Читать книгу Siana - Jasmin Windfeder - Страница 9
ОглавлениеKapitel 3
Montag
Am nächsten Morgen wache ich mit leichten Kopfschmerzen auf. Ich werfe einen Blick auf den Wecker: 8.45 Uhr. Gähnend strecke ich mich, bevor ich mich an den Bettrand bequeme und verschlafen im Zimmer umsehe. Außer mein großes Bett, einen Kleiderschrank und den Stuhl, auf dem ich die getragenen Kleider ablege, befindet sich nichts im Raum. Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer, das am Schlafzimmer angrenzt. Nachdem ich mich frisch gemacht habe, schlurfe ich in die Küche, die gegenüber dem Bad liegt, und schalte die Kaffeemaschine an. Während der Kaffee langsam in die Tasse läuft, stapfe ich zurück ins Bad und hole eine Kopfschmerztablette aus dem Spiegelschrank. Zurück in der Küche duftet es bereits nach dem wohltuenden Nass, wobei ich die Tablette mit einigen großen Schlucken aus der Wasserflasche herunterspüle.
Ich bin erleichtert, dass gestern Abend Richard kurz vorbei geschaut hat, und Bescheid gab, dass ich mir heute freinehmen kann. Ich musste ihm allerdings versprechen, mich auszuruhen. Zwar weigerte ich mich erst, weil ich schließlich River trainieren muss, doch bei Richard ist jede Widerrede zwecklos.
Mit der Tasse in der Hand marschiere ich in mein Wohnzimmer, schalte den Fernseher ein und mache es mir auf der Couch gemütlich. Das ist das einzige Möbelstück, nebst dem kleinen Tisch, auf dem das Elektrogerät steht.
In dieser Hinsicht bin ich froh, dass mich meine Eltern nie besucht haben: Sie würde meine spärlich möblierte Wohnung nicht verstehen. Gerade für Mum muss es einen gewissen Standard haben, damit sie sich wohlfühlen kann. Das habe ich nie verstanden. Was bringt mir eine vollgestellte Wohnung, wenn ich die meiste Zeit im Stall verbringe und mich nur zum Schlafen und Essen in meinen Räumen aufhalte?
***
Zur Mittagszeit und zwei weiteren Tassen Kaffee gehe ich raus in den Stall. Auch wenn Richard etwas anderes von mir erwartet, so halte ich es in der Wohnung nicht mehr länger aus. Ich kann nicht auf der faulen Haut liegen und Däumchen drehen. Seit ich auf der Ranch lebe, bin ich nur noch die Arbeit gewohnt und nehme höchstens alle paar Wochen ein ganzes Wochenende frei, damit ich zu meiner Familie fahren kann.
»Müsstest du dich nicht ausruhen?«, höre ich Richard prompt knurren, der soeben aus dem Stall kommt, während ich rein will.
»Mir fällt die Decke auf den Kopf«, antworte ich unschuldig lächelnd.
»Nach ein paar Stunden?« Er betrachtet mich skeptisch.
»Und ich habe noch einige Arbeiten zu erledigen«, sage ich, dabei will an ihm vorbeigehen.
»Moment Siana!« Er hält mich am Arm fest. »Du gehst nicht in den Stall. Von mir aus kannst du dich draußen auf die Bank setzen, aber du wirst heute keinen Finger krumm machen, klar?«
»Aber -«
»Keine Widerrede! Du ruhst dich heute aus, um morgen fit zu sein.« Seine Miene wird derart finster, dass ich den Mund schließe, der sich für ein paar Argumente geöffnet hatte.
Resignierend gebe ich auf, schlendere zur Aufstiegshilfen-Bank und setze mich artig hin. Ich höre dem Vogelgezwitscher zu, die in den naheliegenden Bäumen hausen. Vielleicht ist ein freier Tag gar nicht verkehrt.
Es dauert nicht lange und meine Lider werden schwer, bis sie schlussendlich zufallen.
***
Lärm ertönt. Ich reiße die Augen auf und brauche Sekunden, um zu realisieren, dass ich auf der Bank eingeschlafen bin. Ich erhebe mich, strecke die verspannten Glieder durch. Das nächste Mal gehe ich lieber auf die Couch oder ins Bett, um zu schlafen.
Erneut ertönt Lärm. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er aus der Halle dringt, zu der ich mich nun an die Außentür schleiche. Vorsichtig luge ich durch den Spalt, den ich geschaffen habe, und sehe schnell, den Lärmverursacher.
Richard hat auf dem Hufschlag drei Hindernisse aufgestellt, an der Seite mit Banden abgesperrt, damit es eine Gasse bildet, und lässt River Freispringen. Doch jedes Hindernis, sogar das niedrigste, reißt sie herunter. Kaum ist sie über das Höchste drüber, das ebenfalls nicht wirklich hoch ist, bockt sie einige Male hintereinander, als würde sie etwas abschütteln wollen. Richard hängt unterdessen die Stangen wieder ein. Danach treibt er sie mit einer Peitsche an, damit sie nochmals im Galopp durch diese Gasse galoppieren muss, doch erneut ist es dasselbe Spiel. Sie reißt alles zu Boden, um danach den Hintern in die Luft zu werfen.
Irgendetwas scheint mit dieser Stute nicht zu stimmen. Sie lässt sich nicht longieren, springt mieser als ein Anfängerpferd und bockt andauernd. Womöglich sollte ich erst mit Phelan sprechen, ehe ich mich morgen in den Sattel schwinge. Noch einen Sturz möchte ich diese Woche nicht erleben.
»Was tust du da?«, flüstert plötzlich eine Stimme in mein Ohr.
Ich erschrecke mich so sehr, dass ich aus Reflex die Tür zuziehe, die mit einem lauten Knall ins Schloss fällt. Aus der Halle hört man einen wütenden Richard etwas schimpfen.
»Spinnst du, Kay?«, zische ich gedämpft und lege eine Hand auf die linke Brust, in der das Herz laut pocht. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, ob er noch alle Tassen im Schrank hat.
»Sorry, wusste nicht, dass du schreckhaft bist.« Er schaut mir entschuldigend ins Gesicht und zieht dabei die Schultern hoch.
»Du hättest dich wenigstens bemerkbar machen können«, murmle ich ruhiger und versuche, bei Verstand zu bleiben, was sich als Herausforderung entpuppt.
»Es tut mir leid«, raunt er, streicht mir dabei über die Wange.
Ohne es wirklich zu wollen, schmiege ich mich an seine Hand. Was hat der Typ nur an sich, dass ich jeglichen Verstand verliere, kaum bin ich in seiner Nähe? Seitdem er auf dem Hof aufgetaucht ist, ist mein Leben irgendwie komplizierter geworden.
»Hast du mich vermisst?«, flüstert er und ohne auf meine Antwort abzuwarten, drückt er frech die Lippen auf meine. Die Berührung ist sanft, sodass meine Knie augenblicklich zu Pudding werden.
»Du gehst mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf, als hättest du mich mit einem Zauber belegt.« Er lacht auf, bevor er mir noch einen Kuss gibt.
»Und was ist mit Kathleen?«, will ich frei heraus wissen, was bewirkt, dass er mich mit hochgezogenen Brauen überrascht anstarrt.
»Was soll mit ihr sein?«
»Gestern in der Reiterstube sah es so aus, als seid ihr ein Paar.«
Er schweigt. Täuscht es mich, oder fühlt er sich ertappt? Er öffnet den Mund, will etwas sagen, doch dann hören wir Richards Stimme im Stall, die nicht gerade freundlich klingt.
›Shit! Wenn der uns hier vor der Hallentür sieht, wird er eins und eins zusammen rechnen können. Das kann nur ein Donnerwetter geben.‹
»Am besten, wir verschwinden von hier«, sage ich leise zu Kay, packe ihn am Arm und ziehe ihn mit mir. Wohin sollen wir?
Plötzlich übernimmt Kay die Führung und eilt mit mir in Richtung Reiterstube. Als wir dort ankommen, schließt er lachend hinter uns die Tür, während ich mich mit schnell pochendem Herzen auf dem ersten Stuhl niederlasse. Obwohl ich es gewohnt bin, von Richard zurechtgewiesen zu werden, hatte ich soeben Bammel, dass er uns erwischen könnte. Er hasst es, wenn man Lärm macht, während er in der Halle ist. Einen darauffolgenden Anschiss habe ich bis jetzt nur einmal miterlebt, als eine Reitschülerin die Hallentür zuknallte, nachdem sie wütend aus der Halle gestampft war. Richard hatte man bis zum Waldrand gehört, so erzählten es mir Reitschüler, die soeben auf dem Heimritt waren. Die Nervensäge, wie Richard sie genannt hatte, habe ich danach nie wieder hier gesehen. Seit diesem Zeitpunkt habe ich deutlich aufgepasst, wie ich die Tür schließe.
»Freut mich, dass du es amüsant findest«, knurre ich.
»Ach, komm schon! Es ist doch lustig, wie wir gerade vor meinem Vater davon gerannt sind. Wie zwei Lausbuben, während eines Klingelstreichs.« Kay prustet los und bei seinem Anblick muss ich automatisch ebenfalls grinsen.
Nachdem er sich wieder beruhigt hat, kommt er zu mir und will soeben setzen, als die Tür geöffnet wird. Erstarrt sehe ich zum Eingang. Hat Richard herausgefunden, dass ich die Schuldige bin? Eine Frauenstimme erklingt jedoch, die jemandem etwas zuruft, deshalb entspanne ich mich.
›Glück gehabt.‹
Hörbar atme ich aus. Vor Schreck hatte ich die Luft angehalten, was ich nun bemerke. Gleichzeitig verdrehe ich die Augen, während mir bewusst wird, dass die Stimme zu Kathleen gehört.
›Muss die echt jeden Tag hier aufkreuzen?‹
»Kay«, bringt sie freudig heraus, stürmt auf ihn zu und schlingt die Arme um seine Taille.
Mit verengten Augen beobachte ich das Szenario. Als Kays Blick meinen kreuzt, sieht er mich entschuldigend an, macht aber keine Anstalten, sich aus der Umarmung zu lösen. Mir stockt der Atem, als er stattdessen einen Arm um sie legt und Kathleen leicht an sich drückt. Ich versuche, mich zu beruhigen, indem ich mir einrede, dass sie nur eine gute Freundin ist und die beiden sich nun einmal schon lange kennen. Dadurch ist es ihm nicht aufgefallen, dass sie auf ihn steht, obwohl das ein Blinder erkennt. Oder aber, er spielt mir etwas vor.
Genervt von der Szene erhebe ich mich, beachte die beiden nicht weiter und stapfe aus dem Raum. Draußen atme ich hastig durch. Wie kann mir Kay was vormachen? Erst küsst er mich, um dann keine fünf Minuten später eine andere im Arm zu halten!
In der Hoffnung, dass ich mich täusche, sehe ich zur Tür, doch sie bleibt verschlossen. Stampfend mache ich mich auf in Richtung meiner Wohnung, doch auf dem Weg begegnet mir Phelan.
›Der hat mir gerade noch gefehlt!‹
»Wie lief es heute mit River?«, fragt er, wobei er mich wenigsten zuvor hätte begrüßen können.
Ohne anzuhalten, antworte ich nur:
»Keine Ahnung, habe heute frei!« Ihm keine weitere Aufmerksamkeit schenkend, marschiere ich in meine Wohnung und bleibe erst stehen, nachdem die Tür ins Schloss fällt.
Wie konnte ich mich nur von einem Typ küssen lassen, den ich vor drei Tagen nicht einmal gekannt habe? Entweder ist der Schlafmangel schuld oder ich habe zu viel Pferdemist inhaliert!
Wütend auf mich selbst, werfe ich meine Schuhe in eine Ecke und stiefle in die Küche. Ich brauche einen starken Kaffee, um das zu überleben. Mit dem heißen Getränk ziehe ich mich ins Wohnzimmer zurück, werfe mich auf die Couch und starre den schwarzen Bildschirm vom Fernseher an.
Wie konnte es nur soweit kommen? Ich hätte doch aus meinen Fehlern lernen sollen, nachdem mich Scott vor der ganzen Schulklasse blamiert hatte, nur weil ich auf ihn reinfiel! Immerhin stand ich damals auf den heißesten Typ der Schule, der zudem einer der besten Surfer Sydneys gewesen war. Leider fand er heraus, dass ich auf ihn stand und ich war natürlich überglücklich, als er mich sah. Während der Dates, die wir hatten, schwebte ich jedes Mal auf Wolke 7 und, als er mich bei der vierten Verabredung am Strand küsste, war jeglicher Verstand aus meinem Kopf radiert. Ich könnte noch heute schwören, dass ich beim Küssen Herzchen um mich herumschwirren sah.
Ich seufze, trinke einen Schluck aus meiner Tasse, bevor mich die Gedanken erneut zu dem Erlebten damals tragen. Das Glück mit Scott dauerte genau zehn Minuten. Während wir knutschten, konnte er seine Hände nicht bei sich behalten und wollte mehr. Da es jedoch mein erster Kuss war, den ich erlebte, ließ ich ihn danach überfordert sitzen.
In der Hoffnung, dass ich am nächsten Tag mit ihm reden könnte und meine Situation klären, ging ich guten Mutes zur Schule. Ich dachte tatsächlich, dass man sich mit ihm unterhalten kann. Dort erwartete mich allerdings eine böse Überraschung. Kaum traf ich im Klassenzimmer ein, applaudierten die Jungs, während mir die Mädels böse Blicke zuwarfen. Es stellte sich schnell heraus, dass Scott in der Schule rumerzählt hatte, dass am Vorabend mehr gelaufen wäre, als knutschen und es eine Jungfrau weniger an der Schule geben würde. Für mich brach eine Welt zusammen. Geschockt, enttäuscht, traurig und wütend zugleich, rannte ich nachhause, weg von Scott, fort von diesem Gerücht. Tagelang stellte ich mich krank, um nicht in die Schule zu müssen, bis Nicola, meine damalige beste und einzige Freundin, meinte, ich wäre ein alter Hut, und man hätte ein neues Lästerthema gefunden.
Ich nippe nochmals an der Tasse. Seit Scott habe ich keinen Typ mehr in meine Nähe gelassen ... bis Kay kam. Ich verstehe nur nicht, warum ich so schnell schwach wurde.
Die mittlerweile geleerte Tasse stelle ich auf den Boden neben die Couch. Ich sollte vermutlich doch einen kleinen Tisch oder Ähnliches kaufen, damit ich nicht immer alles auf dem Boden aufreihen muss. Gedankenversunken lehne ich mich zurück und, obwohl ich soeben einen starken Muntermacher getrunken habe, merke ich, wie mir die Augen zufallen.
***
Ein lautes Klopfen lässt mich aufschrecken. Ich blinzle ein paar Mal, um klar sehen zu können, und erhebe mich schwerfällig. Es scheint, ich habe einen größeren Schlafmangel, als ich bis jetzt angenommen habe. Womöglich sollte ich doch mal über einen Urlaub nachdenken. Aber erst nach dem abgeschlossenen Training mit River, wenn wir sie überhaupt so weit bringen. Sarkastisch lache ich auf, ehe es erneut klopft.
›Es war also kein Traum!‹
Ich schlurfe zur Tür und öffne, will sie jedoch gleich wieder zuwerfen, als ich sehe, wer davor wartet.
»Siana, bitte lass uns reden.« Kay drückt die Tür auf, was ich nicht verhindert bekomme.
»Über was?«, sage ich ruhig, ziehe dabei beide Brauen nach oben.
Die Ahnungslose zu spielen ist vielleicht nicht die beste Lösung, aber für mich gerade die naheliegendste.
»Zum Beispiel, warum du einfach abgehauen bist?«
›Vielleicht, weil du eine fremde Frau im Arm gehalten hast?‹, denke ich und würde es ihm gerne an den Kopf werfen. Stattdessen brumme ich:
»Hatte Kopfschmerzen und wollte ein Nickerchen machen, aus dem du mich soeben aufgeweckt hast.«
Er sieht mich prüfend an.
»Phelan meinte, dass du angepisst warst.«
»Meine Güte, darf ich nicht einfach müde sein und mich hinlegen wollen?«, blaffe ich ihn an, ohne es zu beabsichtigen.
»Müde? Eben waren es noch Kopfschmerzen.«
›Shit!‹ Genau das ist einer der Gründe, warum ich es hasse zu lügen – ich kann es nämlich nicht.
»Ähm ...«
»Was ist der wirkliche Grund?« Seine Stimme nimmt einen wärmeren Tonfall an, als sonst, und er sieht mir direkt in die Augen.
Statt eine Antwort zu geben, zucke ich nur mit den Schultern.
»War es etwa wegen Kathleen?«, gräbt er weiter.
»Der Kandidat hat hundert Punkte!«, knurre ich, obwohl es in meinen Ohren eher nach einem Krächzen klingt.
Er lacht, macht einige Schritte auf mich zu und nimmt auf einmal mein Gesicht in die Hände. Ich bin so perplex, dass ich es einfach geschehen lasse.
»Du bist eifersüchtig«, raunt er, dabei streift sein Atem mein Gesicht und hinterlässt ein angenehmes Prickeln.
Kaum sichtbar schüttle ich den Kopf.
»Doch, aber ich finde es süß.« Diesmal haucht er die Worte nur noch knapp vor meinen Lippen.
Das Prickeln, das sich eben nur in meinem Gesicht befand, breitet sich über dem ganzen Körper aus und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich seine Lippen spüren kann. Als könnte er Gedanken lesen, legt er in diesem Moment die Lippen sanft auf meine.
»Kathleen ist nur eine gute Freundin«, raunt er, nachdem er den Kuss viel zu früh hat ausklingen lassen.
Zwar kann ich es nicht wirklich glauben, dass sie nur eine Freundin sein soll, aber sein Kuss hat mir die Sinne so benebelt, dass es mir in diesem Moment schlichtweg egal ist. Ungefragt kommt er in die Wohnung.
»Ich kenne sie schon ihr Leben lang, denn wir sind zusammen aufgewachsen«, meint er, während er sich umsieht und danach im Wohnzimmer auf der Couch Platz nimmt.
Ich setze mich auf den freien Platz neben ihm.
»Ich liebe sie, das stimmt, aber eher wie eine Schwester und nicht wie eine Freundin.« Er sieht mir in die Augen, dabei streicht er mir zärtlich mit dem Daumen über die Wange. »Sie und Phelan bedeuten mir viel.«
Ich ergreife seine Hand, ziehe sie von der Wange, lasse sie aber nicht los.
»Wie ist es eigentlich, in einer anderen Familie aufzuwachsen?«, frage ich leise, fast schüchtern, aus Angst einen wunden Punkt zu erwischen.
Liebevoll streicht er mit dem Daumen über meinen Handrücken, was ein kribbelndes Gefühl hinterlässt.
»Ich kenne es nicht anders. Veronika und Jörg, also meine Adoptiveltern, waren von Anfang an ehrlich und erzählten mir, dass ich adoptiert bin. Trotzdem behandelten sie mich wie ihren eigenen Sohn. Ich wollte Richard nur kennenlernen, um zu wissen, wo meine Wurzeln liegen.«
Kay zieht mich etwas näher an sich und legt die Stirn an meine.
»Ich hatte Glück mit dieser Familie. Von einigen Freunden, die auch adoptiert wurden, hörte ich viel Schlimmes. Leider hat man außerdem mit den leiblichen Eltern ebenfalls nicht immer Glück.«
Ich nicke traurig und rutsche weg, um etwas Abstand zu gewinnen. Kay betrachtet mich bestürzt.
»Habe ich was Falsches gesagt?«
»Nein. Aber ich musste gerade an meine eigene Familie denken«, seufze ich leise und schlucke einen dicken Kloß herunter, der soeben entstanden ist.
»Was ist damit?«, will er mitfühlend wissen.
»Für Dad war ich immer die kleine Prinzessin, aber ...« Ich stocke. »Mit meiner Mutter hatte ich es nie wirklich gut. Bei ihr habe ich bis heute das Gefühl, nur geduldet, aber nicht geliebt zu werden.«
Ich senke den Blick zu Boden, doch er drückt mein Kinn sanft mit der anderen Hand nach oben, sodass ich ihm in die Augen schauen muss. Sie strahlen eine Wärme aus, die sofort mein Herz berührt.
»Vielleicht kann sie keine Liebe zeigen?«, fragt er vorsichtig.
»Doch, das kann sie. Bei Finn, meinem kleinen Bruder, schafft sie es. Bitte versteh mich nicht falsch. Ich liebe ihn und würde sofort alles stehen und liegen lassen, wenn etwas mit ihm wäre, aber zu sehen, dass er allein die mütterliche Liebe bekommt, die ich nie hatte, tut weh.«
Kay lässt meine Hand los und streichelt mein Gesicht. Verdutzt blicke ich ihn an, während mir erst jetzt bewusst wird, dass mir Tränen über die Wangen rollen.
»Hey. Alles gut. Komm her«, flüstert er, wobei er mich in seine Arme zieht.
Seine Berührung, das tröstende Streicheln auf dem Rücken, bewegt mich dazu, noch stärker zu weinen. Es scheint, als müsse der ganze Schmerz raus, der sich all die Jahre in mir aufgestaut hat.
Nach und nach beruhige ich mich erneut. Die Tränen versiegen, nur noch vereinzelte Schluchzer erschüttern meinen Körper.
»Es tut mir leid«, murmle ich an seiner Brust. Ein großer Fleck ist auf dem Shirt zu sehen.
»Muss dir nicht leidtun. Irgendwann muss der Schmerz halt raus.« Sanft drückt er mich von sich und betrachtet mich mit einem Lächeln.
Mit dem Handrücken wische ich mir über das Gesicht, dabei versuche ich ebenso zu lächeln.
»Du bist sogar verheult wunderschön.« Kay grinst, nimmt meine Hand in seine und küsst sie, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Meine Wangen werden warm und der Wunsch, seine Lippen nochmals zu spüren, wird stärker. Kurz beiße ich mir auf die Unterlippe. Ohne abzuwarten, ob er abermals den ersten Schritt macht, schnelle ich nach vorn und küsse ihn.
Sanft erwidert er diese Zärtlichkeit.