren sie neugierig auf den Fremden, vielleicht freuten sie sich aber auch einfach darüber, Besuch zu haben. So oder so war sein Haus bereits nach drei Tagen fertig gewesen und es war erstaunlich gut gelungen. Es war gemütlich und praktisch zugleich. Im Inneren war es tagsüber angenehm kühl und nachts warm genug.

Nic hatte im Gegensatz zu ihm einen Platz in der Stadt abgelehnt. Sie wollte sich wieder der Forschung widmen und dazu hinaus in den weitgehend unberührten Wald ziehen, der sich im Inneren der Insel befand. Auch wenn Alexander verstehen konnte, dass sie die Wissenschaft vermisste, hatte er sich dennoch verletzt und verraten gefühlt. Ihr kleines Experiment mit ihm war also beendet und er es nicht einmal mehr wert, dass sie zusammen mit ihm in einer Stadt wohnte. Doch er hatte nichts dazu gesagt und ihr nur viel Glück gewünscht. Ein schwacher Händedruck und sie waren beide ihres Weges gegangen.

Nic. Sie war der Mensch gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, alles zu riskieren. Sein Zuhause, sein Leben, seine Freiheit. Nur durch sie hatte er den Mut gehabt, sich gegen die Falschheit in Biota zu wehren. Als er herausgefunden hatte, dass die Wissenschaftler unzählige Experimente an wehrlosen Menschen durchführten, teilweise mit erschreckenden Folgen, hätte er sich weiterhin fügen können. Hätte er geschwiegen, wäre nichts von dem geschehen, was letztendlich gefolgt war. Er wusste zu viel und sollte sterben. Dank Nic hatte er sich gewehrt. Doch gleichzeitig hatte diese Gegenwehr das Ende seines Lebens in Biota bedeutet. Weil er eben nicht hatte schweigen wollen. Nun wusste er, dass alles Berechnung gewesen war. Nic hätte nicht fliehen müssen. Sie hatte die Chance genutzt, um ihn und seine Konditionierung zu testen.

Er versuchte, die düsteren Gedanken hinter sich zu lassen. Daran zu denken, würde nichts ändern, es würde nichts besser machen.

Wie erwartet, hoben Menschen im Vorbeigehen einen Daumen und lobten ihn für seinen guten Fang. Stolz stieg in Alexander auf. Er war Teil dieser Gemeinschaft. Es tat gut, endlich wieder dazuzugehören. In Narau waren sie nur wenig mehr als Sklaven gewesen. Der Spielball des Leiters der Stadt. In Theben nur auf Zeit geduldete Fremde. Aber hier auf Roatán … Alexander konnte sich gut vorstellen, längere Zeit hier zu bleiben. Vielleicht sogar für immer?

»Hey, Alex, wie ich seh, biste besser geworden? Das ganze Üben hat sich dann ja gelohnt.«

»Guten Morgen, Alvaro. Das hat sich auf jeden Fall gelohnt!«

Aus einer Gasse war Alvaro aufgetaucht. In den Händen hielt er ein engmaschiges Netz, das er vermutlich zum Ausbessern mit zu sich nach Hause nahm. Alvaro war ein Fischer. Tag für Tag fuhr er aufs Meer hinaus und warf Fangnetze aus. Abends holte er sie wieder ein. Den Fisch tauschte er in der Stadt ein, teilweise gegen andere Nahrungsmittel, aber auch gegen alle Dinge, die er sonst brauchte. An manchen Tagen, wenn die See es zuließ, legte er am Meeresgrund Fallen aus, in denen sich Krustentiere verfingen. Sie hatten einen höheren Wert als Fische, denn von ihnen gab es höchstens fünf bis zehn Stück pro Woche. Alexander hatte sie schon probiert und sie waren so gar nicht nach seinem Geschmack gewesen. Er wartete lieber auf die Lieferungen der Freibeuter, die auch andere Tiere mitbrachten. Oder eben auf den Fisch, den er selbst fing. So wie heute.

Mit der freien Hand stieß er die Tür zu seiner Hütte auf. Der Geruch nach Holzfeuer und Essen lag in der Luft.

»Ich bin wieder da«, rief Alexander in das dämmrige Halbdunkel hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, um die kommende Hitze der Sonnenstrahlen abzuhalten.

»Guten Morgen.« Amy stand im Türrahmen der Küche und sah ihn mit einem sanften Lächeln an. »Du warst so früh weg, ich habe dich gar nicht gehen hören.«

»Ich wollte dich nicht wecken.«

»Hattest du wieder diese Alpträume?«

»Ja.« Mehr musste er nicht sagen. Sie wusste ganz genau, welche Bilder ihn nachts quälten. Da gab es reichlich Auswahl und eines war schlimmer als das andere. »Ich war angeln.«

»Und? Hast du was gefangen?« Ihre Stimme war ruhig und angenehm. Manchmal saß er einfach nur da und genoss es, ihr zuzuhören. Kein Wunder, dass die Patienten auf der Krankenstation sich bei ihr so wohlfühlten. Viele bestanden sogar darauf, sie als ihre Krankenschwester zugewiesen zu bekommen.

Er ließ seinen Blick über ihr Gesicht wandern. Sie war ein wenig jünger als er, gerade einmal neunzehn. Doch die Fältchen in den Augenwinkeln, die man erst bei näherem Hinsehen erkannte, zeugten davon, dass sie oft im Freien war und schon einiges erlebt hatte. So früh am Morgen trug sie noch nicht die graue Haube der Krankenschwestern. Stattdessen fiel ihr das blonde Haar locker auf die Schultern.

»Ja, hier.« Er drehte sich zur Seite, damit sie seinen Fang sehen konnte.

»Nicht schlecht.« Sie legte ihre Hände auf seine Hüften und gab ihm einen kurzen Kuss. »Du wirst richtig gut darin.«

Er freute sich sehr über ihr Lob. Noch immer war es seltsam für ihn, eine Partnerin zu haben. Eine Freundin. Jemanden, mit dem er sein Leben teilen konnte. Und er hatte sie sich selbst ausgesucht. DNS-Kompatibilität wie in Biota hatte dabei keine Rolle gespielt. Auch nicht die Meinung der anderen Einwohner der Stadt. Es war kein Zusammenschluss aus Machtgründen gewesen wie in Narau. Er mochte sie und sie mochte ihn. Manchmal war es wohl tatsächlich so einfach. Nicht so wie mit Nic …

»Ich hoffe, du hattest Ruhe vor den Klabautermännern?« Amys Lächeln vertiefte sich.

»Ja, heute war ich mal allein.« Das war diese eine Sache, die er an Roatán nicht verstand. Die Geschichten, die die Menschen hier erzählten und an die sie felsenfest glaubten, obwohl sie nicht zu beweisen waren. Klabautermänner, Riesenkraken, Meerjungfrauen. Seiner Meinung nach alles frei erfunden. Doch die Roatáner beharrten darauf, dass all das der Wahrheit entsprach. Wollten sie wirklich in einer Welt leben, in der riesige Seeungeheuer ganze Schiffe in die Tiefen des Meeres rissen? Gab es dafür auch nur den geringsten Beweis außer dem Geschwätz einiger Seeleute, die erkrankt und völlig dehydriert von ihren Fahrten heimkehrten? Oder dienten die Geschichten in Wirklichkeit einem anderen Zweck? Obwohl er bereits seit Monaten hier wohnte und mit den Einwohnern viel und gerne sprach, hatte er bis jetzt kein Licht in das Dunkel dieser Angelegenheit bringen können. Er verstand es einfach nicht. Und er konnte sich gut vorstellen, was Nic dazu sagen würde, sollte sie von den Geschichten hören. Sie würde nicht zögern, zu beweisen, dass alles frei erfunden war. Sie würde sagen, dass nichts existierte, solange es keinen zweifelsfreien Beweis dafür gab. Ein lebendes Exemplar einer Meerjungfrau zum Beispiel. Immer wieder gab es diese Momente, in denen er an das dachte, was Nic wohl zu bestimmten Dingen sagen würde. Nur spielte das keine Rolle. Nic und er waren fertig miteinander. Sie wartete vermutlich nur darauf, nach Biota zurückzukehren, und er wollte nichts mehr mit einer Lügnerin wie ihr zu tun haben.

Doch er wollte Amy mit seiner Skepsis gegenüber den kleinen Geschichten auf dieser Insel nicht auf die Füße treten, also versuchte er, seine Antworten stets in kleine Witze zu verpacken. Er war kein Wissenschaftler und konnte nicht beweisen, dass diese Dinge nicht existierten, und er hatte so ein Gefühl, dass sich ohnehin keiner auf Roatán für die Wahrheit hinter den Geschichten interessierte. Was für ein Unterschied zu Biota! Dort war Wissen einfach alles gewesen. Das Nonplusultra. Eine Stadt regiert von Wissenschaftlern und dem mit ihnen verbundenen Fortschritt. Doch Roatán war anders, in jeder Hinsicht, und das musste er so akzeptieren. Schließlich war es auch genau das, was er im Moment brauchte.

»Das ist gut. Falls du sie mal siehst, renn lieber. Sie sind sehr schnell, das solltest du wissen.« Sie zwinkerte ihm zu, griff nach ihrer Haube und schob ihr Haar darunter zurecht.

»Ich muss los. Wir sehen uns dann heute Abend, ja?«

»Natürlich.« Alexander legte ihr eine Hand in den Nacken und zog sie an sich. Der Kuss dauerte länger als sonst, denn er tat zu gut, um ihn früher zu beenden. Seine Gedanken waren heute früh so düster, dass er Amys Nähe brauchte.

Als er sie losließ, strich sie ihm mit der Hand über die Wange. Ihre Augen wirkten dunkel im Zwielicht des Hauses. Als sie es verließ, fiel ein schmaler Sonnenstrahl herein und beleuchtete für einen Moment die aus dunklen und helleren Holzbalken bestehende Wand des Wohnraums. Bereits seit einem Monat wohnten sie nun zusammen. Wie schnell doch die Zeit verging!

Nachdem er den Fisch in den Kühler gelegt hatte, der eigentlich nur ein tieferes Loch im Boden war, machte auch Alexander sich auf den Weg zum Hafen von Coxen Hole. Der Punkt, den die Presas mit ihren Waren ansteuerten und der damit der Anziehungspunkt sowohl für die Einwohner der Stadt als auch für die Bewohner der umliegenden Städte war. Allesamt waren sie kleiner als Coxen Hole, und für ihre Einwohner war der Ausflug in die größere Stadt eine nicht zu unterschätzende Anstrengung, doch auch eine Möglichkeit, zu tauschen, zu tratschen und Kontakte zu knüpfen. Nicht selten hatte Alexander erlebt, dass Väter ihre Töchter mit sich zum Hafen schleiften und dort versuchten, sie einem der Männer auf den Schiffen als Ehefrau aufzudrängen. Glücklicherweise war es letztendlich die Entscheidung der Frauen, wen sie als Mann wollten. Doch das hieß noch lange nicht, dass manche Väter es nicht versuchen würden, sich selbst diesem Thema anzunehmen.

Alexanders Aufgabe war es, den Freibeutern zu helfen. Er trug die Beute von Bord und baute sie ansprechend für die Besucher auf. Wenn es nötig war, half er auch bei den Tauschgeschäften. Was genau er tun musste, hing von dem jeweiligen Kapitän des Schiffes ab. Es gab einige, die seine Hilfe schätzten und ihn vieles erledigen ließen und ihn im Gegenzug dafür auch reich belohnten. Aber es gab auch diejenigen, die ihn spüren ließen, dass er unwillkommen war, und deutlich zeigten, dass er für sie noch ein Fremder war, den sie nur ungern an ihre Waren ließen.

Er war gespannt, welche Schiffe heute anlegen würden. Meistens waren es über den Tag verteilt drei bis vier, die leergeräumt und auf Vordermann gebracht werden mussten. Wenn es sein musste, diente Alexander auch als Reinigungskraft und sogar als Schiffsbauer. Zumindest mehr oder weniger. Einer der Zimmermänner hatte ihn unter seine Fittiche genommen und zeigte ihm hin und wieder bei einfacheren Arbeiten Handgriffe, die er auch allein anwenden konnte. Inzwischen konnte er kalfatern, Segel flicken und gebrochene Ruder reparieren. Fähigkeiten, auf die er durchaus stolz war. Hatte er in seiner Zeit in Biota doch nichts gelernt, was man auf Roatán wirklich gebrauchen konnte. Hüter waren hier nicht im Geringsten gefragt. Und in Narau … Gelernt hatte er dort höchstens, zu schießen und jedem zu misstrauen. Die erste Fähigkeit hatte ihm auf Roatán zwar Respekt eingebracht, allerdings keine Arbeit. Die zweite hätte ihm höchstens den Ruf eines Idioten beschert, also hatte er von dieser Seite der Geschichte nichts erzählt. Er war froh, dass die Hafenarbeiter ihm die Möglichkeit gegeben hatten, zu zeigen, dass er etwas konnte, und eben nicht der verweichlichte Fremde aus der seltsamen Unterwasserstadt war. Und inzwischen schien es, als hätten selbst die skeptischsten unter ihnen akzeptiert, dass er nun zu ihnen gehörte und Seite an Seite mit ihnen arbeitete.

Und es war keine leichte Arbeit. An vielen Tagen kehrte er mit schmerzendem Rücken, verbrannten Armen und müden Beinen zu Amy zurück. Zum Glück war sie so versiert und fürsorglich, dass seine Schmerzen normalerweise nur von kurzer Dauer waren. Als Krankenschwester wusste sie ohne Zweifel, was sie tat.

Gemeinsam mit fünfzehn anderen Hafenarbeitern fand er sich heute auf dem hölzernen Steg ein. Es gab insgesamt drei Anlegestellen für größere Schiffe und rund einhundert, vielleicht auch mehr, für die kleineren. Wie sonst auch dümpelten an den niedrigeren Anlegestellen etliche Nussschalen, winzige Boote, von denen einige nicht einmal mehr fahrtauglich aussahen. Schon seitdem er hier angekommen waren, hing eines der Boote schräg aus dem Wasser, das Heck unter der Oberfläche. Und keinen schien es zu interessieren. Diese Art der Gelassenheit gefiel Alexander. Er war sie nicht gewohnt und er bewunderte die Leute, die über solche Dinge, die ja nun nicht gerade Kleinigkeiten waren, einfach so hinweggingen.

Er musste nicht lange warten, dann lief auch schon die Edward Teach in den Hafen ein und legte am Steg an. Dicker Dampf quoll aus dem Schornstein in der Mitte des Schiffes. Mehrere Hafenarbeiter griffen nach den dicken Tauen, mit denen das Schiff am Steg festgemacht wurde. Währenddessen sprangen schon die ersten Seeleute herunter, die gar nicht erst warteten, bis das Schiff stillstand. Sie machten sich auf den Weg in die erstbeste Kneipe. Ihr dröhnendes Gelächter und ihre Rufe waren noch einige Augenblicke lang zu hören, bis sie in der Taverne »Saint John« verschwanden. Ihre Aufgabe war mit Einlaufen des Schiffes in den Hafen erledigt, nun waren die Hafenarbeiter an der Reihe. Eine Planke wurde hinüber zum Schiff gelegt und Alexander setzte mit großen Schritten über. Neben der Planke wurde ein Förderband aufgestellt, ein Gerät aus Zahnrädern, das, angetrieben von einer kleinen Dampfmaschine, in stetiger Bewegung eine Matte aus Pflanzenfasern bewegte.

Beim ersten Mal auf einem dieser Schiffe war ihm mulmig zumute gewesen. Wie konnte so etwas bloß schwimmen? Das viele Holz und Metall … Noch dazu schwankte es so schrecklich, dass ihm damals ganz flau im Magen wurde. Inzwischen bemerkte er die Wellenbewegung nicht einmal mehr. Viel zu sehr war er darauf fokussiert, beim Entladen des Schiffes nichts fallen zu lassen oder umzuwerfen. Die meisten Kapitäne hatten nicht unbedingt ein sanftes Gemüt. An seinem zweiten Arbeitstag hatte er es sich gleich mit Matthew Drake verscherzt, einem rotgesichtigen Mann mit spärlichem Haarwuchs. Beim Ausladen des Schiffes war ihm eine Flasche mit einer scharf riechenden Flüssigkeit zu Boden gefallen und zerbrochen. Als er sich darangemacht hatte, die Scherben aufzulesen, war Drake aus der Schiffsluke geschossen, hatte sich vor ihm aufgebaut und ihn minutenlang angeschrien. Es war ihm egal gewesen, dass er neu war, und auch, dass er die Flasche nicht mit Absicht zerbrochen hatte.

Später hatte ihn eine Hafenarbeiterin beiseite gezogen und ihm geraten, Drake aus dem Weg zu gehen. Bis jetzt hatte ihr Ratschlag funktioniert. Er war dem Kapitän nicht mehr so nah gekommen, dass dieser ihn anschreien konnte.

Alexander griff nach einer Kiste, deren Holzlatten mitgenommen aussahen. Als er eine Ecke hochhob, merkte er, dass sie zu schwer für ihn war. Suchend blickte er sich um. Alle seine Kollegen waren beschäftigt, nicht einer von ihnen blickte in seine Richtung.

»Ich mach das.«

Ein Schatten fiel auf ihn. Alexander blickte hoch, direkt in das lächelnde Gesicht einer Frau Anfang dreißig. Ihr Gesicht war von harten Linien durchzogen und so braun wie Leder. Genua Teach, genannt Jimmy. Sie war die Kapitänin der Edward Teach. Bis jetzt hatte er noch nie persönlich mit ihr zu tun gehabt. Lediglich Gerüchte waren an seine Ohren gedrungen. Angeblich war sie hart, aber gerecht. Ihre Mannschaft war ihr treu ergeben und viele der Seeleute rissen sich förmlich darum, auf ihrem Schiff mitzufahren.

Die vielen Schmuckstücke an Jimmys Handgelenken und um ihren Hals klirrten, als sie näherkam. Sie bückte sich und griff nach einer Ecke der Kiste. Dabei rutschte der Ärmel ihrer weißen Bluse hoch und entblößte ihren Arm. Ein Zeichen wurde sichtbar. Die Ränder waren unsauber, die Tinte verwaschen und das Motiv war so schlecht gestochen, dass Alexander nicht erkennen konnte, was es darstellen sollte. Ein Steuerrad? Oder doch einen Menschen? Vielleicht waren es auch kreisförmig angeordnete Buchstaben? Um das Bild herum war die Haut vernarbt und wirkte verbrannt. War das tatsächlich etwas, das man sich auf Roatán freiwillig verpassen ließ? Alexander dachte an seine eigene Tätowierung auf der Innenseite seines Handgelenks. Freiwillig hatte er sie nicht bekommen, die hatte zu dem Leben in Biota dazugehört. Ein Zeichen, das alle Bürger einte und sie daran erinnerte, dass sie im selben Boot saßen. »Forschung, Vertrauen, Einigkeit.« Inzwischen erkannte er die Verlogenheit hinter diesen Worten, doch viele Jahre lang hatte er bedingungslos daran geglaubt. Seit er auf Roatán lebte, trug er ein Stoffband am Handgelenk, das die Tätowierung überdeckte. Er wollte keine Fragen dazu beantworten. Und vor allem wollte er selbst nicht mehr daran denken, jemals so leichtgläubig gewesen zu sein.

»Hey, Landratte.« Jimmys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er blinzelte.

»Ja?«

»Heben wir das Ding jetzt oder nicht? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Hastig hob Alexander die eine Ecke der Kiste, während Jimmy die andere Seite stabilisierte. Ächzend schleppten sie das schwere Ding zum Förderband und setzten es darauf ab.

»Was ist da eigentlich drin?«, keuchte Alexander, als er sich wieder aufrichtete.

»Steine«, antwortete Jimmy knapp und streckte sich. Ihr flacher Bauch kam unter der Bluse zum Vorschein und Alexander blickte zur Seite.

»Steine? Habt ihr davon hier nicht genug?«

Jimmy lachte. Ihre Stimme war rau wie die eines Papageis.

»Edelsteine und Gold.«

»Und das Zeug verkauft sich?«, fragte Alexander skeptisch. Die Menschen in Coxen Hole führten ein einfaches Leben. Ihnen war es wichtig, genug zum Essen zu haben und den Tag zu genießen. Die Frauen trugen kaum Schmuck und wenn, dann aus Holz. Was sollten sie mit Edelsteinen?

»Nicht wirklich«, antwortete Jimmy und blinzelte hinüber zu den Hafengebäuden. »Das ist für mich. Mir gefallen glitzernde Dinge.« Sie zwinkerte ihm zu und feine Fältchen bildeten sich wie ein Spinnennetz um ihre Augen.

»Oh.« Ihm wollte keine intelligentere Erwiderung einfallen, also blickte Alexander sich zum Schiff um. »Ich muss dann mal weitermachen.«

»Alexander, richtig? Du arbeitest hart, das gefällt mir. Was würdest du dazu sagen, zu meiner Crew zu gehören?«

Er traute seinen Ohren kaum. Sie wollte, dass er für sie arbeitete? »Ich soll auf deinem Schiff mitfahren?«

»Ganz genau.«

»Warum ich?«

Jimmy lachte und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Jacke verschob sich und gab den Blick auf zwei Pistolen frei, die an ihrem Gürtel hingen.

»Willst du mir etwa sagen, dass etwas gegen dich spricht?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe ein gutes Gefühl bei dir, das könnte klappen.«

Alexanders Herz schlug schneller. Hinaus auf die offene See fahren … Das klang verlockend. Er wollte die Welt sehen. Wollte sehen, was es dort draußen noch alles gab. Seit Jahren war seine Sicht der Dinge von anderen diktiert worden. Wie schön wäre es, sich selbst davon überzeugen zu können, was wahr war und was nicht?

Dennoch zögerte er. Diese Arbeit anzunehmen, bedeutete, tagelang, manchmal sogar wochenlang nicht zurückzukehren. Amy wäre allein in ihrem Haus und würde auf ihn warten. Oder auch nicht. Ein nagendes Gefühl der Eifersucht fraß sich in ihn hinein. Wenn er jetzt schon zweifelte – war es da eine gute Idee, den Posten anzunehmen?

»Was genau müsste ich tun, wenn ich mitkomme?«

»Das, was die anderen auch tun. Das Schiff steuern, putzen, instandhalten. Aber auch kochen, solange wir unterwegs sind. Wenn wir landen, suchst du nach allem, was wertvoll sein könnte. Du zeigst es mir und wenn ich die Erlaubnis gebe, bringst du es an Bord. Falls wir angegriffen werden, ist es deine Aufgabe, das Schiff und deine Kameraden zu verteidigen.«

Der letzte Teil klang gefährlich.

»Darf ich darüber nachdenken?« Jimmys Angebot kam unerwartet, er war erst wenige Wochen Hafenarbeiter, warum gab sie ausgerechnet ihm eine solche Chance?

Jimmys Gesicht wurde ernst. »Gut, denke darüber nach. Aber nicht zu lange. So ein Angebot mache ich nicht jedem, weißt du? Du hast bis nächsten Dienstag Zeit, dann verschwinde ich wieder von hier.«

Alexander schluckte. Nur sechs Tage. Am besten sprach er nachher mit Amy darüber. Es konnte nicht schaden, sich anzuhören, wie sie über das Angebot dachte.

»Ich muss weiter. Wir sehen uns.« Jimmy hob kurz die Hand zum Gruß und eilte dann den Steg entlang, ihren Männern hinterher. Ihre schweren Stiefel verursachten ein unregelmäßiges Pochen auf den Holzplanken.

Er, ein Seemann, ein Freibeuter. War das eine realistische Vorstellung? Er wollte nicht der Köder sein, den Jimmy auswarf, um Feinde anzulocken oder etwas Derartiges. Er hatte keine Erfahrung, weder auf See noch im Kämpfen. Alles, was er sein würde, war ein Klotz am Bein. Trotzdem reizte ihn die Vorstellung, aufs Meer hinaus zu segeln, über alle Maßen.

»Alex, steh da nich so rum! Der Kahn lädt sich nicht von allein aus!« Loak, ein Junge mit strubbeligen schwarzen Haaren machte eine unhöfliche Geste mit der Hand und grinste dann. »Los, beweg deinen Hintern mal.«

Alexander hatte sich an einiges auf Roatán gewöhnen müssen. Dazu hatte auch die Sprache der Einwohner gehört. Nicht nur, dass die meisten in einem Singsang sprachen, der es schwer machte, einzelne Worte zu verstehen, nein, meistens folgten den Sätzen auch irgendwelche Beleidigungen. Nur waren es keine wirklichen Beleidigungen, sondern ein freundschaftliches Sticheln. So richtig war er immer noch nicht dahintergekommen, wie es funktionierte. Daher hielt er sich bisher noch damit zurück, die Worte zu benutzen, die er hier aufgeschnappt hatte. Was, wenn er sie falsch benutzte? Auf eine Faust im Gesicht konnte er - verdammt noch mal – gut verzichten. Er grinste bei dem Kraftausdruck. Das hatten die Leute in Narau gerne gesagt.

»Jaja«, rief er zurück und machte sich wieder an die Arbeit.

Zwei Schiffe später schmerzte Alexanders Rücken deutlich. Er hatte gehofft, dass sich seine Muskeln mit der Zeit an die Belastung gewöhnen würden, doch das schien nicht der Fall zu sein. Er rieb sich das Kreuz, als ein weiteres Schiff in seinem Sichtfeld auftauchte. Die Segel waren rot, die Masten aus einem dunklen silbernen Metall, das Holz des Schiffes war stark poliert und glänzte im Licht der Sonne. Auf beiden Seiten des Schiffes drehten sich große Wasserräder, die das Schiff auch bei Flaute vorantrieben.

Alexander seufzte. Das konnte nur ein Schiff sein: die Guangdong. Das hatte ihm heute noch gefehlt. Ihr Befehlshaber Chi Yi Sao war ein höchst unsympathischer Mann. Seine schmalen Augen blickten immerzu streng und kalt auf andere herab und seine herabhängenden Mundwinkel vermittelten den Eindruck von Verbitterung. Der schmale schwarze Schnurrbart über seinen Lippen machte es auch nicht besser. Und dann noch dieser Hut … Immer und überall trug er einen schwarzen, speckigen Hut, den man bereits Meilen gegen den Wind riechen konnte. Und auch seine Art machte ihn nicht gerade beliebter. Er schrie viel, kritisierte jeden und schickte seine Seeleute, wie man so hörte, auf Missionen, deren Erfolg recht unwahrscheinlich war. Wer jedoch aufbegehrte, wurde auf einer einsamen Insel zurückgelassen. Man munkelte, dass bereits achtzehn seiner Männer da draußen zurückgeblieben waren. Ob sie tot oder lebendig waren, wusste keiner.

Das Schiff lief in den Hafen ein, die Wasserräder drehten sich rückwärts, um die Geschwindigkeit zu verringern, und die Seemänner warfen dicke Taue auf den Steg, wo die Hafenarbeiter sie befestigten. Währenddessen blieben die Seemänner stocksteif an Bord stehen, ihre Blicke gingen starr geradeaus. Chin Yi Sao, eingehüllt in einen protzigen roten Mantel, schritt an ihnen vorbei und sprang vom Schiff auf den Steg. Alles war still. Alle Arbeiter blieben stehen und sahen ihn nicht einmal an. Seine Schritte waren das einzige Geräusch, das die Stille störte. Er passierte die Arbeiter, doch ganz im Gegensatz zu sonst verzichtete er darauf, einen nach dem anderen anzuschreien. Stattdessen schien er sie gar nicht wahrzunehmen. Schnellen Schrittes hielt er auf den Hafenmeister zu, dessen Miene zu entnehmen war, dass er sich liebend gerne unsichtbar gemacht hatte.

Hielt der Kapitän etwas in seiner Hand? Alexander kniff die Augen zusammen. Vielleicht ein Stück Papier?

Sao blieb vor dem Hafenmeister stehen und begann auf ihn einzureden. Alexander konnte das Gespräch der Männer in der einsetzenden Hektik, die mit dem Entladen eines Schiffes einherging, nicht verstehen, doch das Gesicht des Hafenmeisters wirkte erst wie versteinert, dann hob er abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.

Was war da los?

Eine schnelle Bewegung – und Sao drückte ein Messer an die Kehle des Hafenmeisters. Der Mann riss die Augen auf und erstarrte.

War das Saos Ernst? Was war so wichtig, dass er dem Mann auf offener Straße an die Kehle ging – wortwörtlich.

Noch einige Augenblicke lang redete Sao auf den Hafenmeister ein. Der jedoch sah eindeutig so aus, als hätte er keine Ahnung, was Sao eigentlich von ihm wollte. Sao hob die Hand mit dem bräunlichen Etwas, das Alexander zuvor bereits aufgefallen war, und schüttelte sie vor den Augen des Hafenmeisters hin und her.

Als der Kapitän den Hafenmeister endlich losließ, war die Erleichterung unter den Arbeitern deutlich spürbar.

»Was glotzt ihr so? Ich werdet fürs Arbeiten bezahlt, also arbeitet, ihr armseligen Maden.« Sao steckte das Messer wieder ein und schritt so schnell davon, dass sein Mantel hinter ihm her flatterte wie eine Gardine in einem geöffneten Fenster.

Alexander wandte sich zu den anderen Arbeitern um.

»Frag gar nicht erst.« Loak hatte abwehrend eine Hand gehoben. »Ich weiß genau so wenig wie du.«

Eine Menge Fragen wirbelten in Alexanders Kopf umher. Irgendetwas bereitete dem Kapitän, der sonst so gefühllos und beherrscht war, große Sorgen. Ging es vielleicht um das Schiff? War etwas damit geschehen? Oder war auf dem Ausflug etwas passiert? Und was hatte es mit diesem Ding in seiner Hand auf sich?

»Los, machen wir, dass wir hier fertig werden. Ich will nicht, dass Sao wiederkommt, bevor wir alles ausgeladen haben. Der bringt es echt fertig und reißt uns den Kopf ab.« Loak zog an Alexanders Ärmel.

»Du hast recht.« Alexander warf einen letzten Blick in die Richtung, in die Sao verschwunden war. War der Kapitän vielleicht einfach verrückt geworden? Etwas Ähnliches hatten die Hafenarbeiter zuvor schon angedeutet. Wahnsinn, Paranoia, Wutanfälle.

Seufzend machte Alexander sich wieder an die Arbeit. Die Kisten luden sich schließlich nicht von selbst aus. Es war allerdings schade, dass sie von Sao keinen Bonus für ihre Arbeit erhalten würden. Er zahlte allen Arbeitern haargenau den Lohn, der vertraglich für sie festgelegt war. Die anderen Kapitäne legten gerne auch mal etwas Fleisch oder Metall obendrauf, wenn sie gute Laune hatten oder das Schiff besonders schnell ausgeräumt wurde.

Nach und nach ging auch Saos Mannschaft von Bord. Im Gegensatz zu den anderen Schiffsbesatzungen war sie offenbar nicht allzu erpicht darauf, das Schiff zu verlassen. Die Männer schlugen eine andere Richtung ein als ihr Kapitän und verschwanden im Straßengewirr von Coxen Hole.

Konzentriert trug Alexander eine Kiste nach der anderen von Bord des Schiffes. Es folgten einige Metallteile, die er gemeinsam mit Loak forttrug, da sie für ihn allein viel zu schwer und sperrig waren. Danach ging es daran, die lebendigen Waren von Schiff zu bewegen. Diesmal hatte das Schiff vier kleine Tiere geladen, die Rehen ähnelten und die mit Seilen angebunden waren. Alexander löste die Seile, zog die Tiere, die sich zunächst weigerten, von Bord und band sie auf dem Steg wieder an. Dann kehrte er zurück, griff nach den Schalen mit Wasser, die für die Tiere an Bord gestanden hatten, und brachte sie ebenfalls auf den Steg.

Die Hitze war drückend und permanent rannen ihm dicke Schweißtropfen über die Stirn hinab in den Kragen seines Hemdes. Doch die Sonne war inzwischen hinter dichten Wolken verschwunden. Vielleicht würde es ja heute noch regnen? Alexander wünschte es sich beinah. So schön das gute Wetter auf Roatán auch war – auf Dauer war es eine enorme Belastung. Und er war die Wärme nicht gewohnt. In Biota war die Temperatur der Stadt geregelt worden und damit nie zu hoch oder zu niedrig.

Bereits Narau war ein Schock für ihn gewesen. Die dunstige Hitze, der Rauch, der zu jeder Tageszeit in der Luft lag, und das Fehlen der Sonnenstrahlen, die den Nebel nicht durchdringen konnten. Und nach seiner Erfahrung in der Wüste vor Theben war Hitze nicht unbedingt seine bevorzugte Wetterlage. Und so war Roatán eine Herausforderung für ihn. Es war immerzu warm und feucht. Die Sonne brannte nur so vom Himmel herab und versengte die Haut, wenn man ihr zu lange ausgesetzt war. Das hatte er am Anfang nicht beachtet und bereits am dritten Tag hier hatte er ausgesehen, wie ein gekochter Krebs. Roter Kopf, rote Arme, rote Beine. Die Einwohner hatten so viele Witze über ihn gerissen, dass er dachte, sie würden an ihrem Lachen noch ersticken. Aber eigentlich war es ein guter Einstand gewesen. Jeder hatte Spaß gehabt und ihn sogleich als neues Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert.

Alexander hob gerade eine kleinere Kiste hoch, als eine Bewegung in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit erregte. Lange dunkelblonde Locken. Rasch stand er auf und spähte hinüber zu den Gebäuden am Hafen. Keine Locken. Nur das übliche Gewimmel von Leuten, die auf die Freigabe der neuen Waren für den Tausch oder Verkauf warteten. Hatte er sich die Bewegung nur eingebildet?

Da! Die Tür des Rathauses schwang noch in den Angeln. Wenn er sie sich nicht eingebildet hatte, musste sie dorthinein gegangen sein.

»Hey, Ezio, ich bin kurz weg, ja?«

Ezio, ein großer Mann mit dunkler Haut sah nicht einmal auf. »Wenn du meinst.«

Das hieß dann wohl »Ja«. Alexander sprang von Bord und lief den Steg hinab. Am Ende war der Steg noch für Besucher gesperrt und er musste sich durch die davor wartende Menschenmenge zwängen. Viele der Leute hatten Karren dabei, auf denen sie ihre Tauschwaren transportierten und die das Durchkommen erschwerten.

»Darf ich mal …« und »Entschuldigung« murmelnd wand Alexander sich durch die vielen Menschen und stand wenige Augenblicke später vor dem Rathaus, dem Gebäude der Alcalde Anne Bonny. Einmal erst war Alexander bei ihr gewesen. Damals, vielleicht eine Woche, nachdem er auf Roatán angekommen war und als feststand, dass er so bald nicht wieder gehen würde. Er hatte sich angemeldet und sein Haus als Wohnsitz eingetragen. Unter der Leitung der Alcalde musste alles seine Ordnung haben.

Er schritt zur Tür und legte die Hand auf das warme Holz. Dann atmete er zweimal tief durch, stieß die Tür auf und trat ein.

Im Inneren war es heller als draußen und einen kurzen Moment lang war Alexander geblendet von dem Licht, das mehr als zehn Gaslaternen verströmten. Der unangenehme Nebeneffekt der Lampen war eine brütende Hitze, die die im Freien noch weit übertraf.

Bevor er sie sah, vernahm Alexander ihre Stimme.

»… muss ihn finden. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«

»Hallo Nic.« Er war froh, dass seine Stimme ganz normal klang. Wie oft hatte er sich den Moment ausgemalt, in dem sie sich wiedersehen würden?

Nic fuhr herum und ihre Haare wirbelten durch die Luft.

»Alexander!« Sie klang atemlos. Die Augen weit aufgerissen, sah sie eher erschrocken als erfreut aus. »Was machst du denn hier?«

Nun, das war nicht die Begrüßung, die er erwartet hatte. Sie hatten so viel miteinander durchgemacht, verdiente er da nicht ein wenig mehr als das? Auch wenn ihre gemeinsame Zeit wenig mehr als ein Experiment gewesen war?

»Ich habe dich vom Schiff aus gesehen. Da wollte ich Hallo sagen.« Er musterte Nic. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie trug eine Korsage aus hellem Leder und einen mehrlagigen Rock, der vorne kürzer war als hinten. Beides hatte er noch nie zuvor an ihr gesehen. Ihr Gesicht war deutlich gebräunter als zu ihrer Ankunft auf Roatán und ihr Haar hatte einen goldenen Schimmer bekommen. Es stimmte, er hatte sie begrüßen wollen. Er musste sich davon überzeugen, dass alles tatsächlich so gewesen war, wie er es in Erinnerung hatte. Da war nichts zwischen ihnen gewesen, richtig? Sie war nur eine Forscherin gewesen und er ihr Forschungsobjekt.

»Hallo.« Offenbar schien Nic nach weiteren Worten zu suchen, denn sie sah zu Boden und biss sich auf die Lippe. Im Hintergrund saß die Alcalde an ihrem Schreibtisch, ein dickes Buch vor sich aufgeklappt und das sie betont intensiv studierte. Sie wollte ihnen wohl etwas Privatsphäre geben oder nur nicht mitansehen, wie er von Nic eiskalt abgewiesen wurde. Gab es wirklich nichts mehr zu sagen?

»Wie laufen deine Projekte?«, erkundigte sich Alexander, als er die Stille nicht mehr ertragen konnte.

»Gut, gut.«

Na, das war doch mal eine ergiebige Antwort. So langsam wurde Alexander sauer. Wer glaubte sie eigentlich, wer sie war, dass sie ihn einfach so abfertigen konnte? Sie lebte genau wie er auf dieser Insel. Offenbar wollten ihre Forscherkollegen nicht unbedingt, dass sie nach Biota zurückkehrte.

Er startete einen letzten Versuch. »Was führt dich in die Stadt?«

»Nichts Besonderes.« Das war alles. Sie sah zu Boden und schwieg.

Sie wollte nicht mit ihm reden? Gut, dann er auch nicht mit ihr.

»Na, dann mach‘s gut, ich muss zurück an die Arbeit.«

Fester als nötig stieß Alexander die Schwingtür auf, die daraufhin auf der Außenseite gegen die Wand schlug. Ohne sich umzudrehen marschierte er zurück zum Schiff. Was bildete Nic sich eigentlich ein?

Bepackt mit seiner Belohnung für das Entladen der Schiffe am heutigen Tag ging Alexander am frühen Abend zurück zu seinem Haus. Nun war endlich der frisch gefangene Fisch an der Reihe, auf den er sich schon den ganzen Tag freute. Nicht weil er Fisch so lecker fand – davon hatte es in Biota viel zu viel gegeben –, nein, weil er ihn selbst gefangen hatte. Es gefiel ihm mehr und mehr, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Seinen Beruf selbst zu wählen, seine Partnerin, sein Haus. Dazu Nahrung eigenständig beschaffen, Reparaturen selbst durchführen … Es fühlte sich richtig an und es ging ihm gut damit. Dieses dumpfe Gefühl der Betäubung, das ihn in Biota befallen hatte, nachdem er sich auf die Suche nach einem Mörder gemacht, aber keine Ahnung hatte, was er eigentlich tun sollte, war endlich verschwunden. Er konnte selbstständig denken und handeln.

»Da bist du ja«, begrüßte Amy ihn an der Tür und nahm ihm einige Metallteile ab, die sie in einer Kammer unter den Dielenbrettern im Wohnzimmer verstaute. »Ich hatte früher mit dir gerechnet.«

»Tut mir leid, es waren mehr Schiffe, als wir erwartet hatten. Und außerdem war eins von Sao dabei.«

Amys Mundwinkel wanderten nach unten. »Und? Wen hat er diesmal angebrüllt?«

»Den Hafenmeister.«

»Was? Wieso denn das?«

»Keine Ahnung. Er hat ihm sogar mit einem Messer gedroht.«

»Welchen Grund könnte er denn dafür haben?« Amy legte die Stirn in Falten.

»Ich hatte eigentlich gehofft, das könntest du mir sagen.« Nach allem, was Alexander wusste, war der Hafenmeister für die Einteilung und Entlohnung der Hafenarbeiter sowie für das Ausbessern des Stegs und die Reparatur der Schiffe zuständig.

»Wollen wir uns vielleicht erstmal hinsetzen? Ich habe das Abendessen schon fertig gemacht, ich dachte, du hast sicher Hunger.« Da hatte sie allerdings recht. Sein Magen knurrte schon seit einigen Stunden. Es war so viel los gewesen, dass er nicht einmal Zeit für eine kurze Zwischenmahlzeit gehabt hatte.

Alexander verstaute den Rest seines Lohns und setzte sich in die Küche an den Tisch. Dort standen bereits zwei Teller mit Fisch und einer Kartoffel und eine Schale mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Die scharfe Soße, auf die die Einwohner von Roatán schworen und die sie praktisch zu allem aßen.

Nachdem Alexander sich gesetzt und einen Bissen vom Fisch genommen hatte, wollte er mehr über den Hafenmeister hören.

»Also, was weißt du über den Hafenmeister? Wofür ist er zuständig?«

»Viel weiß ich nicht. Er heißt Bert Alvarez. Er hat den Posten vor über drei Jahren übernommen und bis jetzt sind mir keine Beschwerden über ihn zu Ohren gekommen. Auf der Krankenstation war er, soweit ich weiß, auch noch nicht.« Sie goss sich ein Glas Wasser ein. »Seine Aufgabe besteht darin, sich um alles zu kümmern, was mit den Schiffen zu tun hat. Er organisiert die Wartung, vermittelt Seeleute und Hafenarbeiter, er achtet auf die Einhaltung der Bezahlung, er verwahrt das Eigentum der Crewmitglieder, wenn es von ihnen gewünscht wird. Außerdem zeichnet er nach den Angaben der Kapitäne Karten von ihren Plünderfahrten, damit andere wissen, wo es noch etwas zu holen gibt und von welchen Ecken man lieber die Finger lassen sollte.« Sie nippte an ihrem Wasserglas. »Und er ist für die Post der Seeleute zuständig. Da sie ja selten an Land sind, bewahrt er sie für sie auf und übergibt sie ihnen bei ihrem nächsten Landgang.«

»Post?«

»Ja, viele Briefe sind es sicher nicht, aber einige der Kapitäne haben Frauen in anderen Städten, die ihnen schreiben. Manchmal auch mehrere.«

Die Frauen interessierten Alexander nicht. Es war etwas anderes, das Amy erwähnt hatte, das sein Herz schneller schlagen ließ. Briefe … Sao hatte etwas Bräunlich-Weißes in der Hand gehabt, das er dem Hafenmeister förmlich unter die Nase gedrückt hatte. Die Farbe hatte Alexander an Papier erinnert.

Ein Klopfen durchbrach seine Gedanken. Wer könnte das sein?

»Ich mach auf«, sagte er zu Amy, die sich schon halb erhoben hatte.

Alexander durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Tür.

»Hallo Alex.«

Es war Nic. Ihre Haare waren wirr und sie hatte einen Streifen Dreck auf der Wange.

»Störe ich?«

Die ehrliche Antwort wäre »Ja« gewesen, doch Alexander schüttelte den Kopf. Jetzt also wollte sie mit ihm reden?

Er zog die Tür hinter sich zu, sodass sie gemeinsam auf der schmalen Veranda standen, die sein Haus umgab.

Nic sah für einen Augenblick verdutzt aus, sagte aber nichts dazu, dass er sie nicht in sein Haus bat.

»Also?«, sagte Alexander, weil Nic keine Anstalten machte, zu sprechen. »Warum bist du hier?«

Nic trat von einem Bein aufs andere und sah überall hin, nur nicht in seine Augen. Dann zog sie etwas aus ihrer Hosentasche. Etwas, das Alexander bekannt vorkam.

»Den hier habe ich vor ein paar Tagen bekommen.«

Alexander blickte auf den Brief hinab, der in ihrer offenen Hand lag. Ein heller Braunton. Ihm wurde kalt.

»Was ist das?«, flüsterte er. Angst stieg wie eine eisige Welle in ihm auf.

»Lies es selbst.« Nic gab ihm den Brief und Alexander begann zu lesen.


Sei gegrüßt, du, der du dich in Sicherheit wähnst. Du hast mich vergessen. Wie könntest du auch nicht? Schuld vergisst man gern. Doch bedenke eines: Ich kann mich erinnern. Wir werden uns wiedersehen.


»Wer hat dir das geschickt?«

»Ich habe keine Ahnung. Er lag einfach auf meiner Türschwelle.« Sie wedelte unsicher mit einer Hand in der Luft. »Ich habe niemanden in der Nähe meiner Hütte gesehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber dann hatte ich ein schlechtes Gefühl. Ich dachte vielleicht …«

»Steckt Garrett dahinter? Oder jemand aus Theben?«

Nic riss die Augen weit auf. »Nein, ich dachte, vielleicht spielt mir jemand einen Streich. Erschreck die Fremde oder so etwas in der Art. Jemand, der mich vergraulen wollte. Garrett? Meinst du wirklich? Ist er nicht tot? Oder Amarna?«

»Könnte doch sein.« Garrett hatte ihnen gedroht, als sie Narau verlassen hatten. Und Amarna … Wenn sie freigekommen war, könnte sie sich an ihnen rächen wollen.

»Nach all der Zeit?«

»Vielleicht haben sich die Umstände geändert, wer weiß.«

»Aber Garrett …« Nic schien zu überlegen, wie sie es formulieren sollte. »Meinst du nicht, dass er etwas deutlicher geschrieben hätte, was er will? Und dass er vielleicht auch mit seinem Namen unterschrieben hätte? Wir kennen ihn doch.«

»Das einzige, was ich über diesen Kerl weiß, ist, dass man ihm nicht trauen kann. So etwas wäre doch genau sein Ding! Er versetzt dich in Angst und Schrecken und sieht zu, wie du dich windest. Er liebt es, wenn die Menschen sich vor ihm fürchten.«

»Ja, vor ihm! Aber doch nicht vor einem gesichtslosen Jemand.« Nic sprach nun lauter und Alexander warf besorgt einen Blick zur Tür. Konnte Amy sie hören? Lauschte sie vielleicht sogar hinter der Tür?

Etwas an Nics Anwesenheit flößte ihm Schuldgefühle ein. Als ob er Amy schon mit der Tatsache betrog, dass er mit Nic allein war.

»Aber weißt du wirklich, was Garrett tun würde?«

»Nein, du denn? Ich weiß nur, dass er zu allem fähig ist. Und er hat Beziehungen.« Nic fuhr sich durch die dichten Locken und brachte sie dabei noch mehr durcheinander.

»Gut möglich, dass Garrett sowieso tot ist, wir wissen nicht, wie sein Kampf mit James ausgegangen ist.« Genervt schloss Alexander die Augen. Alles an Nic beschwor die grauenvollen Dinge wieder herauf, die er erlebt hatte. Sie war ein Teil davon gewesen und inzwischen untrennbar mit den Erinnerungen verbunden. Und nichts davon hätte geschehen müssen. Hätten sie und ihre Kollegen nicht beschlossen, dass er das perfekte Versuchsobjekt war …

»Ich denke nicht, dass er tot ist. Und Amarna könnte bei dem Angriff befreit worden sein …«

»Was ist das hier?«, unterbrach Alexander sie.

Nic runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Das hier.« Alexander hatte den Brief in den Händen gedreht und dabei war ihm ein Schriftzug aufgefallen. Vorne auf dem Brief prangte der Name »Andrew Fontaine«.

»Wer ist Andrew Fontaine?«

»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?«

»Es steht auf deinem Brief!« Alexander musste sich Mühe geben, um nicht loszuschreien. Warum musste es mit Nic so sein? Warum brachte ihre Nähe ihn so aus dem Gleichgewicht? Alles war gut gewesen, bevor sie wieder aufgetaucht war. Sogar mehr als gut. Er war glücklich gewesen. Nun stand sie hier vor ihm und er verwandelte sich in jemanden, der beinahe Frauen anschrie.

»Sag mir bitte: Kennst du einen Andrew Fontaine?« Er bemühte sich, seine Stimme ruhiger klingen zu lassen.

»Andrew Fontaine … Ich kenne niemanden, der so heißt. Versteh mich nicht falsch, ich habe den Namen gesehen, aber ich habe angenommen, dass vielleicht zuerst etwas anderes auf den Bogen Papier geschrieben werden sollte oder vielleicht der Papierhersteller seine Waren kennzeichnet …«

»Es steht vorne auf dem Brief. Kann es nicht auch sein, dass es der Adressat ist und der Brief gar nicht für dich war?«

»Vielleicht ist es aber auch der Absender«, überlegte Nic weiter.

»Das könnte auch sein.« Sie schwiegen für ein paar Augenblicke.

»Aber jetzt habe ich Angst, dass es am Ende doch Garrett war, der mir den Brief geschickt hat«, flüsterte Nic.

Plötzlich ging die Haustür auf und Amy kam heraus. Alexander wich ein Stück zurück.

»Hallo, ich habe euch drinnen gehört«, begann Amy. »Ich kenne Andrew Fontaine.«

Alexander sah von Amy zu Nic. Stocksteif stand sie da und starrte Amy an. Dann wanderte ihr Blick langsam zu ihm hinüber. In ihren Augen erkannte er deutlich die Frage, wer Amy war und warum sie sich in seinem Haus aufhielt.

»Das ist Amy«, erklärte Alexander unbehaglich und deutete hilflos auf sie.

Beide Frauen sahen ihn an. »Sie wohnt hier mit mir.«

Nics Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Aha.«

»Ja.« Was sollte er dazu noch sagen? Gab es etwas, das er sagen konnte? Es ging Nic nicht das Geringste an, mit wem er zusammenwohnte.

»Er ist tot«, sagte Amy. Gut, diese Worte hätte er jetzt nicht gewählt, um die Stimmung aufzulockern.

Nic kniff die Augen zusammen. »Wer war er denn?«

»Er war vor ein paar Jahren Seemann auf Saos Schiff.«

»Sao?«

An dieser Stelle fiel Alexander wieder auf, wie weit Nic von allem entfernt wohnte. Sie war nie in der Stadt, darum kannte sie auch die Freibeuter und ihre Kapitäne nicht.

»Chi Yi Sao. Ein Kapitän.«

»Ach ja.« Nic winkte ab. »Diese Kerle, die hinaus aufs Meer fahren, um anderen ihr Hab und Gut zu stehlen.«

»Hey, sie sind Helden. Sie riskieren jeden Tag ihr Leben, um uns hier zu versorgen. Was glaubst du denn, wo dein Essen jeden Tag herkommt?«

»Inzwischen kommt es aus meinem Garten«, erwiderte Nic ruhig. »Aber dieser Sao … Fontaine hat also auf seinem Schiff gearbeitet?«

»Ja, viele Jahre lang. Er war recht ungeschickt für einen Seemann, deswegen war er ein häufiger Gast auf der Krankenstation. Dort arbeite ich«, fügte Amy mit einem Blick auf die verwirrt dreinschauende Nic hinzu. »Irgendwann hat ihm ein Tau den Hals aufgerissen. Er ist verblutet. Das ist bestimmt schon fünf Jahre her.«

»Wieso sollte ihm dann jemand einen Brief schicken? Nach so langer Zeit?«

»Verstehst du es denn nicht?« Amys Wangen glühten rot.

»Was soll ich denn daran verstehen?«

»Er war es. Der Fliegende Holländer, er sucht uns heim.« Amys Stimme war nur noch ein Flüstern, als befürchtete sie, den Mann anzulocken, wenn sie zu laut redete.

»Wer?«

»Der Fliegende Holländer. Den müsst ihr doch kennen.«

Alexander und Nic schüttelten synchron die Köpfe. Den Namen hatte Alexander noch nie gehört, daran würde er sich erinnern.

»Seine Mannschaft besteht aus Toten, ertrunkene Seeleute, und er kann sein Schiff nicht verlassen. Es hat blutrote Segel und ist pechschwarz …«

»Es ist also ein Mann aus einer Geschichte?«

»Es ist mehr als nur eine Geschichte. Er existiert wirklich. Und er sucht die Lebenden heim. Er schickt Briefe. Briefe, die an Menschen gerichtet sind, die längst tot sind. Es ist das Zeichen dafür, dass er kommt.«

»Warum sollte er kommen?« Nic zog die Augenbrauen so weit hoch, dass sie unter ihren Haaren verschwanden. »Versteh mich nicht falsch … Aber das klingt verdächtig nach einem Märchen.«

»Alles, was ich sage, stimmt.«

»Hast du ihn schon mal gesehen?«

»Nein, aber …«

»Hat irgendjemand ihn mal gesehen?«

»Ja, aber alle, die ihn gesehen haben, sind gestorben.«

»Sie sind gestorben, weil sie den Fliegenden Holländer gesehen haben?« In Nics Stimme schwang eine gehörige Portion Skepsis mit.

»Ja!«

»Und woher wisst ihr dann, dass das Schiff blutrote Segel hat? Wer konnte denn davon berichten, wenn alle, die es gesehen haben, gestorben sind?«

»Ich … ich weiß es nicht, aber es stimmt, glaubt mir!«

»Das klingt für mich ganz nach einer erfundenen Geschichte«, erwiderte Nic achselzuckend.

»Du musst den Brief verbrennen oder ihn an einen Mast nageln, sonst geschieht etwas Furchtbares.«

Nic warf Alexander einen fragenden Blick zu.

»Amy? Warum sollte sie das tun?«

»Weil sonst ein Unglück geschieht. Niemand darf die Briefe einfach ignorieren.« Sie holte tief Luft. »Deswegen sind schon Schiffe untergegangen.«

»Dann ist es ja gut, dass ich nicht zur See fahre.« Nic schmunzelte.

»Findest du das lustig? Wer weiß, was dir passiert. Vielleicht fällst du einfach tot um, vielleicht brennt dein Haus nieder – ich weiß es doch auch nicht!«

Alexander bekam ein ungutes Gefühl. Konnte es sein, dass Amy Nic drohte? Ahnte sie vielleicht etwas davon, wie vertraut sie einander wirklich waren? Er hatte ihr zwar erzählt, dass sie gemeinsam aus Biota geflohen waren und in Narau und Theben gelandet waren, doch er hatte nie auch nur ein Wort darüber verloren, dass mehr als das zwischen ihnen vorgefallen war. Doch Amy war nicht dumm. Sie hatte offenbar an der Tür gelauscht und ihr Gespräch gehört. Hatten sie darin etwas über ihre Beziehung zueinander gesagt? Er war sich nicht sicher.

»Amy, hör mal, du musst zugeben, das klingt ziemlich verrückt …«, begann Nic, doch Amy unterbrach sie sofort.

»Verrückt? Du hältst mich also für verrückt?«

»Nein, ich meinte nur, dass diese Geschichte doch sehr weit hergeholt klingt. Und noch dazu sind die Details einfach nicht stimmig. Es gibt Augenzeugenberichte – aber eigentlich ist jeder, der das Schiff gesehen hat, tot. Wie passt das zusammen?«

Nic klang wieder wie die Wissenschaftlerin, die sie ja eigentlich auch war. Und insgeheim stimmte Alexander ihr zu. Da er sich jedoch nicht Amys Zorn zuziehen wollte, schwieg er und verfolgte stumm das Gespräch.

»Es mag nicht alles passen, aber ich weiß, was ich weiß. Hier in der Stadt weiß jeder Bescheid über den Fliegenden Holländer, fragt doch die anderen.«

»Ich glaube, das ist nicht nötig.« Nic seufzte. »Gibt es vielleicht noch eine andere Erklärung für die Briefe? Etwas, das nicht mit dem Fliegenden Holländer zu tun hat?«

Langsam konnte Alexander den Namen nicht mehr hören. Noch dazu war es ihm unangenehm, dass Nic Amy ausgerechnet so kennenlernen musste. Sie musste nur das Schlechteste von ihr denken – und damit vermutlich auch von ihm. Es sollte ihn nicht stören, aber das tat es.

»Er ist verhext, wisst ihr«, platzte Amy heraus, als wäre diese Nachricht ein unschlagbares Argument dafür, dass der besagte Seemann Nic den Brief geschickt hatte. »Er kann sein Schiff nur alle fünfzehn Jahre für eine Stunde verlassen. Seine Mannschaft besteht aus ertrunkenen Seeleuten. Und nur die tiefe und echte Liebe einer Frau kann ihn erlösen. Ist das nicht romantisch?«

»Romantisch?« Nic verzog das Gesicht. »Du findest es romantisch, dass sich eine Frau in einen Psychopathen verlieben soll, der unschuldige Menschen tötet und Seeleuten ihre letzte Ruhe verwehrt und sie stattdessen versklavt? Meine Vorstellung von Romantik wäre ein wenig anders.«

»Nein, natürlich nicht.« Amy hob abwehrend die Hände. »Aber das Einzige, das ihn erlösen kann, ist die wahre Liebe. Das gefällt mir.«

»Trotzdem erklärt das alles nicht, wie der Brief zu Nic gelangt ist. Und warum überhaupt zu ihr. Sie hat das Schiff, sofern es existiert, schließlich nicht gesehen.«

»Sofern es existiert? Du glaubst mir also auch nicht?« Amy verschränkte die Arme vor der Brust.

»Na ja … Mir gefällt es, die Dinge mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ich vertraue ungern auf bloßes Hörensagen.«

Nic nickte bestätigend. Alexander wünschte sich, sie würde damit aufhören. Schlimm genug, dass er nicht hinter Amy stand, was dieses Thema anging, aber nun sah es so aus, als stellte er sich auf Nics Seite. Auch wenn er der Meinung war, dass es hier eigentlich gar keine Seiten gab. Und wenn doch … Nun, dann hätte er tatsächlich auf Nics gestanden.

»Gut, ihr wollt mir nicht glauben, damit muss ich leben. Ist auch nicht wirklich überraschend, ihr seid Fremde und die Skepsis ist euch förmlich eingetrichtert worden, wie ich von Alexander gehört habe.«

Nur hatte sich diese Skepsis auf Wissenschaft bezogen, nicht auf ihre eigenen Oberen. Aber das war ein anderes Thema.

»Aber wäre es dann ein Problem, den Brief einfach zu verbrennen? Es schadet doch nicht, ganz im Gegenteil. Wenn ich doch recht habe, dann rettet es dir das Leben. Falls es nicht stimmt, hast du ein wertloses Stück Papier verbrannt.«

Nic schien zu überlegen. »Gut, das könnte ich vielleicht tatsächlich machen.«

»Dann tu es jetzt gleich, ich hole ein Zündholz.« Amy hatte sich schon halb umgedreht, als Nic wieder das Wort ergriff: »Ich möchte gerne selbst bestimmen, wann ich es tue. Aber vielen Dank.« Ihre Worte waren freundlich, aber bestimmt. Genau der richtige Tonfall für eine Botania. Nur dass sie nicht mehr in Biota waren. Doch überraschenderweise hatten die Worte auch einen positiven Effekt auf Amy.

»Natürlich, kein Problem.« Sie lächelte Nic sogar an.

Alexander fiel wieder etwas ein. Etwas, das er noch gern mit Nic besprechen würde.

»Amy?«

»Ja?«

»Könntest du uns noch mal für ein paar Minuten allein lassen?«

Amy sah ihn mit großen Augen an, als erwartete sie eine weitere Erklärung. Als er ihr keine lieferte, zuckte sie mit den Schultern. »Kein Problem.« Sie verschwand im Haus und schlug die Tür deutlich stärker ins Schloss, als sie es hätte tun müssen.

»Was möchtest du mit mir besprechen?«, fragte Nic und lehnte sich gegen das Geländer der Veranda.

»Heute Nachmittag, als ich dich gesehen habe, was hast du da getan? Warum warst du bei der Alcalde?«

»Ich habe sie nur nach dem Brief gefragt. Also danach, wer die Briefe zustellt, weil ich mich gewundert habe, dass ich in meiner Hütte, die ja doch sehr versteckt im Wald liegt, Post bekommen habe.« Sie stellte sich gerade hin. »Ich war in meinem Garten, und als ich zurückkam, lag dieser Brief direkt vor meiner Haustür.«

»Und?«

»Sie meinte, für mein Haus wäre niemand zuständig, ich müsste mir meine Post beim Hafenmeister abholen. Vermutlich hätte jemand diesen Brief selbst bei mir abgelegt.«

»Hast du ihr den Inhalt gezeigt?«

»Nein, warum sollte ich?«

»Vielleicht hätte sie dir etwas über den Schreiber sagen können. Oder wer Andrew Fontaine ist.«

»Nun, das wissen wir jetzt zumindest. Er war ein Seemann auf Saos Schiff. Er war ungeschickt, er ist gestorben.«

»Beunruhigt es dich wirklich gar nicht, dass der Brief, der an einen Toten adressiert ist, vor deiner Tür abgelegt wurde?«

»Eigentlich nicht.«

Alexander wunderte sich über Nic. Es war ein wenig so, als würde sie sich für nichts mehr interessieren. Damals in Biota war sie so neugierig auf alles gewesen. Sie hatte alles wissen und erforschen wollen. Sie hatte Gerechtigkeit für jeden gewollt. Die Erfahrungen der letzten Zeit schienen ihr diese guten Eigenschaften ausgetrieben zu haben. Oder sie waren immer nur Fassade gewesen, ein Schauspiel für ihn, den leichtgläubigen Hüter.

»Willst du weitere Nachforschungen anstellen?«

»Wieso? Ich weiß doch jetzt alles. Ich vermute, der Brief ist nur versehentlich bei mir gelandet. Und fertig. Mach nicht mehr daraus, als es ist.«

»Warum bist du dann hergekommen?«

Das war die Frage, die ihm schon auf der Seele brannte, seit er vor ein paar Minuten die Tür geöffnet hatte. Er senkte die Stimme. »Versteh mich nicht falsch: Glaubst du wirklich, das bringt uns irgendwie weiter? Es gab keinen Kontakt mehr zwischen uns. Warum bist du jetzt hier?«

»Ich wollte nach dir sehen, schauen, ob es dir gut geht. Und ich wollte wissen, was du von dem Brief hältst. Hätte ja sein können, dass ich mich irre, und er doch mehr zu bedeuten hat. Dass es wirklich Garrett war, der ihn geschickt hat.«

Alexander sagte ihr nicht noch einmal, dass immer noch mehr dahinterstecken konnte. Sie kannte seine Meinung, aber hatte beschlossen, sie zu ignorieren.

»Mir geht es gut«, sagte Alexander steif.

»Das freut mich, wirklich«, flüsterte Nic. »Ich wollte dich nicht hintergehen. Ich habe es als Experiment begonnen, aber …«

»Schon gut«, unterbrach Alexander Nic barsch. Er wollte keine weiteren Lügen von ihr hören. Er hatte damit abgeschlossen. Ihm gefiel sein jetziges Leben. Ein Leben, in dem Nic keinen Platz mehr hatte.

Alexander überlegte, ob er ihr von Saos Brief erzählen sollte. Das Gefühl, dass es ebenfalls ein Brief gewesen war, war inzwischen fast zur Gewissheit geworden. Aber etwas hielt ihn davon ab. Dabei wollte er Nic vertrauen, wollte, dass alles so war wie früher. Es ging einfach nicht. Eine ganze Welt schien zwischen ihnen zu stehen.

»Liebst du sie?« Die Frage war leise gewesen, kaum zu hören. Nic sah ihm tief in die Augen.

»Amy?« Er wusste genau, wen sie meinte, aber er brauchte mehr Zeit, um die Frage beantworten zu können. Er hoffte, dass Amy nicht wieder an der Tür lauschte.

»Ich glaube, ich könnte es eines Tages. Sie ist ein guter Mensch.«

Nur für eine Sekunde schloss Nic die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick klar und kühl.

»Ich werde dann jetzt gehen. Du kannst Amy ausrichten, dass ich den Brief vernichten werden, ganz so, wie sie es gesagt hat.« Spott klang aus ihren Worten.

»Sie ist nicht dumm, Nic. Es ist nur auf dieser Insel so, dass … Man glaubt an Dinge, auch wenn man sie nicht sehen kann.«

»Ja, das ist mir schon aufgefallen. Aber genau das ist doch Dummheit, oder nicht?« Sie hob die Arme. »Blind an etwas zu glauben?«

Alexander fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die er inzwischen ein wenig länger trug als zu seiner Zeit als Hüter. Ihm gefiel es so besser.

»Ich muss wieder rein«, sagte er, weil er keine Antwort auf ihre Frage wusste.

»Ja, geh ruhig. Ich muss zurück zum Labor.«

Labor. Wie es dort wohl aussehen mochte? Und was erforschte sie dort eigentlich? Ohne die modernen Methoden und Geräte aus Biota musste ihre Forschung weit zurückgeworfen worden sein. Keine Mikroskope, keine Möglichkeiten zur Genmanipulation, keine optimierten Aufzuchtbedingungen. Aber als Botania hatte sie immerhin gute Chancen, ihr Essen selbst zu produzieren.

»Wir sehen uns.« Vermutlich eher später als früher.

»Ja, wir sehen uns, Alex. Bis dann.«

Nach ein paar Schritten verschluckte sie die Dunkelheit.

Alexander blieb noch einige Augenblicke draußen stehen. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. Nic wiederzusehen, hatte etwas in ihm aufgewühlt, das vier Monate lang ruhig gewesen war, ähnlich einem See, der nach dem ruhigen Winter durch die Stürme des Frühlings durcheinander gewirbelt wird.

Stadt der See

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