Читать книгу NANI und ihr Weg zurück ins Leben - Jasmina Marks - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеIhre Mutter, oder besser Adoptivmutter, hatte ihr schon von klein auf unmissverständlich klar gemacht, dass noch nicht einmal die Frau, die sie geboren hatte, sie hatte haben wollen. Sie würde wohl gewusst haben, warum. Sie sei das Kind einer Nutte und insofern solle sie doch froh sein, dass sie nun hier leben würde. Egal, ob man sie nun schlug oder einsperrte, es ging eben nicht anders mit so einem Kind!
Was ist eine Nutte? Auf jeden Fall war es nichts Gutes und es musste wohl etwas sein, das ganz schlimm war und deswegen musste man sich auch für sie schämen, weil sie halt da war ... Nein, als kleines Mädchen hatte sie mit diesen Worten rein gar nichts anfangen können und es half auch nicht, darüber nachzudenken. Sie war scheinbar etwas unerträgliches, nur weil sie da war.
Noch gut erinnerte sich Nani daran, wie sie in dem großen Flur in einer dunklen Ecke dasaß und auf eine hoch angebrachte Uhr schaute, auf der sie ablesen konnte, wann sie zur Schule gehen musste. Entstanden war das dadurch, dass der Rest der Familie vor ihr das Haus verließ. Alle anderen Türen waren verschlossen, bis auf eine, die Toilette. Und da saß sie nun, ganz alleine und es war kalt. Es war kalt von innen und von außen. Auf der Garderobe stand ein Teller mit zwei Scheiben Brot mit Wurst und zwei mit Marmelade und noch ein Brot in einer Dose, das sie mit zur Schule nehmen sollte, kein Stuhl, keine Decke, einfach nur die Fliesen des Treppenhauses und die Ablage für Schuhe an der Garderobe, auf der sie hockte.
Es waren viel zu viele Brote, sie konnte das alles nicht essen und wenn sie das Brot wieder mit nach Hause gebracht hatte, wurde sie bestraft. In ihrer Not wickelte sie die Brote in Toilettenpapier ein, weil sie ja nichts anderes hatte, um sie dann in der Schule in den Mülleimer zu werfen.
Als es eines Tages an der Tür klingelte, dachte sich Nani nichts Schlimmes dabei. Im Gegenteil, sie freute sich, weil es eine andere Mutter mit ihrer Tochter war. Das bedeutete nämlich, dass sie rauskommen durfte aus ihrer Verbannung, wenn unverhofft Besuch mit Kindern kam. Während sie zusammen spielten, fing sie plötzlich einen Gesprächsfetzen auf.
„Ja, ich wollte nur sagen, dass unserer Tochter erzählt hat, dass Nani immer ihre Brote in den Mülleimer wirft in der Schule.“
„Wie bitte? Die macht was? Wiederholen Sie das noch mal!
„Unsere Tochter erzählt, dass Nani ihr Essen jeden Tag wegschmeißt.“
„Fräulein, komm mal sofort hierhin!“
Schon da zitterten ihre Beine als sie zu ihrer Mutter ging.
„Was machst du? Na warte!“
Völlig überrascht hatte die andere Mutter ihr Kind genommen, noch vor sich hin geredet, also wenn sie das gewusst hätte, was jetzt käme, hätte sie das nicht erzählt und ging. Ja, hätte sie es man nicht erzählt, aber das nützte Nani nun auch nichts mehr. Was jetzt kam, war klar. Zunächst wurde sie heftig verprügelt. Es war ein Beweis dafür, wie undankbar sie war. Offensichtlich stets darauf bedacht, ihre Familie schlecht zu machen! Man unterstellte ihr die Absicht, vorgeben zu wollen, dass man ihr nicht genug zu essen geben würde. Die Konsequenz war, dass sie nun morgens neben ihrer Mutter sitzend die Brote essen musste. Das führte viele Jahre später dazu, dass sie gar nicht mehr frühstückte. Wobei das noch die geringste Folge war, der seelische Kummer lag weit tiefer!
Wenn sie nachmittags draußen spielen durfte, als sie noch kleiner war, durfte sie nicht wieder hinaus, wenn sie hinein kam, um zur Toilette zu gehen. Was also tat sie dann? Sie zögerte es so lange hinaus, bis sie sich in die Hose gemacht hatte. Allerdings war die darauffolgende Weisung ihrer Mutter so erniedrigend, dass sie noch heute, wenn sie daran dachte, nur den Kopf schütteln konnte: Egal, ob fremde Leute im Haus waren oder nicht, sie musste stets nach dem Toilettengang in das Zimmer kommen, vor allen Anwesenden die Hose herunterziehen als Beweis, dass sie nicht eingenässt hatte. Anschließend einen Eimer mit kaltem Wasser als auch Seife holen und sich dann die Hände waschen, weil sie ja sowie sonst nur gelogen hätte. Manchmal fing Nani einen mitleidigen Blick der Anwesenden auf. Aber es half nichts. Es machte die Sache nicht erträglicher für sie. Aber es war ein kleiner Lichtblick, der ihr zeigte, dass nicht nur sie die Situation schrecklich fand.
Überhaupt, sie log ja, wenn sie nur den Mund aufmachte. So war das eben, wenn man sich ein Kind aus fernen Ländern ins Haus holte. So blieb ja nichts anderes übrig, als sie ständig zu schlagen, damit sie mal endlich ein normales Kind werden würde!
„Wo warst du?“ Sie war auf dem Weg von der Schule total in Gedanken gewesen und hatte die Zeit vergessen.
„Ich habe dich gefragt, wo du warst.“
„Nirgendwo.“
„Lüg mich nicht an! Das kann nicht sein, du musst irgendwo noch gewesen sein. Wahrscheinlich bei anderen Leuten und hast dich beklagt, dass es dir so schlecht geht.“
„Nein!“
„Fräulein, ich weiß ganz genau, dass du lügst!“
„Mama, ich lüge nicht.“ Zack, die erste Ohrfeige.
„Was glaubst du, wer du bist? Ich lass mich doch nicht schlecht machen von dir vor anderen Leuten, du durchtriebenes kleines Miststück!“ Und das nächste Mal landete die Hand klatschend auf ihrer Wange. Übergehend in ein heftiges Schütteln: „Wo warst du, habe ich dich gefragt!“
„Ich bin nur nach Hause gegangen.“ schluchzte Nani.
„Nun reicht es mir aber mit dir!“ Und sie wurde zu Boden gerissen und ihr Körper von wahllos ausgeführten Schlägen getroffen.
„Bist du ein verlogenes Kind! Ich will jetzt sofort wissen, was du gemacht hast.“
Irgendwie gab es keinen Ausweg aus dieser Situation, bis Nani anfing, sich irgendetwas einfallen zu lassen.
„Ich bin noch an dem Haus stehen geblieben und hab mir die Blumen angeguckt. Und dann habe ich noch den Hund gesehen und ihn gestreichelt.“
„Mit wem hast du geredet?“
„Mit niemandem.“ Die nächste Ohrfeige traf sie.
„Willst du wohl endlich aufhören zu lügen! Ich bin schon ganz kaputt. Soweit treibst du mich, das ist unglaublich, was man sich von dir alles bieten lassen muss!“
„Ich hab noch den getroffen und wir haben nur kurz geredet.“ Jetzt war sie dabei, sich ernsthaft etwas auszudenken. Sie musste auf die Schnelle etwas erfinden, das stattgefunden haben könnte, was nicht verfänglich war und endlich dieses Theater beenden würde. Ein „ich habe getrödelt und die Zeit vergessen“, galt nicht. Wenn sie dann endlich eine halbwegs plausible Geschichte zusammen gereimt hatte, war deswegen noch lange nicht Schluss. Zumal das Trödeln an sich ja angenehmer war, konnte es doch die ganz sicher auf sie wartende Enge des Raumes mit der verschlossenen Tür noch etwas hinauszögern – es gab also durchaus einen Grund, länger für den Heimweg zu brauchen. Allerdings stellte sich in diesem Augenblick die Frage, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war … wohl eher nicht!
„Und warum muss ich das erst aus dir raus prügeln? Warum sagst du nicht sofort die Wahrheit?“ Nani wusste darauf nichts zu sagen. Schweigend stand sie da.
„Ich rede mit dir. Kannst du nicht antworten und guck mich gefälligst an dabei!“
Nani stand da und wagte nicht, sich zu rühren. Selbst atmen schien nicht erlaubt.
„Warum lügst du nur immer wieder. Was habe ich dir getan, dass du mich ständig anlügst. Zur Strafe gehst du jetzt in den Keller und wenn Papa nach Hause kommt, dann weißt du ja, was dir blüht!“ Ja, das wusste sie, das Gleiche nochmal. Noch einmal eine Tracht Prügel und wenn es richtig übel kam, auf den nackten Hintern.
Auch wenn Nani sich einerseits daran gewöhnt hatte, dass solche Angriffe tagtäglich stattfanden, so konnte sie ihre tiefe Verachtung für solches Verhalten bis heute nicht ablegen. Das, was in ihr tobte, wenn sie diese erheblich viel größeren und stärkeren Menschen mit vor unbändigem Zorn geröteten und verzerrten Gesichtern über sich sah und deren Hände unkontrolliert ihren kindlichen Körper malträtierten, war furchtbar. Wenn die Hose heruntergerissen wurde, nachdem es nicht mehr auszureichen schien, auf ihren Kopf einzuschlagen. Sie dabei grundsätzlich zu Boden ging und dann in ihre Oberschenkel gekniffen wurde, die übersät waren von blauen Flecken. Immer wieder hinein, in diese blauen Flecken, weil es besonders weht tat.
Damit es niemand sonst bemerken würde, zwang man sie, an den Tagen, an denen Sport in der Schule unterrichtet wurde, schon morgens in der langen Trainingshose aus dem Haus zu gehen. Auf diese Weise wurde das Umziehen in der Turnhalle umgangen, wo es hätte auffallen können.
Wie verstört ein Kind ist, dem so etwas widerfährt, konnte Nani bis heute gut nachvollziehen. Es ist total verwirrt ob der Eindrücke, die es nicht zuordnen kann. Und je öfter ihr so etwas geschehen war, umso mehr geriet sie im Innern durcheinander. Es war nicht zu begreifen und die Angst, was passiert, wenn die große Gestalt, die sich beim Prügeln fast schon im Wahn befand, mal den Endpunkt nicht finden würde, war stets präsent. Es ging nicht um die körperlichen Schmerzen allein. Das ständige „nicht sitzen“ können oder das Wahrnehmen der schmerzenden blauen Flecken sind nicht das, was so entsetzt.
Viel beängstigender und in unendliche Panik versetzend ist der Ausdruck der Augen, der einen trifft. Der Blick, der einen anstarrt, wenn sich die geballten Ladungen tobender Energien gewaltsam und zügellos über einem so kleinen und wehrlosen Kind ergießen. Die Ohnmacht des Ausgeliefertseins den nicht enden wollenden Schrecken überdeckt, ohne auch nur ansatzweise verstehen zu können, warum eigentlich.
Ein Blick, der schon fast dem Wahn verfallen ist. Der bloße Gedanke daran macht die Erinnerung an die unbändige Angst schlagartig spürbar, auch Jahre später noch. Eine Tracht Prügel, weil man Mist gebaut hat, war damit nicht zu vergleichen. Sondern der Schauder dieser Erlebnisse war auch als Erwachsene fest in Nani verankert, ohne dass sie sich als kleines Mädchen einer Schuld bewusst gewesen wäre. Aber auch das ließ sich irgendwann verarbeiten, mühsamen Schrittes und mit ganz viel Geduld, unendlicher Geduld mit sich selbst und dennoch stets mit Blickrichtung nach vorne. Inzwischen konnte ihr die bloße Erinnerung daran nichts mehr anhaben.
Da gab es aber noch mehr, was neben der vorherrschenden körperlichen Gewalt zu ihrem Alltag gehörte, nämlich Schäden durch seelische Grausamkeit. Beispielsweise, wenn sie zur Strafe, wofür auch immer, Gründe gab es da mehr als genug, im dunklen Keller unter die Treppe kriechen sollte. Man war in solchen Momenten gezwungen, ihr die Kleidung abzunehmen. Denn, durchtrieben wie sie ja war, was Außenstehenden gegenüber unermüdlich betont wurde, wäre sie ja unter Umständen auf die Idee gekommen, zu flüchten. Was sie zweifelsohne getan hätte, nur um über ihre Familie Lügen zu verbreiten dahingehend, dass man sie schlecht behandeln würde. Das war im Grunde reiner Selbstschutz, denn fast nackt würde sie wohl kaum den Versuch zur Flucht unternehmen! „Du zwingst mich ja dazu!“ war die Standardantwort, die sie bekam, ohne gefragt zu haben. Erst ausziehen und dann abtauchen ins Dunkle. So war es und sie war selber schuld daran!
Ein Zaudern konnte sie für lange Zeit nicht unterdrücken, wenn vor ihrem geistigen Auge jene Bilder auftauchten, in denen sie sonst noch im Finstern dastand, weil es ihr verboten war, sich zu setzen. Holte man sie dann ans Tageslicht zurück, durchgefroren und völlig versteift in ihren Gliedern, dann glaubte sie, eher ein Tier zu sein, ein Monster, das man verbergen musste und dem es nicht bestimmt war, in Frieden zu leben. Ohne Zweifel hatte es nichts Menschliches an sich, wenn man so seine gesamte Kindheit verbringen muss, ohne den Grund dafür zu verstehen. Und doch hatte es eines Tages keine Macht mehr über sie – war ein Teil der Vergangenheit, die vorbei war und zwar endgültig!
Nani kuschelte sich an ihre Tiere und erhob sich dann kopfschüttelnd. Der Regen hatte nicht nachgelassen, doch sie öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Nur wenig hatte sich der Himmel aufgehellt, es war fast dunkel geworden. In ein Regencape gehüllt beschloss sie aber trotzdem, erneut an den Strand zu gehen. In diesem Moment vermisste sie ihre Frau, die ja dem Himmel sei Dank bald wieder bei ihr sein würde.
Wie eigentlich immer, wenn diese Erinnerungen in ihr hochkamen, musste sie an die frische Luft, musste ihrem Unmut freien Lauf lassen, den sie manchmal noch spürte, obwohl schon so viele Jahre vergangen waren. Wobei Unmut es nicht wirklich traf. Vielmehr war es so etwas wie Aufbäumen, um die Kinder der heutigen Zeit, die ähnlichen Gräueltaten ausgesetzt waren irgendwie zu schützen, zu erlösen und in ein friedvolles Leben führen zu können. Wenn man nur mehr Menschen dazu animieren könnte, aufmerksam um sich zu schauen und insbesondere auch gewillt zu sein, einzugreifen, wo es dringlichst erforderlich wäre!
Warum Menschen zu solchen Taten fähig sind lässt sich ergründen. Kann man sehr wohl nachforschen, in dem man sich mit deren Kindheit, sprich Prägungsphase auseinandersetzt. Aber reicht das? Ist es nicht zu leicht, sich im Falle von ausgesprochener Boshaftigkeit auf die Kindheit zu berufen, die einen so hat werden lassen? Das war Nani stets zu „dünn“ gewesen, zu einfach … mehr noch, sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn man mal wieder in der Presse las, dass ein Kinderschänder oder anderweitig böser Mensch sich Milde vor Gericht erhoffte, in dem er seine überaus dramatische Kindheit ausbreitete. SO nicht!
Auch wenn es sicherlich dazu beigetragen haben wird, das erlittene Unrecht an andere weiterzugeben, so ist es doch in jedem einzelnen selbst begründet wie er handelt. Es ist dem eigenen Willen unterworfen sozusagen. Und gerade weil es einem Menschen und Wesen wie Nani es war außerordentlich schwer fiel, sich damit zu arrangieren, so gab es aber dennoch diese Menschen, die einfach Spaß daran hatten, andere zu verletzen und zu misshandeln, grausam zu sein. Die daran tatsächlich und wider jeden Verstandes Genuss empfanden, sogar sexuelle Befriedigung, wenn sie peinigen konnten. Es gibt Menschen, die sich dem Bösen verschrieben haben und damit ihr gutes Auskommen hatten. Moralisch verwerflich hin oder her – diese Menschen existierten und das in einer unvorstellbar größeren Anzahl, als einem bewusst ist. Nicht nur im kriminellen Bereich, sondern durchaus auch auf „normaler“ menschlicher Ebene. Das Schlechte an sich lässt sich nicht ausrotten. Genau genommen brauchen wir es, um uns distanzieren zu können. Wir können versuchen es so gut als geht einzudämmen und gemäß unserer ethischen Werte und Prinzipien im Zaum zu halten, was unser direktes Umfeld betrifft, doch eine gänzliche Vernichtung allen Elends ist unerreichbar!
Forschen Schrittes hatte sie in nur kurzer Zeit den Dünenkamm erreicht. Erst als sie oben angekommen war und sich endlich wieder die Weite des Meeres vor ihr eröffnete, holte sie tief Luft und blieb für einen Augenblick stehen. Das Tosen des vom stürmischen Wind aufgewühlten Wassers, das weiß schäumende Gischt an Land trug, war genau das, was sie in diesem Moment vor ihren Augen sehen musste. Nur allmählich verlangsamte sich ihr Herzschlag und erst dann konnte sie ruhigeren Schrittes die Hügel zum Strand hinunter gehen.
Weil es dort so laut war und ihr der Regen peitschend um den Kopf pfiff, kehrte in ihrer Seele Frieden ein. Sie stand mitten drin und entspannte sich zusehends, bis im schwachen Licht der frühen Abendstunden wieder ein Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen war.