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KAPITEL II Dada und die Weltformel 1920
ОглавлениеDer lange Fips in weißem Nerz und roter Schelmkappe öffnete den Gästen die Türe und gurrte. »Hereinspaziert, hereinspaziert, Dada sperrt Ihnen vorzüglich Ihre Schädeldecke auf. Kein Schreck, kein Schreck.«
Der Eingang lag verborgen hinter einer Poststation und einer öffentlichen Toilette nahe dem Lützowufer. Die misstrauischen Interessierten sammelten sich an der Kasse und sahen sich verschwiegen an. Kollwitz war eine der Wenigen, die nicht lächelten. Karl hatte sie dazu überredet, herzukommen. Er zahlte den Eintrittspreis scheinbar gewohnt und schien die Regeln zu kennen.
»Nur kalt Blut meine Damen und Herren, kommen Sie, haben sie Zuversicht in die Amöbe, setzen Sie Hoffnung in die Mikrobe. Dada ist die erste und größte Weltform. Wir sind die wahren Kommunisten des ehrlichen Kapitalismus, denn wir ziehen jedem das Geld aus der Tasche.« Und die Glocken an seiner Eulenspiegelmütze bimmelten. Er hielt einen schnurrenden Kater auf dem Arm und kraulte ihm die Kinnlade, während er mit der anderen Hand etwas umständlich die zwei Mark fünfzig Eintrittspreis entgegennahm. Er grinste wie ein Clown ohne Puderquaste, etwas Besorgniserregendes das ansteckend schien. Die Zähne schwarz wie Ruß, die Haut weiß wie Kalk, lang wie eine Bodenleiste. An den Wänden hingen groteske Collagen und eigenartige »Erzeugnisse«, wie die Gastgeber es nannten. Grotesk und für das Gros der Besucher eher Zumutung als Mut zur Aussage. »Sperren Sie endlich Ihren Kopf auf«, titelte ein Plakat. Die Augen waren ausgeschnitten, Buchstaben waren darüber geklebt. »Schau dich ruhig um«, sagte Karl, der die Ausstellung schon kannte und ging vor in den Theaterraum, in dem später die Soirée stattfinden sollte. Kollwitz nickte. Sie war ihm dankbar, sie mal aus ihrem Atelier geschleift zu haben. Es tat ihr gut rauszukommen. Zuletzt war sie auf einer Skulpturbaustelle eingeschlafen. Interessiert näherte sie sich einem dieser verworrenen Werke, skizzenhafte Zeichnungen, die hier und da die Wände mit Aussage tapezierten. Auf diesem einen war ein Offizier geschmiert, der mit erhobenem, offensichtlich blutgetränktem Säbel über einem toten Strichmännchen kniete, welchem er die Kehle aufgeschnitten hatte und es anbrüllte. Die Bildunterschrift lautete »Noske bei der Arbeit«. Sie kam nicht umhin zustimmend zu nicken. Ein mittelgroßer, alter, etwas dunkelhäutiger Mann mit Halbglatze, weißem Seitenhaar und dickem schwarzen Mantel stand unbemerkt neben ihr und schüttelte den Kopf. »Rümpel, nichts als Rümpel«, knurrte er. »Sie stimmen mit dieser Ansicht über Noske nicht überein?«, fragte sie ihn. »Noske? Der Bluthund? Das soll Noske sein?« »Da steht’s.« Sie zeigte auf die Bildunterschrift. »Das macht’s auch nicht besser«, sagte er, dann sah er sie an. »Frau Käthe Kollwitz? Ist ja nicht wahr. Ich habe die Ehre.« Dann gab er ihr die Hand wie einem Arbeitskollegen. »Ist das so? Sie haben Ehre? An welcher Front haben Sie gedient?«, fragte Kollwitz sarkastisch, doch ihr Gegenüber war sehr wohl imstande zu schwarzem Humor. »Verzeihen Sie, Pietät, ich weiß natürlich um Ihren Verlust. Ich freue mich Sie mal in Farbe zu sehen.« »Na also, und Sie sind?« »Dachs, Ansgar Dachs, was für eine Zeitverschwendung, nicht wahr?« Er nickte zu den Zeichnungen. Keine Ausarbeitung, dafür Massenproduktion, Kritzeleien aus den hinterletzten Hinterköpfen der Hinterhöfe. Leere Strichmännchen, nichts was einem die verschwendete Lebenszeit zurückgäbe, während man es anglotzte. »Ich war bei denen schon in Zürich«, sagte er abfällig, »da waren die Zustände ähnlich beschissen.« »Kindlich rein, doch nicht naiv«, lobte Kollwitz dagegen. »Zeitverschwendung«, wiederholte Dachs. »Solcherlei Gekrakel betreibe man bitteschön wie Klosettgänge – hinter verschlossenen Türen.« »Sie unterschätzen den Wert verschwendeter Zeit, Herr Dachs, und nein, dies ist weit mehr als das. Es sind unsere Jungen, unsere Kinder. Die nächste Generation, die, welche unsere hervorbrachte. Die haben den Krieg erlebt. Unseren Krieg. Wir haben ihn ausbrechen lassen. Wer sind wir, sie zu beurteilen? Sie sind dran. Sie urteilen nun über uns. Stufen müssen wir ihnen sein, nicht Zäune.« »Hufe werde ich denen sein, diesen Schmierfinken«, brummte Dachs. »Bastarde aus Sinnkrise und Zukunftsplänen. Sie müssen ja daran Gefallen finden, Sie sind freie Künstlerin, nur zu. Ich nehme mir die Freiheit es abzulehnen. Es hat keinerlei technischen Wert.« Kollwitz schmunzelte, ging ein paar Schritte zum nächsten Bild und ließ Dachs folgen. »Und das da?«, fragte sie. Jenes Werk war keine Kritzelei, es war ein Ölbild feinster Couleur, war aber nicht weniger thematisch fokussiert. Es zeigte eine zerbrechende Umwelt. Ein Politiker, ein General und ein Priester standen beflissen vor dem Zerfall, während der Normalmensch, der bürgerliche Egoist zu Tisch und Mahlzeit, sich aus Schreck vor dem Untergang an sein Buttermesser und seine Fleischgabel klammerte und an seinem Tische sitzenblieb an dem er bestellt hatte. Dachs las die Beschreibung unter dem Bild und befummelte sein Schnauzhaar desinteressebekundend: »Deutschland, ein Wintermärchen; George Grosz – der Propagandadada.« »Naja, es ist nicht gerade herkömmlich, nicht wahr?«, sagte Kollwitz. Dachs hob beide Augenbrauen. »Es scheint mir, dass der Maler den französischen Kubismus mit dem italienischen Futurismus zu verwechseln versucht und dabei auffällig scheitert. Ist mir aber auch egal, soll mir der Futurismus am Kubismus vorbeigehen, so schnell wie’s nur geht. Ist doch alles Müll für die Abfuhr. Diese Stümper halten sich nicht an die einfachsten Regeln. Nicht an die einfachsten, Frau Kollwitz.« »Jeder Idiot kann eine Regel aufstellen«, widersprach Kollwitz, »und es gibt immer einen zweiten Idioten, der sich daran hält. Ich sehe durchaus viel technischen Wert. Sehen Sie es sich an: Ein Bild, das auseinanderfällt. In alle Richtungen. Mal vom Stil abgesehen. Ist das kein Ereignisfeld eines gekonnten Malers? Sehen Sie sich die Machart an. Sie sind nicht vom Fach, nicht wahr?« Dachs lachte laut auf. »Vom Fach? Wenn Sie wüssten wer ich bin, Frau Kollwitz. Wenn Sie wüssten.« »Nun, ich kenne viele. Aber Sie kenne ich nicht«, sagte Kollwitz. »Ganz recht.« Dachs schien nichts weiter zu sagen zu haben. Er putzte sich die Nase und kratzte sein Fell, dann zog er eine Museumslupe aus seinem schwarzen Mantel und begutachtete Strichführung und Rasanz des Gemäldes, als würde er es testen. Kollwitz war gar nicht mal so überrascht von der Pedanterie. Offensichtlich ein Berufskritiker der sich für einen Künstler hielt, indem er fremdes Werk schlecht hieß, weil er kein eigenes konnte. »Nun, es verschleppt nur wieder diesen lästigen Kubismus, wie ich schon sagte«, bestätigte er sich selbst. »Alles zu dick, zu pastös, mehr Kante als Form. Sehen Sie sich das an, hier unten, der benutzt doch Straßburger Terpentin zur Farbverdünnung, da geht mir die Hutschnur hoch bei sowas. Wie dem auch sei, Gnädigste, Sie werden schon noch sehen. Ein gelehrter Kunstakademiker macht noch keinen Gesamtwert in dieser Dada-Bewegung. Da ziehe ich Ihre Arbeit vor, Frau Kollwitz. Talent, Frau Kollwitz, Talent. Eines pro Generation. Machen Sie weiter so. Und verwenden Sie mal Farbe, probieren Sie es aus. Dieses ewige Schwarz-weiß ihrer Zyklen ist doch kein Zustand, bei allem Respekt.« Kollwitz wusste, wann es sich zu verabschieden galt, wo man sich einig war uneinig zu sein. »Wir sehen uns dann im Theater, Herr Dachs? Auf bald.« »Ja, im Theater, das kann man laut sagen.« Er ging kopfschüttelnd weiter seiner Wege durch die eigen- und andersartige Ausstellung. Von der Decke hing ein Schwein in Reichswehruniform. »Bah!«, sagte er noch unter dem Türpfosten, dann war er weg. Eine weitere Skulptur stand dort am Rande des Irrsinns. Eine Schaufensterpuppe mit Verdienstabzeichen und verlorenem Kopf, eine Glühbirne diente als Prothese, man konnte sie an- und ausschalten. Plump und provokant. Die Besucher kamen in einen Kellerraum mit einer kleinen Bühne und setzten sich kichernd und zuflüsternd auf die klapprigen Stühle. Dies sollte also das Theater sein. Karl winkte ihr zu, er hatte schon die besten Plätze reserviert, mitte Mitte, zwei Reihen davor. Man setzte sich. Die Leuchten blendeten von den Stühlen ab zur Bühne. Der Vorhang wurde langsam per selbstgebautem Flaschenzug aufgezogen und quietschte metallsträubend. Das Licht ging auf. Die Bühne war klein, bunt und infantil verbastelt, überall erkannte man grelle Gesichter aus scharfen Kanten, maskierte Maskenträger, merkwürdiger als gewöhnlich. Ein trauriger, karger Mann stand dort neben einem alten Klavier und fummelte verlegen an seiner Körpermitte herum. »Seht mich an!«, rief er auf und äugte bedrückt ins Publikum. »Ich bin ein Witz! Ich bin hässlich! Ich bin ein hässlicher Witz! Ich sähe Salz in den Sand. Ich durchpflüge die Wüste. Stolz pflügte ich erst die Wüste, doch in der Wüste, dort verliert man seinen Stolz. Seht mich an! Seht mich an! Ich bin ein Witz, so alt wie die Sahara! Ich bin zum Davonflüchten hässlich! Ich bin ein hässlicher Witz! Ich bin genauso wie ihr!« Der verstimmte Pianist zog seinen Reißverschluss hoch, richtete seinen Hosenbund und setzte sich ans Klavier. Er krempelte gelangweilt seine Hemdsärmel hoch, hob die Hände und hämmerte seine knochigen Finger in spasmischen Zuckungen in die quäkernde Holzkiste. Dieselben zwei Akkorde, schrill und falsch und ohne Takt. Kling-klang, kling-kling-klang, kling-klang-klang, und so weiter. Kollwitz erkannte in der kargen Beleuchtung des Kellergewölbes die sich weitenden Augen der Publikumsinsassen, Stirnfalten wellten sich auf und Augenbrauen zogen sich zusammen wie Gewitterwolken. Hinter dem Klavier kamen drei Frauen in weißen Nachtkleidchen hervorgetänzelt und schlugen Kochlöffel auf Töpfe. Dazu stimmten sie ein dissonantes »tschu-tschu-tschu« an; sie versinnbildlichten wohl die höchste Eisenbahn für die Gesellschaft oder die Eisenbahngesellschaft oder möglicherweise auch einfach gar nichts. Dadas eben, man hatte es nicht leicht mit ihnen. Was es auch war, sie verarbeiteten es zu Dada. Der Zug hielt an, die Damen erstarrten. Ein fetter General marschierte in preußischem Stechschritt hinter ihnen hervor auf die Bühne, wirbelte seinen Blechsäbel über die Köpfe und schrie strenge Befehle aus kratziger Kehle, so dass ihm seine Pickelhaube regelmäßig ins fette Gesicht rutschte. »Raus aus euren warmen Löchern!«, stieß er aus und Spuckfetzen flogen unter seiner Schnauzbürste heraus durch das Rampenlicht und es nieselte. »Ihr Stubenfliegen, ihr Ofenhocker, raus aus euren warmen Löchern! Unter Mondglotzen und Sternenstarren rufe ich zu Beil und Keilerei!« Der fette General grunzte dreimal heftig, beendete den Stechschritt und stellte sich stramm in Befehlspose vor das Publikum. Er sprach die Kaiserrede der totalen Kolonisation der kolonisierten Kolonien: »Hört ihr nicht die Scharen scharren? Werft über euren Harnisch und schreitet durch die Äquatoren – ich brüll die Marschmusik der Weltarmee! Divisionen und Husaren – aus Ost und West und Nord und Süd, erhebt eure Standarten! Japaner, Chinesen, Deutsche, Franzosen! Truppen Afrikas, Asiatische, Kaukasische! Herbei Amerika, o Mississippi! Spree, Nil, Wolga, Tiber, Amazonen! Legionen Indonesiens, Brasiliens, Schwedens, Schweiz, zieht das Säbel, lasst es singen! Brich herab Himalaya, Täler des Mekong marschiert herauf! Verladet die Haubitzen auf die Elefanten der Oasen, bemannt die Wale der Weltmeere, sattelt die Löwen der Hunnensteppen! Ich brüll die Brachiale! ich blas die Marschmusik der Weltarmee – endlich wieder Krieg!« Der fette General sprang um, beugte sich mit den Händen auf die Knie und furzte den Zuschauern lauthals entgegen, diese schlossen ihre erstaunten Münder augenblicklich. Der verstimmte Pianist schwang um in eine fröhliche Marschmusik und die Damen hüpften im Kreis um ihren fetten Führer. »Gegenwind, Gegenwind, Dada bläst zum Gegenwind!« Kollwitz‘ gewohnt trantütiger Gesichtsausdruck wich einer offenen Neutralität. Für einige andere war die Schmerzensgrenze überschritten. Die ersten Gäste erhoben sich nervös von Ihren Sitzen, tasteten sich ab, dass sie auch ja nichts vergaßen, postulierten ihre Unlust über das Dargebotene mit faustigem Handwurf und verließen die Sitzreihen in tapsiger Hektik. »Ihr!«, tobte der fette General sie an und zielte mit seinem zittrigen Zeigefinger auf die Flüchtlinge. »Küsst die Fresse!«, raunte er. »So feucht wie ihr nur könnt!« Die Flüchtlinge erstarrten. »Oder die Fresse küsst euch! So nass wie sie es nur will!« Und er zog sich mit seinem zittrigen Zeigefinger die labbrigen Hautsäcke unter seinen Augenringen herunter, aus seinem fetten Gesicht baumelten die Doggenbacken und schlabberten vor Zorn. Einige setzten sich wieder hin, gehorchten dem, was der General befahl, andere nutzen die Schatten der Flure und schwiegen sich davon, andere konterten mit verschränkten Armen und bestanden auf ihrem Standpunkt als sei es der Prüfstein ihrer Männlichkeit. »Sie! ausgerechnet Sie!«, schimpfte ein Überzeugter. »Sie haben wir nach dem Krieg gebraucht! Einen Verräter! So dankt ihr es meinem gefallenen Sohn? So dankt ihr es dem Land, der Erde, den Familien für die er fiel? Damit verschwendet ihr eure Zeit? Damit dankt ihr es den Opfern dieses Desasters? Mit Witzen?« Alle schienen aufgeregt, jeder schien etwas loswerden zu wollen, nur keiner traute sich. Auch Kollwitz schwieg, obwohl sie hätte aufschreien können. Sie merkte es Karls Halsschlagader an, dass es ihm genauso ging. »Nein, nein, nein!«, schrien die einen plötzlich los, »ja, ja, ja«, seufzten die anderen zurück. Es war doch so unbedeutend. Das Sterben, es war unbedeutend gewesen, umsonst, man hatte es einzusehen; oder auch nicht. Man zeigte seine Aufregung, man regte sich auf, und überhaupt, da regte sich etwas. Die Ohnmacht war wie abgestellt, man diskutierte wieder. Kollwitz atmete auf. Das Haus der schrägen Vögel machte auch ihre Besucher schräg. Ja, wie Darwins Spatzen sangen sie ihre Leiern von ihren vielen eigenen, einzigen Inseln. Jeder Spatz für sich das Beste wissend aus seinem individuellen Erleben, mit bebendem Brustlatz tönend, frei und überzeugt und im Recht, wie ihm der jeweilige Schnabel nun mal gewachsen war. Waren wir nicht alle Dada? Auf vielfältige Weise – einfältig? So hüpft jeder von seinen jeweiligen Zufällen zum nächsten und nennt sich »Entwicklung«. Dada ist Entwicklung. Als der Propagandadada vor die Meute und die Meuternden trat und die Direktorenhand erhob, zogen viele Spatzen ihren Atem ein und ordneten ihre Federn, die schrägen Vögel streckten ihre Hälse herauf und verschluckten ihr Tschilpen mitten im Kehlsatz. Hinter ihm postierten sich der Dadasoph und der Balldada, der Monteurdada schraubte im Hintergrund das Bühnenbild um. Schräg wurde schräger. »Die Kunst ist tot, ihr Kunstgläubigen!«, posaunte der Propagandadada heilsbringend und arrogant mit dem jungen Selbstbewusstsein seiner Manie. »Es gibt für alles seine Zeit! Für die Hebamme die eine, für den Totengräber die andere. Für die Kunst ist es nun Zeit zu sterben. Es gab die Mittelalterzeit, die Barockzeit, die Biedermeierzeit; es gab die Steinzeit und die Eiszeit. Es gab die Zeit zu kämpfen und es gab die Zeit zu fressen.« »Was hat denn die Kunst damit zu tun?«, rief der aufgelöste Überzeugte. »Das entartet doch!« Der Propagandadada redete unbeirrt weiter: »Es gab die Antike, das Altertum, die Renaissance, den Rokoko, die Klassik, die Romantik, das Genie in seiner Welt und die Welt ohne Genie; und jetzt gibt es Dada. Alles ist Dada – Nachahmung ist zwecklos, Weiterführung sinnlos! Denn jetzt ist sie tot. Ihr Zeugen! Ihr Zeitzeugen, ihr saht wie sie das Herz der Kunst, den Stil, zum Stillstand brachten! Dada ist das Bekenntnis zur Stillosigkeit, denn jede Zeit hat ihren Stil. Dada ist das Bekenntnis zur Stillosigkeit, denn wenn Dada ist, ist Kunst nicht. Wenn Dada lebt, dann sage ich die Kunst ist tot! Und wo die Kunst tot ist, ist auch der Mensch tot! Tot, die Mona Lisa. Tot, das Selbstporträt! Tot, der monokeleinzwickende Mäzen und der teetassenhenkelhaltende Mondän. Tot, der Dürer. Tot, der Cranach der Ältere. Tot, der Cranach der Jüngere. Die Kunst ist tot! Wir heben die Kunst auf ein Podest – und tragen sie zu Grabe. Sie soll zum Himmel fahren, gleich, sofort, immediately, wenn möglich. Das ist Lüge, nur umgekehrt, Dadawahrheit; Überzeugung ist der erste Schritt, Erzeugung der zweite, ihr Zeugen der Sterblichkeit von Kunst! Seht das Bild des Spießers, des bürgerlichen Egoisten, wie die Welt um ihn einhergeht und eingeht, während er zu Tisch auf seine Mahlzeit wartet. Huren hausieren, Verbrecher und Bestecher kampieren. Kirchenhäuser – Dächer für die Unglückseligen und Türme für die Selbstmörder. Eine Lust! Und der Spießer, er würgt Messer und Gabel umso fester. Das Futter muss kommen, es wird doch einer in der Küche stehen und kochen? Ihr Verbrecher, gebt mir mein Futter! Wo ist mein Gift? Langes, unbeweisbares Gift ist gutes Gift. Ihr Zeugen, könnt ihr mir bezeugen, dass die Kunst tot ist? Höre ich nun Zustimmung und Abneigung? Beides? Ja?« Er hielt die Handflächen hinter seine Ohrmuscheln und forderte den Zuschauertross zum beklatschen auf. Die Empörten blickten sich verdächtigend an. Ein dürrer Stockmensch in Kollwitz‘ Nähe stand auf und rief: »Genau, mein Junge!« Zornige Schmährufe entglitten den Besuchern in den hinteren Reihen als der Teil um sie sich aufrichtete, sich umdrehte und jubelte. Die Hinteren begannen die Vorderen zu beschimpfen und die Vorderen taten ihnen Gleiches mit Gleichem gleich. »Es ist eine Schande! Eine Schande ist das!« »Wa sin se denn so blöde inne Birne, dass se dit nich vastehn, Mensch!« »Kommunisten!« »Flitzpiepen!« »Bolschewistische Zigeunerbrut!« »Jetz sperre se ma de Köppe uff, jah?« »Arschfotzen!« Dann warf einer seinen Hut vor sich auf den Boden und trampelte auf ihm herum. Mit dem Hut meinte er die anderen. Es ging so weiter. Eine reinigende Schlammschlacht hässlicher Wörter, ohne Kugeln, ohne Gas, ohne Tod. Alle töteten nur die schöne Kunst. War das Frieden? Kollwitz atmete auf, als hätte man ihr eine schwere Tasche abgenommen. Ja, das war er. Er war zurück. Die Waffen waren gelegt, das Wort war zurück. Der Krieg konnte von Neuem beginnen. »Ihr ungewaschenen Kindsköpfe, ja! Schön blöd! Wir werden euch noch Töne lehren, die ihr so noch nie vernommen habt!«, rief es weiter von den Hinterbänklern. »Ihr Dummköpfe, Dornkronen setzt ihr euch auf, ihr monarchentreuen Untertanen!«, rief nun der Balldada gegen das Scheinwerferlicht. Er war verkleidet, wie der Name schon sagt, als Ball. »Herrschaftshäuser und Denkmäler errichtet ihr euren Kriegstreibern. In die Höhe treibt ihr eure Höhergestellten, ihr Untertänigen, in die Höhlen steigt ihr für sie. Auf dass sie euch als Phallus dienen, je höher und fester sie in eure Ärsche stoßen.« Die Hinterbänkler trauten ihren Ohren nicht, was sie da von einem Ball gesagt bekamen. »Ihr Verräter! Wegen Bürschchen wie dir haben wir die Schlacht verloren! Weil du nicht für meinen Sohn gestorben bist, ist er jetzt tot! Dreckiger Vaterlandsverräter!« »Ihr Untertanen!«, fuhr der Ball fort, ohne auf jegliches einzugehen. »Ihr armen, armen Untertanen. Ihr Götzenbildner. Auf der Suche nach dem größten Phallus der euch führt und in euch hineinführt – dem Übergroßen, dem Größten, dem Mutterpenis, der Mutter aller Penisse.« »Das ist ja sagenhaft!« Das tobende Gegröle vernichtete die Hörbarkeit der letzten Worte des Balls. Der verstimmte Pianist stimmte einen Ragtime an. Kollwitz tat so als würde sie klatschen, ihr war heiter zumute, der fette General aber war mehr als das, er befand sich in seinem Element und lachte höhnisch, der Propagandadada lachte teuflisch, der Ball lachte überhaupt nicht. Letzterer war nur zufällig Dada, alles, was er sagte, war ihm bitterer ernst, darum war er ein Ball. »Ja wisst ihr denn nicht? Ja wisst ihr denn nicht?«, schallte es aus den Rängen »Was wissen wir nicht?«, schlug der Ball zurück. »Die Tantalusqualen unserer verdammten Söhne!« Der Überzeugte zeigte sich von seiner poetischen Seite, die man braucht um zu überzeugen. »Dort draußen in den Gräben, wo heute weiße Fetzen im Wind flattern. Durch und durch gepflügter Acker, besäht mit kalten Kugeln. Rostige Bombenschalen stehen aus den Böden hervor wie antike Tontöpfe. Knochen liegen da, als wären es Krieger von längst vergessener Zeit. Doch es sind unsere Kinder! Verstreut in der weiten Flur des Grauens! Und ihr macht euch lustig, ihr setzt euch rote Clownsnasen auf! Pietätlos bis ins Mark! Mir ist es ernst!« »Die Tantalusqualen unserer Söhne! Sie sagen es!«, rief Karl plötzlich zurück. Kollwitz erschreckte sich, so aufbrausend erlebte sie ihn bisweilen selten. »Unsere Kinder sind tot! Unsere Kinder sind an unserem Wahn vernichtet worden – wir, die Eltern, tragen die Schuld! Was meint der denn sonst mit der Kunst? Unsere Kunst! Unsere Kinder sind tot! Und sehen sie sich die übrigen Kinder hier an, die überlebten Kunstwerke!« Er zeigte auf die Bühne. »Das! Das sind die Überlebenden unserer Feuerwelt, die wir für sie erbauten. Das! Das sind unsere Überlebenden die sich von unseren Schlachtbänken befreiten. Wenn! Wenn jemand sagen kann was er will und wie er es will, dann unsere Kinder. Wir Alten sind zu nichts, rein gar nichts mehr zu gebrauchen!« »Ach was!« »Ach was? Das ist Ihre Antwort? Halten Sie endlich ihr vor Dummheit schäumendes Maul!« Kollwitz drückte ihren Mann in den Arm, er baute sich auf wie ein Bär, als wollte er gleich eine Prügelei anzetteln, und das als der vernünftigste Arzt der Stadt. Das wäre doch Dada, dachte sie. Die Hinterbänkler schienen unabsichtlich einen Chor zu bilden: »Trauer, Trauer, Trauer! Das ist keine Trauer, das ist ein Fest!« »Oh ja, ihr seid traurig«, fiel ihnen der Propagandadada mit ausgestreckten Armen in ihre Thesen, er saß nun auf den Schultern des fetten Generals und stimmte seine vorbereitete Rede an: »Oh ja, ihr seid viele. Und ihr seid alle so traurig. Und je mehr eure Herde auf der Trauerweide grast, desto kürzer macht ihr euch selbst. Je mehr ihr euren Hirten nachblökt, desto winziger wird eure Stimme – denn der Ruf nach einem starken Mann, der führt, ist kein Ruf, es ist ein Blöken. Und eure Herde wächst zu Heerschar, zu Volkskoloss und du...«, er zeigte auf einen beliebigen Hinterbänkler. »Der kleinste Zwerg der Welt. Ja, Zwerg bist du mit schwachem Nacken, auch so traurig, knickst nach hinten ab und siehst nach oben, dass dir da einer ist, der dir sagt wohin du hufen sollst, anstatt selbst nach vorn zu sehen. Ja, Zwerg bist du, der einen Diktator nötig hat!« Der Beliebige sah sich zu den anderen um. »Na warte!«, brüllte der wortgewandte Überzeugte zurück und nahm den Beliebigen in Schutz. »Dir werde ich Mores lehren, du Bengel, dass dir das Hirn schon noch vergeht. Wen nennst du hier Zwerg?« »…dafür keine Zeit«, hörte Kollwitz ihren Bekannten, Herrn Dachs, am Ende eines Halbsatzes, in einer Feuerpause murmeln. Dann verschwand er durch die Galerie. Er hatte offenkundig genug gesehen. Dabei fing der Propagandadada gerade erst an den Überzeugten zu stutzen: »O, du Diktator ohne Volk!«, sprach er einem Propheten gleich dem Überzeugten zu. »O, du einsamer Diktator. Ich höre dir nicht zu! Du armer Diktateur, hast niemanden zum Diktieren. Du mauerst Worte hoch zu leeren Burgen, und keiner will hinein – du Tollpatsch hast die Fenster vergessen. Und sie lachen heimlich über dich, das macht dich garstig und verbissen, verkantet und einsam. Und deine Einsamkeit macht dich bitter. O, du Diktator ohne Volk. O du armer Diktateur. Du Kreativer ohne Medium, du Aufbläser und Aufbläher ohne ein Ventil. Unausweichlich und ohne Ausweg. Zum Mystiker und Verschwörer wirst du werden, und wer dir nicht gefügig wird, wird dir Widersacher. Doch dein Erzfeind wird dir deine eigene Bitterkeit. O, du Diktator ohne Volk. O, du armer Diktateur. Einsam isst du Tag für Tag zu Abend, und es schmeckt dir jedes Mahl bitterer. Einsam irrst du auf deinem Mond – du Trabant – immer vorwärts. O, du Diktator ohne Volk. O, du armer Diktateur. Du Spucknapf der Intellektuellen. Und aus unserer Verachtung saugst du die fette Milch der Aufmerksamkeit und verschluckst dich daran. Auch unser spöttisches Lachen ist dir brutzelndes Pfannenfett an dem du dich wärmst und reibst und naschhaft leckst und dir deine vielen Zungen daran verbrennst. Seht ihn nicht an! Geht an seinen Erdlöchern vorbei, wenn ihr die Kröte schnarren hört. Hört ihn nicht an! Lasst ihn in seinem Loch. Er wirft euch die Peitsche zu. Lasst sie liegen! Vernichtet ihn nicht! Entgegnet ihm – nichts! Die Kunst ist tot und niemand kann sie mehr lebendig reden! Doch Dada ist gegen lebendig.« Der Überzeugte kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen, dass ihm sein Oberlippenbart in die Nase wühlte. Man hätte meinen können, es qualme aus seinen Ohren. »Entartung ist das! Entartung!«, giftete er und schlug hastig mit der Hand durch die Luft, er hatte sich als alleiniger Sprecher der Hinterbänkler hervorgetan. Die vorderen Reihen buhten sie aus und einige warfen Stühle nach hinten. Wild geifernd zogen sich die störrischen Gruppenbildner zurück. Quietschend zog der Vorhang wieder zu. Das vielarmige Missverständnis war perfekt, Applaus gab es keinen, ein gelungener Abend. Kollwitz versuchte Karl zu beruhigen. Sie ließen die Hinterbänkler zuerst hinausgehen, das dauerte nicht lange, sie waren zügiger Natur. Kollwitz und Karl wanderten noch ein wenig durch die Ausstellung, suchten Zeichnungen und Fotomontagen, die sie noch nicht besichtigt hatten und machten aus einem Umweg einen langen Spaziergang zurück nach Hause. Ihre Köpfe waren für einen kurzlebigen Moment befreit, zumindest der von Kollwitz. Was in Karls Kopf vorging, konnte sie nur erahnen. Was heute wieder in ihn gefahren war, darüber mochte sie gar nicht nachdenken. Doch beide genossen das Gehen, so lange es dauerte. Sie bogen um zwei Ecken und gelangten ans Spreeufer. Wie unbeirrt dieses Wasser doch durch die Stadt floss. »Du stehst niemals im selben Fluss«, sagte Kollwitz. »Das hast du einmal gesagt.« »Ich? Wann?«, fragte Karl. »Das hast du mal Hans und Peter gesagt als ihr mit hochgekrempelten Hosen in die Strömung an der Havel gingt. Du sagtest: ›Das Wasser, das eure Füße berührt, kommt aus der ganzen Welt und fließt in die ganze Welt zurück. Ihr werdet nie wieder das gleiche Wasser an euren Füßen spüren.‹ Du warst immer gerne so ein alter, weiser Mann.« Das war er auch, er hatte Peter schließlich verboten an die Front zu gehen und ihr, ihm eine elterliche Erlaubnis zu erteilen. Hätte sie nur auf ihn gehört. Da war sie wieder, die Ohnmacht. »Ja«, sagte er, »niemals bleibt der Fluss derselbe. Wir schon«, dann bog er ins Schweigen ab. Sie gingen weiter stromaufwärts, vorbei an einem Denkmal von einem vergessenen Krieger. Es stand verlassen vor einer kleinen, sparsamen Grünfläche. Der bronzene Herr mit Pickelhaube wies mit strengem Lehrerzeigefinger auf den Fluss, in der anderen Hand hielt er den Griff des Säbels an seinem Gürtel. Die Klinge war leicht aus ihrer Halterung gelöst. Offenbar handelte es sich um einen Helden. »Kennst du den?«, fragte Kollwitz. »Nein«, antwortete Karl ohne hinzusehen. So groß, so aufopfernd kann der Heldentod also nicht gewesen sein, dachte Kollwitz. Zumindest hat er dadurch nichts erreicht, denn für das, wofür er gekämpft hatte, war heute offenbar kein Platz mehr im Gedächtnis. Sie richtete ihren Schal. Nach langem Pfade kamen sie zu Hause an. Karl holte sich wie immer eine Zigarette und setzte sich auf seinen unbequemen Holzstuhl vor dem Fenster, um die Straße zu beobachten. Vielleicht käme Peter ja doch noch nach Hause, wenn er nur lange genug Wache hielte. Er spürte es tief in sich drin, dass er noch lebte. Kollwitz überließ ihn seiner Art der Trauer und er billigte ihr die ihre zu. Sie legte sich in Peters Bett und beobachtete die Schatten an der Decke. Dort vermisste sie ihn, ihren Krieger, ihren von der Welt vergessenen Krieger, man hatte ihn zu Dada verarbeitet.
Ein frischer, gräulicher Morgennebel durchwehte die Straßenschluchten. Es war früh. Kollwitz ging vorbei am Denkmal des vergessenen Kriegers und rieb sich den Sand des Schlafes aus den Augen. Eine Traube von knöchrigen Menschen hatte sich vor dem Bronzesoldaten versammelt, eine Gulaschkanone hatte sich zu seinen Füßen postiert. Befeuert wurde der Topf mit dem eisernen Hindenburg, der mittlerweile zu sechsundzwanzig Tonnen Brennholz umfunktioniert worden war. Sie passierte das Spreeufer, an dem sie gestern noch in Erinnerungen schwelgte. Dort standen nun die schwitzigen Schwarzhändler und Hehler, die einem ihre Angebote zuflüsterten. Brotkarten, Fleischsiegel, Gemüsemarken, Spezialbürgerpässe, alles eigenartige Produkte der Umstände, alles notwendig, alles eine Frage des Preises. Sie kaufte eine Gemüsemarke und entschied sich für den gleichen Weg wie am Vorabend. Dort angekommen stellte sie sich ans Ende der Warteschlange, welche sich um zwei Häuserecken schlang und sich kaum bewegte. »Das Wassergemüse, wenn’s geht«, hatte Karl gerade eben noch gesagt. »Wenn’s geht, das Wassergemüse.« Sie nickte zu sich selbst. Karl wusste als Arzt schließlich wo die Vitamine versteckt waren. Karl hatte letztlich immer recht.
Drei Stunden Dauer hatte sie für die Lebensmittelausgabe einkalkuliert. Sie durfte also ruhig die Zeit vergessen. Wie selig ihr das Warten war, wo nur ein trockener Laib Brot, ein karges Netz pflaumengroßer Kartoffeln und etwas Wassergemüse die Erwartung stopfte. Nicht viel, doch das war Berlin. Darbender Hunger und existenzielle Wohnungsnot lag wie ein Unstern über der Stadt. Klamme Familien bewohnten Lauben und Blechverschläge, Arme kämpften mit Ärmeren um Lumpen. Manche Kinder trugen nicht einmal Schuhe, die meisten wussten nicht wie Milch schmeckt. Geistige Wirre, Kleinwuchs und Verschleiß durch Entbehrung war in ihren Gesichterchen vorauszusehen. Lange und tief hatten sie in die Schluchten und Abgründe geblickt; lange und tief hatten die Abgründe in sie zurückgestarrt. In ihren Mägen lagen die Canyons leerer Meere. Ihre Augen waren einer inneren Finsternis angepasst, Nahrungsmangel bremste ihren Spieltrieb. Die Kalamität der Erwachsenen traf vor allem ihre Erben. Im Bestattungsinstitut neben der Lebensmittelausgabe lagen kurze Särge zum Sonderpreis aus. Wenn Kinder sterben, denkt man instinktiv an etwas Anderes.
Die Neuankömmlinge am Schlangenschwanz begrüßten sich verheißungsvoll, auf dass es an diesem Tage zügiger vorwärtsgehen mochte. Der Triumph der Hoffnung über die gestrige und vorgestrige Erfahrung. Die lange Ausgestandenen vor der Türe wirkten nicht mehr allzu frisch, das Warten war ihnen wieder mal zäh geworden. Kollwitz knitterte ihre Essensmarke, streckte ihr Kreuz und sah in sich hinein. Sie dachte an Hans und seine Frau Otty, sie erwarteten ein Kind, bald würde es soweit sein. O je, ein Kind in die Welt zu setzen, zu einer Zeit, in der Kinder sterben. Wie sie dem Kind all die schweren Kapitel ihrer Generation mitgeben würden, auf dass er oder sie es eines Tages besser mache, so wie es ihre Generation schon nicht besser gemacht hatte. Sie konnten nichts für all das Elend, das ihnen angetan wurde. Die Unschuldigen fühlen sich immer schuldig, die Schuldigen zeigen niemals Reue.
Die Schlange schob sie weiter nach vorne, viele kleine Tippelschritte waren abgeschlürft, so dass sie sich schon in der Mitte der Kolonne schätzte. Die Sonne drückte sich aus der Bewölkung heraus und die nasse Kälte des Morgens verschwand allmählich von der Haut. Sie sah sich um und beobachtete die Gasriecher, die beflissen ihrer Arbeit nachgingen, wo sie noch eine hatten. Sie klopften ihre Riechstäbe in die Böden und schnupperten, ob da nicht doch noch irgendwo etwas Gas leckte. Doch es gab nichts zu erschnüffeln, die Kraftwerke streikten schon seit zwei Wochen, dennoch schienen sie beschäftigt und ungestört. Denn ohne Beschäftigung kein Lohn. Man tut, was man soll, wenn dieser jemand, der einen bezahlt, nichts sagt. Am nahen Ende der Straße tat sich ein kleiner Stadtpark auf und dort sah sie einen amerikanischen Gentleman, oder das, was man sich darunter vorstellte, auf einer Bank platznehmen und einen Block aufschlagen. Er fing an zu zeichnen und es schien, als hätte er die Warteschlange als sein Motiv gewählt. Sein Aufblicken wirkte konzentriert, sein Kohlestift bewegte sich vital. Durch und durch ein Zeichner, konnotierte Kollwitz. Überrascht stellte sie fest, dass sie ihn wiedererkannte. Es war der Propagandadada vom gestrigen Abend, doch erinnerte sie sich nicht mehr an seinen Namen. Etwas Unaussprechliches mit einem »G« zu Anfang und mit einem »SZ« am Schluss. Ein slawischer Name vielleicht, vielleicht polnisch. O, wie hatte dieser junge Mann am Vorabend noch die Urteile und Widersprüche in den Köpfen der Zuschauer durcheinandergewirbelt. Wo wachsen noch solche Wilden heran? Doch wirkte er wenig wild an diesem Vormittag, so fokussiert auf seine Arbeit. Sie wollte zu ihm hinübergehen, doch die durchsichtige, aber nicht durchbrechbare Glaswand vor der Warteschlange hielt sie ab. Eine geschlagene Stunde stand sie schon, oder mehr. Ein zu großes Opfer für ein kurzweiliges Kompliment.
Der Künstler blickte wieder auf und begutachtete seine Vorlage. Er schien Kollwitz erkannt zu haben und grüßte sie mit offener Handfläche. Sie grüßte lächelnd zurück und wandte ihren Blick ab, wohl wissend die Glaswand nicht durchdringen zu können. Als sie vorsichtig zurückblinzelte bemerkte sie, wie der Künstler aufgestanden war und über die Straße kam.
»Frau Kollwitz, es freut mich Sie zu treffen, ich habe Sie gestern bei der Messe gesehen, hat es Ihnen zugesagt?«, fragte Grosz.
»Oh ja«, sagte Kollwitz erfreut darüber, ihr Kompliment doch noch loswerden zu können. »Das war mal was Neues. Komödie in Spiegelschrift will ich meinen. Die Arbeiten in der Ausstellung, die sind von Ihnen? Das Wintermärchen meine ich im Besonderen. Sie sind Maler?«
»Ganz und gar«, sagte Grosz.
»Nun, Herr …, wie spricht man Sie aus?«
»Grosz. George Grosz.«
»Herr Grosz, ein polnischer Name?«
»Ein umgedichteter Name aus ›Groß‹. Damit er auch auf Englisch ausgesprochen werden kann. Zudem ist dies meine Kritik an den Gott-strafe-England-Parolen, wie sie hier und da gesungen werden und papageienartig durchkonjugiert werden. Dem will ich widersprechen. Ich bin international, müssen Sie wissen.«
»Ihre Arbeiten sind scharf, wie mit einem Messer geschlitzt«, sagte sie und zeigte auf seine Mappe.
»Die Schärfe ist wichtig – die Stumpfheit ist das Einzige, was wir derzeit im Überfluss besitzen. Es muss schmerzen wo es nicht kitzeln soll.«
»Lassen Sie doch mal sehen, an was haben Sie gerade gearbeitet haben.«
Grosz öffnete seinen Block und hielt das Bild vor sie hin wie einem Professor an der Kunstakademie. Ebenso analytisch öffnete sie ihre Augen und suchte nach Anzeichen von Fehlgriffen und Gesamteindrücken. Der Schlangenkorpus bewegte sich und schob sie ein paar Schritte weiter.
»Sie haben tatsächlich die Wartenden gezeichnet, Herr Grosz, nichts übrig für Architektur?«
»Nein«, sagte Grosz, »ich male Menschen. In ihnen sehe ich Landschaften und Gebäude genug.«
»Natürlich«, sagte Kollwitz, »und was sehen Sie in diesen Landschaften und Gebäuden?«
»In den Landschaften sehe ich ausgefallene Ernten, schlechte Witterung, karge Böden. Nicht mehr als magere Wintermonate und dürre Sommer. Die Gebäude sind großteils eingestürzt und unbewohnt.«
Kollwitz nickte sachgemäß und nahm den Block in ihre Hände. Die Schlange schob sie wieder ein paar Schritte weiter. Sie blätterte durch.
»Wie finden Sie die Farben?«, fragte Grosz.
»Ach, Farben«, seufzte sie. »Dazu habe ich keine Meinung. Wo wurden Sie unterrichtet?«
»Kunstakademie Dresden, Frau Kollwitz.«
»Das sieht man, eine gute Schule. Die Hässlichkeit ist schön herausgearbeitet. Dieses ganze kubistische Allerlei drum herum geht mich ja nichts mehr an, aber ich mag Ihre Verve.«
»Nun, der Bruch mit alter Sehgewohnheit ist des Fortschritts erster Fuß, Frau Kollwitz.«
»Sie wollen etwas aussagen, Herr Grosz. Das gefällt mir an den jungen Künstlern.«
Grosz lupfte die Schultern.
»Ich kann nicht an den Kontrasten vorbeisehen, Frau Kollwitz, die Kanten sind zu scharf, Lab- und Trübsal lebt zu dicht nebeneinander, ihre Lethargie voreinander macht mir zu schaffen. Wenige Straßen hinter dem Hotel Adlon gehen Kleinkinder an erkaltetem Hunger zu Grunde. Krüppel vergehen in den Seitengassen, oder betteln mit letzter Kraft an den Opernhäusern. Reiche Bonzen gehen an ihnen vorbei hinein, Kriegsprofiteure und Altfürsten, besuchen sich im Schauspielhaus und die alten Wagner-Stücke rühren sie zu Wehmutstränen. Dann verlassen sie sensitiviert die prunkvollen Säle und stolpern blindlings über den leeren Becher des Bettlers vor der Türe. Sie frisieren ihre lockigen Pudel für Schönheitswettbewerbe fein und füttern sie mit Meeresfrüchten, während vor ihren sauberen Fenstern Obdachlose in Mülltonnen nach Resten zehren und sich mit den Straßenkötern ihre Reviere teilen. Ich kann nicht daran vorbeisehen. Wie könnte ich je. Immer, wenn ich meinen Kopf verliere, suche ich in meinen Zeichnungen, und dort finde ich ihn dann. Es ist ein lächerlicher Untergang. Mit brutalem Drama zum Mitsehen zwingen, mit gewaltigem Für- und Widergeschrei zum Mitmachen bewegen, das sehe ich als meine Aufgabe an. Meine überzogenen Linien sprechen die Menschen an, weil sie provozieren, nicht weil sie schön sind, weil sie echt sind, nichts für die Kunstsammler. Und Dada ist die zweite meiner Möglichkeiten. So klein, wie uns die Presse schreibt, können wir nicht sein, wenn sie immer wieder von uns schreibt. Jeder weiß es, keiner will hinsehen. Was wir machen und was ich zeichne beschreibt den lächerlichen Untergang in dem wir uns befinden. Aus einem hässlichen Witz entstanden.«
»Sie sind ganz der düstere Romantiker,« sagte Kollwitz anerkennend. »Sie spielen auf ein Leben an das vor Ihnen liegt. Ich blicke auf eines zurück. Das unterscheidet uns.«
Die Schlange schob sie auf die erste Stufe der Eingangstreppe. Nun stand sie auf einem Podest vor dem jungen Künstler. Eine Künstlerin mit geachtetem Namen, Aufträgen von hohen und guten Ämtern und gutgemeinten Vereinen. Diese Reputation musste sich der Modernist erst noch erwerben. Seine Meinung schrie, ihre Meinung zählte. »Sie sitzen einem Meisterwerk auf, Herr Grosz«, sagte sie, »Sie werden es schon noch malen.« Der Jungkünstler nickte dankend. Und bevor die peinliche Situation der Zertrennung durch die Warteschlange entstand, hob Grosz seine Schiebermütze und verabschiedete sich formgemäß, einem plauderfreudigen Amerikaner gleich, oder das, was man sich darunter vorstellte. Kollwitz sah ihm nach, an ihre Jugend und saftigen Vorstellungskräfte erinnert, an Peter erinnert, wie er sich mit einem überzeugten Lachen in die Schlacht verabschiedete, einem hässlichen Witz aufsitzend, dem lächerlichen Untergang entgegenrennend, wie Grosz das alles nannte. Wäre Peter heute auch so gewesen wie dieser Grosz? Wenn er überlebt hätte wie er? Enthusiastisch und aufklärerisch? Ganz bestimmt. Wie aus einem Guss, das wäre er. Einer, der nicht nach dem Weg fragt, weil er ihn einfach geht. Einer, der sich nicht von Trampelpfaden oder Landstraßen leiten lässt, einer, der über Felder und durch Wälder stapft und nicht weniger von der Welt will als alles. Einer, der weiß, dass die Erde eine Kugel ist. Ganz bestimmt. Das war er und das wäre er geworden. Ein Pionier seiner selbst. O, Peter. »Karte!«, schnauzte die dicke Dame hinter der kargen Auslage. Kollwitz war an der Reihe, ihr Kopf schwebte noch in wölkischen Tagträumen. Die dicke Dame gnatzte. »Was schaunse denn so blöde wie so ne Schnorrer in de Blechbuchse? Karte jetze oder Nächster!« Kollwitz reichte ihr die Karte. »Wasserjemüse is heut aus«, sagte die dicke Dame, packte ein paar Kartoffeln zu wenig und einen halben Laib Brot in ein Netz und knallte es ans andere Ende der Auslage zur Abholung. »Nächster!« Kollwitz nahm das Netz und verabschiedete sich von niemandem, den es interessierte.
Nachdem sie mit langer Miene und außer Atem nach Hause gekommen war, sie die ewigen Stufen zu ihrer Mansarde erklommen und das klägliche Mahl auf die Anrichte der Küche geworfen hatte, rief sie nach Karl. Er saß nicht wie gewöhnlich vor dem Fenster. Auch in seinem Arbeitszimmer war er nicht. Auf dem Esstisch fand sie schließlich einen Zettel, auf dem stand: »Matuschchen. Konnten nicht warten. Die Eröffnungswehen haben eingesetzt und weisen Abstände von unter sieben Minuten auf. Der Muttermund ist geöffnet. Komm schnell, sobald du das hier liest!«
Typisch Arzt, dachte sie. Genauste Beschreibung der Vorgänge, aber keine Krankenhausadresse. Vermutlich hatte er Hans und Otty an seinen eigenen Arbeitsplatz gebracht, also machte sie sich auf den Weg, die ewigen Stufen wieder hinunter, am vergessenen Krieger, dem Spreeufer, an den Hehlern, den Gasriechern und der Warteschlange vorbei.
Als sie ankam und das Kindbettzimmer betrat, lag da Otty und schlief. Dahinter stand Karl und schaute zum Fenster hinaus, mit den Händen in den Hosentaschen. Am Bettrand saß Hans und hielt den Neugeborenen vor seinem Bauch, welcher seine Arme wie Fühler umhertastete und leise durch winzige Nüstern schnaufte.
»Und?«, rief sie, aus der Puste gekommen. »Ist alles gut gegangen?«
»Hallo Mutter«, sagte Hans. »Ja. Alles in bester Ordnung. Es ist ein Junge. Wir haben uns entschlossen ihn Peter zu nennen.« »Wieso denn Peter?«, fragte Kollwitz verblüfft und rang weiter um Luft. Ihren Peter, als solle er durch den Namen wieder auferstehen. Ihren Peter, als gäbe es zwei der Sorte, wenn man nur so tat als ob. Sie riss sich zusammen und beruhigte ihren Atem. Hans stand auf, legte ihr den neuen Peter in die Arme und sie betrachtete das kleine Neuleben: Ein Köpfchen wie eine eingewachsene Kartoffel, die Händchen nicht größer als Erdnüsse und auch geistig glich sein Hirnchen noch mehr einer Tomate als dem eines Menschleins. Doch so langsam schienen seine Sinne zu erwachen: Es nahm Geräusche wahr, Lärm, das sah man an seiner verzerrten Augenpartie. Es roch, Gestank, das merkte man an dem Hochziehen seines Näschens. Licht drang ihm durch die Augenschlitze, Grelle, sein aufgerissenes Mündchen war Indiz genug um Beweis zu sein. Nach kurzer Weile pegelte sich der Lärm herunter und wurde ihm differenzierbar, der Gestank wich Düften und formte sich zu einem Eindruck, das Bild schärfte sich und es sah einem alten, unscharfen, skeptischen Wesen ins Gesicht. Kollwitz blickte mit erhobener Augenbraue zurück. Die gleiche Geschichte von vorn. Das Kleinkind lernt laufen, dann sprechen, entfernt sich, verfolgt eigene Ziele und, wer weiß, zieht eines Tages aus einer Fantasie heraus in den nächsten Krieg und stirbt zu früh. Aus irgendeiner noch kindlichen Stolperei im Geiste. Einer Zuckung. Doch als Karl seinen Arm um sie legte und sie gemeinsam auf das kleine Peterchen sahen und die Erinnerungen an ihren Ersten damals zurückkamen, spürte sie, wie der Frost an ihren Nerven abschmolz. Dann ging Karl zu seinem Sohn, umarmte ihn, klopfte ihm voller platzendem Vaterstolz auf die Schulter und stellte sich gerade vor ihn hin, um ihm wiedermal eine seiner Weisheiten aufzusagen: »Mein Sohn!«, begann er, wie sooft. »Wieviel höher ist es doch, welche Medaille wiegt reineres Gold, als wenn ein General dich ›Offizier‹, als wenn ein Dekan dich ›Doktor‹, als wenn ein Historiker dich ›Vorreiter‹ nennt? Das ist, wenn ein Kind dich ›Papa‹ heißt. Welch größeren Orden, welch frischeren Lorbeer, welch renommierteren Preis willst du gewinnen, als das ›Schatz‹ deiner Frau? Keine Ehrennadel, keine Urkunde, kein Ansehen gibt es ernster zu erringen, als dieses lächerlich romantische Verdienst. Nicht der Soldatentod, nein, nicht der Helden- oder Märtyrertod belegt einen Mann mit Ehre – sondern der Alterstod, der Krankenhaustod, der Unfalltod, der ungewollte. Kämpfen um das Leben, nicht das Überleben. Das ist nun dein Pfad als Vater. Sei deinem Sohn Vater, so wie ich dir einer war. Und …« »Ja, Vater, ist gut«, unterbrach ihn Hans. Otty war aufgewacht, begrüßte Kollwitz und streckte schläfrig die Hände nach ihrem Baby aus. »Nichts bremst die Mutterliebe«, kommentierte Karl zufrieden und stemmte die Arme in die Hüften. »Was weiß ein Mann schon von Liebe? Nichts.« Kollwitz gab ihr ihr Kind zurück. Als sie sie mit ihrem Kleinen auf der Brust sah, kam sie nicht umhin ihre Sorgen zu hinterfragen. War da nicht doch noch Freude? Ein Neugeborenes kann nichts, außer eines; aber das mit despotischer Macht: Es beseitigt alle Zweifel mit nichts weiter als einem rührenden Gähnen und einem zarten Fieps. Einfach so. Weil es noch nichts erlebt hat, weil da noch keine Meinung in ihm war. War da kein Anfang? War da nicht Leben? Ein erneutes Rascheln im Unterholz eines verbrannten Waldes? Lange hatten sie auf seine Geburt gewartet, nun lag er da, mit wissbegierigen Augen, Laute von sich gebend, die Fäustchen geballt wie ein Herakles, der zwei Nattern würgt. Der zweite Peter in einer kaputt gegangenen Welt. Da, um sie wieder ganz zu machen. O, mein kleines Peterchen, dachte sie. Ein glückliches und langes Leben sollst du haben, bei all meiner Hoffnung gegen all meine Erfahrung. Sei deiner froh und hüpfe los, in jeder Hand ein Glück, oder zwei. Als sie Otty und ihr Peterchen so ansah, war es ihr, als entdeckte sie in ihnen etwas von sich selbst, etwas, das vor sehr langer Zeit einmal dagewesen war; und als das Peterchen zurücksah, rülpste es zum ersten Mal und kotzte den letzten Rest Gebärmuttersaft über Ottys Schürze. Man lachte. Ein neues Element der Familie, ein ungesägtes Puzzleteil, ein kleiner Fisch, der leuchtet, in einem dunklen, unterirdischen Ozean.
X
Grosz flanierte durch die Straßen, es war Nacht geworden, um den Kopf freizumachen, wie einen Brief. Er ging auf einen Aquavit in eine Bierhalle, kam erfrischt, da es vier geworden waren, zurück und brachte dem Bettlerkrüppel vor der Eingangstür eine Flasche Bier mit nach draußen. Heute war der Abend spendabel, das könnte morgen wieder anders sein. Es begann wieder zu regnen. Er setzte sich unter eine vergessene Marquise, ließ die Welt in sich hinein, zwickte ein batteriebetriebenes Glühlämpchen auf dem Schirm seiner Schiebermütze fest, wie einst van Gogh seine Nachtportraits zu malen wusste, mit Kerzen auf seinem Hut – und zeichnete ein wenig, vergaß die Zeit.
Als der Himmel allmählich wieder aufzog beschloss er seinem Freund Wieland Herzfelde einen Besuch im Verlag abzustatten. Der Balldada von letzter Nacht, der immer arbeitete. Ein kleiner Besuch, um etwas zu plaudern, auch etwas Ehrliches zu trinken und vielleicht auch um etwas zu planen. Ein langer Weg, immer geradeaus, sein Kopf viel ihm in den Nacken. Keine Leuchte brannte über den Straßen, die Elektrizitätswerke streikten wiedermal und die Lichtkugel über der Stadt war ausgeknipst, auch die an der Schiebermütze. Der Sternenhimmel rauschte klar, warf silbernen Schimmer über den absonnigen Erdteil und perlte auf den nassen Pflastersteinen zurück. Er schaute nach oben hinaus, in das Lichtorchester der Nacht, dem Universum ins Gesicht. Gigantisch glotzte es in ihn zurück. Er machte Sternbilder aus und fragte sich, wie viele Jahre wohl schon zwischen ihnen lägen, den Sternen und den Erdlingen. Dieses rege Treiben in hiesigen Straßen und das ewige Glühen dort oben. Dieses ewige Nichts, diese unendliche Fülle. Alles leer und voll zugleich. Nichts hat eine Eigenschaft, denn es ist alle Eigenschaften. Es lohnt sich kein Gedanke daran, denn es ist alle Gedanken. Umhergeschleuderte Sonnen und ihre abgebrochenen Monde flogen in die Ewigkeit einer Kettenreaktion unbekannter Unbekannte um sich herum. Genauso wie hier unten. Dort, wo das Selbst ist und bleiben muss, die Kreatur, das Eine in Allem, ist etwas, eines, aber mehr auch nicht. Man wird es vielleicht eines Tages ermessen können, aber niemals erraten. Das Ereignis der wahren Natur ist für die menschliche Wahrnehmung zu langsam, oder zu schnell, um es zu verstehen. Und aus der Not dessen, aus dem Bedürfnis mehr zu sein als nur das Eine aus einem Zufall im All, aus dieser Not töpferten sich einst die Menschen ihre Götter zusammen. Und dann hatte man den Salat. Sie gaben viele Fragen auf, aber niemals Antworten, diese Sterne und diese Wunder. Er blieb stehen, mit beiden Beinen auf dem Boden gravitiert, in Ort und Zeit versetzt, in unendlicher Umrundung aus unerfindlichen Gründen auf den Planeten geklebt. Die Welt, nur ein Ort, das Leben, nur eine Zeit. Was bleibt einem schon übrig, als weiter zu ziehen, sich vorwärts zu tasten, auf- und unterzugehen wie die Sternenbilder. In solchen Momenten, wo der Nachthimmel rund und das Herz weit wird, fühlt sich der Mensch, fern ab jeder Beschreibung, inmitten der Absurdität des Seins.
Er schlenderte weiter, mit dem Hirn im Äther und Sternen in den Augen, dann bekam er einen Stoß vor die Brust und landete in der Realität. Ein Laternenmast hatte ihn gebremst, gut getarnt im finsteren Nachtschatten. Das perfekte Relief für einen notorischen Tollpatsch wie ihn. Die aktiven Ratten quiekten einen unerhört lauten Nachtgesang, die Hunde waren knurrend auf der Jagd nach fetten Leckerbissen und rasselten an Grosz‘ Beinen vorbei. Der Planet machte ihn mit akuter Physik wieder auf sich aufmerksam, seine Gravität war ihm sein beständiges Werkzeug. Da war er wieder, umging die Nicht-Leuchte und nahm seinen Weg auf.
Oben im Dachgeschoss brannten noch Kerzen, echte Kerzen, in einer vergleichsweise winzigen Mansarde. Er ging das Treppenhaus hinauf, stolperte einmal. In den Wohnungen löschte man die Öfen, darum roch es in den Fluren nach kalter Kohle. Oben angekommen öffnete er die Tür mit der Aufschrift über dem Klingelknopf: »Malik-Verlag. Jedermann sein eigener Fußball.« Darüber das Firmenemblem, das er vor einer Weile entworfen hatte, eine etwas dadaistisch anmutende Buchstabenkonstellation, ins Abstrakte abgleitend. Auf keinen Fall aber abstrakt!
Herzfelde saß an seinem Schreibtisch und sortierte vollgekritzelte Korrekturfahnen. Texte, Essays, Gedichte, Zeichnungen, Collagen, alles, was man zu Papier bringen konnte. Das bimmeln des Glöckchens schien ihn nicht aus seinem Fokus zu lösen. Der Raum war wie ein großes Wohnzimmer eingerichtet, oder wie eine Lobby eines guten Hotels. Sofas standen in der Mitte um einen Tisch herum auf einem blau-rot-weißen Stickteppich, Wände gab es nicht, nur volle Bücherregale, viele Hefte. An der Rückseite führten zwei lange Stufen zu einer Anhöhe, auf dem ein Schreibtisch stand an dem Wieland saß und sich in Papier vergrub.
»N’Abend Wiz«, sagte Grosz und schloss die Tür hinter sich, nahm seinen Mantel und warf ihn auf eine Sessellehne.
»Guten, George, warte«, sagte Herzfelde, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
»Gelungener Abend gestern, Herr Balldada.«
»Ein Schritt in die richtige Richtung. Setz dich, mach es dir bequem, arbeite ein wenig. Ich muss hier noch ein paar Dinge redigieren.« Seine konzentrierten Augäpfel rollten in konzentrischen Kreisen über seine Papierstapel. Er blätterte, faltete, beschrieb und war ganz und gar in Buchstaben vertieft. Grosz ließ sich also auf sein Lieblingssofa in seine angestammte Sitzkuhle fallen, zog einen Stift aus seinem Gürtel, nahm sich einen Block vom Couchtisch und kritzelte, wie er es in letzter Zeit immer öfter tat, locker aus der Hose heraus und einfach drauf los. Das Kratzen seiner Mine auf dem Papier war neben dem Rascheln von Herzfelde das einzige Geräusch im Laden. Der Stift zog laute Striche in regelmäßiger Abfolge wie Klopfzeichen. Lang, kurz, kurz; kurz, lang; lang, kurz, kurz; kurz, lang. Plötzlich guckte Herzfelde aus seinem Blättergewühl auf wie ein Erdmännchen.
»Dada«, sagte er und Grosz blickte ebenso fragend auf.
»Hast du was gesagt?«
»Dada. Lang, kurz, kurz; kurz, lang; lang, kurz, kurz; kurz, lang. Das sind Morsezeichen. Und sie bedeuten D-A-D-A. Dada. Du weißt, ich war Funker, ich höre so etwas. Machst du das mit Absicht?«
»Ich verstehe kein Morsisch.«
»An was arbeitest du?«
Grosz nahm seinen Entwurf hoch der genauso gut als Endpräsentation hätte dienen können.
»Ich porträtiere dich, Wiz«, sagte Grosz. »Ich zeichne einen Privatverleger, der mit Leibeskräften versucht auf das Großkapital zu kacken. Hier in der Hocke – das bist du.«
»Und was ist das da unter mir?«
»Das ist der Papst.«
»Aha. Und das da?«
»Das ist Hindenburg. Und das da, das soll Martin Luther sein.«
»Luther, aha, warum nicht.«
»Ich glaube, ich nenne es den ›Heiligen Stuhl‹.«
Herzfelde neigte den Kopf und zog seine leichten Stirnfältchen grüblerisch gegeneinander.
»Klingt gut«, resultierte er, beendete die Bedenkzeit und machte sich weiter an seinen Korrekturfahnen zu schaffen. Lang, kurz, kurz; kurz, lang; lang, kurz, kurz; kurz, lang.
Auf einmal stand er auf, klopfte einen Stapel zusammen, schlug ihn kantwärts zweimal auf die Tischplatte und legte ihn auf einen weiteren Stapel.
»George, komm her, sieh dir das an.«
Grosz legte sein Zeichenzeug beiseite, ging die zwei Stufen hinauf, trat an den Schreibtisch und sah eine anarchische Zusammenstellung von Schriftwerk, einige seiner Bilder, jede Menge ausgefüllte Notizzettel, welche des Öfteren schon zerknüllt und wieder aufgefaltet waren.
»Was soll ich sehen?«, fragte er. »Sieht nach Chaos aus.«
»Chaos ist der Ursprung aller Hierarchie«, postulierte Herzfelde. »Information, George, Information. Zuerst die Funktion, dann die Form, dann die Kunst, dann die Ordnung – Information.«
»Ich sehe Eselsohren und Kaffeeflecken.«
»Noch.«
»Die Überschriften«, kommentierte Grosz. »Die sind mir auf den ersten Blick zu kompliziert, zu lang.«
Herzfelde griff sich an die Hosenträger und schüttelte den Kopf. »Es sind Zungenbrecher, George, der Leser soll stolpern und sich aufrichten müssen um den Inhalt zu verstehen.«
»Das fängt nicht alle Leser«, wandte Grosz ein.
»Ja, aber die Guten.« Herzfelde wuselte sich im Haar herum. »Falls du es noch nicht gemerkt hast, George, unser Verlag arbeitet orientiert. Wir sprechen nicht jeden an, denn wir dulden nicht jeden. Zum Beispiel sind Analphabeten keine Zielgruppe, ebenso wenig wie Nationalisten oder Fabrikantensöhne. Wir sind kompliziert. Man muss die Gabe des Sarkasmus besitzen. Erst wer Sarkasmus versteht, kapiert überhaupt irgendetwas. Wer kein Sarkast ist, versteht überhaupt nichts. Für den hat dieses Blatt auch keinen Wert.«
»Gegen Sarkasmus habe ich gar nichts«, sagte Grosz überrascht von der ausgiebigen Antwort.
»Du bist Maler, George. Das sind Worte.«
»Worte.«
»Na also.« Herzfelde kramte in einem Stapel herum und zog ein paar Seiten heraus. »Nur wer einen starken Magen hat und nahrhafte Kost verträgt, kann unser Leser sein. Eine Probe von etwas Kontemporärem?«
»Dann lass hören«, sagte Grosz.
Herzfelde hob die Blätter vor sich hin und begann mit seiner spontanen Lesung:
»Der Titel lautet: ›Ein jeder ist dem Nächsten Gegner.‹ Es beginnt mit einer Aufzählung, starke Nomen, starke Wirkung, also: Platten lochen, Ösen stampfen, Schrauben schrauben, Nieten schweißen, schwitzen, stinken, Eisen aus Schmelztiegeln schöpfen und in Schalung gießen, Teile durch die Fabrikhalle schleppen und auf den Lagerhaufen schmeißen. Die Produktion spieh giftige Rauchfontänen und sprühte Funken auf die Häute. Aus den Öfen hörte man die Felsen knacken, zischende, silberne Lava floss aus ihnen heraus und wurde zu Eisenstangen oder Stahlträgern verarbeitet. Die Dämpfe fraßen sich in den Sauerstoff. Maloche im Moloch, der reinste Dreck. Schlecht bezahlt, aber bezahlt. Verstehst du, George? Soll ich weiterlesen?«
»Lies weiter.«
»Die Gewerkschaftsbrüder waren Argwohn gewohnt. Jeder Tag glich dem anderen, die Schichten waren lang, die Nächte waren kurz. Die Halle war in zwei Welten aufgeteilt. Unten, in der Maschinenwelt, da arbeitete der Fabrikarbeiter an den Feuerspuckern und zählte die Stunden. Oben, in der Papierwelt, dort saß der Papiermacher und zählte Rohstoffein- und Warenausgänge und verrechnete sein Werk in seinem Tabellarium. Und unten, dort schob der Fabrikarbeiter Panzer in die Schmelzöfen und verbrannte sich die Haut. Immer die gleiche, kreuzverschleißende Bewegung, Tag ein, Tag aus. In seiner Routine zu Träumen gebracht, sah der Fabrikarbeiter nach oben und stellte sich die Frage des Geldes, welche ihm mit der Frage des Glücks gleichbedeutend war. Wo liege all das Geld, von dem jede Woche ein wenig in einen Briefumschlag gesteckt und ihm anlässlich seines Überlebens in die Hand gedrückt wurde? Wo flossen die großen, reißenden Ströme? Er selbst saß nur an einem Ausläufer, einer versiegenden Quelle vielleicht. Der breite Fluss, er sprudelte weit von ihm entfernt an ihm vorbei. Er mündete in größere Flüsse, trennte Landschaften und tat sich wohl irgendwann auf in ein Meer. Ein Meer aus Gold. Wo war dieses Meer? Wer wohnte an seiner Küste? Wer sah dort jeden Abend die Sonne am Horizont untergehen, ein Ozean voller Silberglanz, der Himmel voll von warmem Buddha-Gelb und Geld soweit das Auge reicht. Wo schwamm all der Mammon herum? Für die Öfen, die Kräne, die Hallen, die Schiffe und ihn – die volatile Arbeitskraft?
›An die Arbeit!‹, schrie der Gewerkschaftsbruder neben ihm und lud ihm eine abgenutzte Stangenschalung auf sein Kreuz. ›Ab dafür!‹
Die Knie des Fabrikarbeiters bogen sich unter den Kilos, wie ein beladenes Kamel schlurfte er mit langer Schnauze zum Abfalllager. Die Augen der Arbeiter waren müde und angelaufen. Jeder gähnte und ächzte, alle hofften auf den nächsten Streik. Nicht für mehr Lohn – nur für eine Pause von den Knochenmühlen. Der Fabrikarbeiter lud die Schalung auf dem Haufen ab und knackste seine Wirbelsäule zurecht. O, wo war ihm dieses Meer aus Gold? Ein kleines Meer inmitten eines Wüstenplaneten, ein volles Loch im Zentrum eines Pangäas, von wenigen Küstenbewohnern zu Privatgebiet erklärt und abgegrenzt hinter unsichtbaren Zäunen, die ganze Welt ausgesperrt und alle Arbeiter zu Insassen gemacht.«
Grosz setzte sich auf den Tisch, nahm eine Zigarette aus Herzfeldes Packung und sah ihn skeptisch an.
»Da kommst du gleich wieder mit der Kommunistenkeule, Wiz. Nachfühlbar erzählt mit bildlicher Sprache, aber es klingt ja doch nur das alte Lied der sozialistischen Revolution durch die Zeilen.«
Herzfelde wedelte beschwichtigend mit der Hand.
»Das war auch erst die Einleitung, George, der Geduldige weiß am Ende oft mehr.« Er nahm eine Streichholzschachtel aus der Tasche und warf sie Grosz zu. »Also«, sprach er.
»So wie der Fabrikarbeiter zurück an seiner Maschine war zog er an den nächsten Hebeln und drehte an den Hähnen. Auf einmal brach ein überhitztes Rohr neben ihm auf und versengte seine Kopfhaut in heißem Dampf, er atmete das Gift und embolierte daran, seine Herzmuskeln zuckten und krampften sich zusammen und er fiel mit rauchendem Kopf zu Boden.
›Aufstehen!‹, schrie der Gewerkschaftsbruder, der ihn dort liegen sah. ›Aufstehen, verdammte Kacke!‹
Der Fabrikarbeiter hielt sich die Kehle zu, seine Augen schielten im Wahn zu beiden Seiten wie ein panischer Stier.
›Aufstehen jetzt!‹ Der Gewerkschaftsbruder kam zornig auf ihn zu und versuchte ihn hochzureißen, zwei andere Fabrikarbeiter kamen ihm zu Hilfe, doch der Entstellte fiel immer wieder zu Boden und pfiff aus letztem Lungenloch.
›Scheiße nochmal!‹, bellte der Gewerkschaftsbruder die beiden Helfer an. ›Wer ist gerade Sanitäter?‹
Die Helfer schüttelten die Köpfe, der Fabrikarbeiter wurde starr und die Abstände zwischen den Atemzügen wurden kürzer.
›Den Verbandskasten!‹, befahl er und die Helfer rannten in zwei verschiedene Richtungen, wissend, nicht zurückzukehren. Währenddessen ging der Fabrikarbeiter auf das schönste Licht zu, das er je gesehen hatte. Es lockte ihn und zog ihn zu sich, eine warme Stimme sang ihm das raffinierteste Gedicht, das er je vernommen hatte. Er wurde zweiundzwanzig Jahre alt.
›Tot!‹, schrie der Gewerkschaftsbruder. ›Tot!‹, schrie er den herumstehenden Arbeitern zu. ›Seht ihr was hier passiert?‹ Er sah in ihre erwartungsvollen Angesichter. ›Hier sterben Menschen! Das bedeutet Streik!‹
›Streik!‹, jubelten die Arbeiter und warfen ihre Werkzeuge in die Öfen und ihre Fäuste an die Hallendecke. Die Ketten knatterten in den Zahnrädern und die Tore öffneten sich und ließen Sonnenlicht und frische Luft herein. Einige hoben die junge Leiche hoch und trugen sie voran zum Ausweg in die Freiheit. Wie ihren Messias, der für ihre Sünden an der Maschine gestorben war.«
Grosz drückte seine Zigarette in den Aschenbecher. »Schön«, sagte er, »doch werde ich den Ohrwurm dieser Sozialistengesänge nicht los.«
Herzfelde sah ihn besserwisserisch an und zog die Mundwinkel hoch.
»Erstens, George, war das hier erst das Initial, das Furioso folgt jetzt und zweitens würde ich mir etwas mehr Empathie von dir wünschen, das Lied mag alt sein, doch real ist es leider auch.«
»Ich bin still«, sagte Grosz und machte sich eine weitere Zigarette an.
»Also«, sprach Herzfelde. »Oben, über dem Ausgang thronte das Büro des Papiermachers mit Panoramablick auf das Fabrikgeschehen. Der Papiermacher saß am Schreibtisch und tabellierte mit seinem Kopf in sein Zahlengeflecht verstrickt. Er horchte auf, als er Gebrüll und Stampfen hörte und stellte sich ans Fenster für eine Situationsanalyse. Arbeiterströme gingen da unter seinen Füßen hindurch und es war noch nicht einmal zwanzig Uhr dreißig. Er runzelte die Stirn. Was war passiert? Wie kam es zu dieser dysfunktionalen Menscheneruption? Es gab keinen mathematisch nachvollziehbaren Anlass zu einem Streik. Es musste sich also um etwas Prismatisches auf der Emotionsebene handeln. Eine äußerst störende Variable in einer komplexen Formel, die Reibungslosigkeit bedürfte um zu greifen. Er absolvierte die notwendigen Telefongespräche, schrieb die letzten Umsätze in seine Kalkulation, subtrahierte die vorerst gesunkenen Personalkosten, deckelte die Vorschüsse, nahm sein Jackett vom Kleiderständer und machte Feierabend.«
»Und dann?«
»Ruhe, George. Als er nach Hause kam, wartete seine Frau schon vorfreudig auf ihn. Sie hatte die beiden Mädchen eingesammelt, fünf und sieben Jahre alt und sie erschreckten ihn mit einem frisch gebackenen Kuchen als er pünktlich zur Tür hereintrat. Es war ein gewöhnlicher Tag, kein Geburtstag oder Jubiläum, die freudige Überraschung beinhaltete keine mathematische Bedingtheit. Sie hatten sich nur auf ihn gefreut. Der Papiermacher hängte sein Jackett an den Haken, breitete die Arme aus und umarmte seine drei Damen. Wie süß sie ihm waren. Wie vernünftig und beständig ihm das Leben mit ihnen war. Er gab seinen Prinzessinnen liebe Küsse auf ihre Köpfchen und seiner Königin einen liebenden auf die Lippen.«
Grosz drückte den nächsten Stummel in die Asche und unterbrach ein weiteres Mal.
»Ich verstehe, Wiz, der eine ist qualvoll verreckt, der andere führt unbeeindruckt ein schönes Leben. Die Quintessenz soll also lauten: Der Mensch ist unschuldig, das System ist schuld. Zeige dem System deinen nackten Hintern und es zeigt dir seinen. Kommt mir bekannt vor.«
»Nun, George«, sagte Herzfelde, »um es für dich abzukürzen: es geht damit weiter, dass die Streikenden sein Haus anzünden und um die Tatsache, dass Papier gut brennt. Aber ja, im Großen und Ganzen geht es damit zu Ende, dass der Mensch nicht böse handeln will, aber dadurch, dass er von Systemen gezwungen wird das Richtige zu tun, Verbrechen an seinem Nächsten verübt. In direkter Form, wie die Streikenden, die Fackeln durch die Fenster werfen, als auch in indirekter Form, wie der Papiermacher, der beflissentlich die Kosten drückt. Beide handeln aus ihrer Position heraus richtig, doch handeln sie, wenn man das Problem von oben aus betrachtet, beide bösartig. Also ja, das System ist schuld, es ist zu einfach, nicht wahr?«
»Tja, nur glaube ich nicht, dass irgendein Übermensch ein böses System geschaffen hat, um einen Keil zwischen die Menschheit zu treiben.«
»Das sage ich auch nicht. Das System hat sich selbst geschaffen, da gibt es keinen Schöpfergott oder Hades, der da wirkt, denn es ist kein System im eigentlichen Sinne, sondern ein Gefüge. Das System ist die Idee, die der Mensch hat, wenn er einen Plan entwirft, wie seine Träume aussehen – das Gefüge ist das, was dann daraus entsteht. Alle fromme Fantasie zerbricht an einem Wimpernschlag der Realität. Der Zufall hat den dunkelsten schwarzen Humor. Die repräsentative Demokratie beispielsweise: aus einer Mehrheit bildet sich der gemeinsame Plan in eine gemeinsame Zukunft – das klingt klug, wichtig und vernünftig. Doch nur, weil es eine Mehrheit für etwas gibt, bedeutet das ja nicht, dass diese auch gerecht und richtig handelt. Eine Mehrheit bedeutet nur eine physische Überlegenheit gegenüber einer selbstgeschaffenen Minderheit. Und Karriere in der Mehrheit machen die Spezialisten, die Grübler und Schnüffler der Minderheit bleiben, wie der Name schon sagt, gering. Die Spezialisten, George. Sieh es anhand unserer demokratisierenden Zeit: Der Spezialist für Wirtschaft entscheidet über Wirtschaftsangelegenheiten – Beispiel Schmidt. Wie erschafft man mehr Geld? Man druckt es – die Folge: Inflation und neue, ja, noch größere finanzielle Seifenblasen – aber er als Spezialist hat seine Spezialaufgabe gelöst. Der Spezialist für Krieg beschäftigt sich mit Kriegsangelegenheiten – Beispiel Noske. Wie entwaffnet man die Spartakisten am schnellsten? Man erschießt sie – die Folge: Ganze Familien, die Rache schwören und unerfindlich größere Widerstände zu späterem Zeitpunkt – aber der Spezialist hat seine Spezialaufgabe gelöst. Und so weiter durch das ganze Reichskabinett. Sie alle tun das Richtige aus ihrem Amte heraus und dadurch handeln sie bösartig. Banale Realität zerschneidet die umsichtigste Fantasie. Ich fasse zusammen, die Spezialisten: Sinnlose Arbeit produziert Sinnlosigkeit, wie im Beispiel eins. Blinder Aktionismus produziert Reaktionismus an sich selbst, wie im Beispiel zwei. Wenn sich so eine Demokratie einbürgert, hat die Menschheit bald versagt. Man sollte nicht wählen, man sollte würfeln.«
»Du willst die Monarchie zurück?«, fragte Grosz.
»Um Gottes Willen, George. Nicht erben, würfeln sage ich.« »Was wäre dann deine Utopie, Wiz?« »Ich lasse mich nicht in eine Utopistenecke schieben, George, ich bin ganzheitlich. Es ist doch so, die Entstehung eines Systems, ab ovo betrachtet: Im Normalfall wird um das eigentliche Anliegen, nennen wir es das ›friedliche Zusammenleben aller Menschen‹, zielgenau herumdebattiert. Dann findet man die schlechtmöglichste Antwort auf die von vornherein falsch gestellte Frage und schafft ohne Not ein weiteres und neues Problem, das seinerseits wiederrum umfangreich umgangen wird, bis man sich letztendlich reinweg von der Realität verabschiedet hat. Es tut mir leid, mein Freund, aber mir bleibt nur eine Entropie.« »Nihilismus«, fügte Grosz hinzu. »Ganz im Gegenteil, Omniaismus, was auch immer. Irgendeinen Ismus unter all den Ismussen wird es schon für mich geben. Komm ran, ich setze noch einen frischen Kaffee auf, willst du auch einen?« »Es ist nach Mitternacht«, sagte Grosz. »Ja, genau«, entgegnete Herzfelde und ging an den Gaskocher. »Nach Mitternacht nur noch Alkohol.« Grosz war durstig. Also nahm Herzfelde wie ein einsichtiger Demokrat einen Korn aus der Schublade und füllte zwei Gläser auf. »Und?«, fragte Grosz. »Wie glaubst du entstehen diese Phänomene, diese Gefüge?« Sie kippten den ersten jungfräulich hinunter. »Gefüge, ja«, wiederholte Herzfelde, während er die nächsten Gläser auffüllte. »Ich sage mal ganz salopp, dass es sowieso nur zwei Arten von Menschen gibt: Jene, die Denkenden, wie uns, und solche, die es nicht über eine gewisse Intelligenzschwelle schaffen. Weißt du wen ich meine? Die Gedankenlosen, oder die Gedankenfreien, je nach Perspektive. Solche, denen jene alle Erklärungen geben können, die sie ja doch nie begreifen werden. Solche, von denen man sagt, dass man ihnen alles zweimal sagen müsse, aber du kannst es ihnen hundertmal sagen, sie werden die Hürde nicht schaffen. Solchen muss man also etwas geben woran sie sich festhalten können. Ein sinnloses Gesetz zum Beispiel, wie das Verbot von Rauschmitteln eventuell, oder die Sperrstunde. Etwas, woran sich keiner hält, worauf sie sich aber berufen können, wenn sie wiedermal nicht verstehen können worum es geht. Denn wenn sie eines nicht haben, dann sind das Argumente. Mit solchen meine ich Spießer, Kleinkarierte, Konforme, selbsternannte Erwachsenenerzieher, solche eben, die immer unter Zeitdruck stehen, aber nie etwas zu tun haben. Auch denen musst du in der Demokratie, oder der Monarchie, oder in welchem System auch immer, etwas an die Hand geben, auf das sie sich stützen können, auch wenn du sie verachtest. Man soll sich ja nicht wegen Kleinigkeiten gleich umbringen müssen. Wir stehen noch ganz am Anfang, alter Freund. Die Demokratie ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss.« »Vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung«, sagte Grosz. »Oder in die falsche, mein Freund, oder in die falsche. Wer weiß, wen die noch zu wählen imstande sind.« Herzfelde goss nach. Er ließ gern alles offen. Auch die Flaschen, die geöffnet wurden, wurden ausgetrunken, nicht verschlossen. Also tranken sie, einen nach dem anderen, fabulierten Paralleluniversen zusammen, kundschafteten die möglichen Achsen aus und gerieten in Universalienstreitigkeiten, rauchten, tranken wieder. Solange, bis sich alles um Grosz herum verfinsterte, als hätte man ein Tintenfass über ihm entleert. Sein Freund Herzfelde verstummte, die Tinte lief über seine Ohren, der Raum drehte sich ab von ihm und verschwand, es lief ihm über die Augen. Das ganze Gesicht war mit Tinte bedeckt, der Rausch hatte eingesetzt – ihm war man ausgesetzt, auf Gedeih und Verderb, auf Hochmut und Zerfall.
Einige Stunden später kam Grosz im Sturztrunk durch die Holztür seines Apartments gebrettert. Die späteste Nacht oder der früheste Morgen warf Saphirblau durch die Jalousien und schraffierte die Sperrmüllmöbel. Es war geschätzte drei Tage vor Sonnenaufgang. Eva schlief noch fest im Schlafzimmer, ihr Schlaf war ein Segen, den er nicht genoss. Er stolperte durch das Finster und suchte das Pendel des Lichtschalters, was sich komplizierter als gedacht herausstellte, da der Gleichgewichtssinn spürbar Lücken aufwies. Alle Gründe, weswegen er sich zugeschüttet hatte, mussten nun ergründet werden, benutzt, verarbeitet, gewechselt, wie Währung. Gerechtigkeit hatte ausgesetzt, Gleichgewicht hatte ausgesetzt, es blieb nichts übrig, er musste nun malen, pinseln, streichen, kritzeln, klatschen, was auch immer, frei von gedanklichen Bremsklötzen; es führte gar kein Weg daran vorbei. Sein Schaffensdrang zwang ihn hin. Kein Widerwort, nun gab es schlussendlich nur noch eine letzte Medizin. Der Alkohol hatte versagt, auf seine Art. Und er warf sich auf den Papierhaufen auf dem Boden vor dem Sofa, schwang sein Handgelenk nach einem Kohlestück das in der Gegend herumgelegen hatte und fing an zu fallen, fiel in die Vielheit seiner Kritzelei hinein, rang dem leeren Papier Bedeutung ab. Dort landete er als Strichmännchen bei den Strichmädchen in ihrem Strichhaus; in einer zweidimensionalen Welt die nach der dritten Dimension strebte und jeden Kreis als Ball und jedes Dreieck als Pyramide wahrnahm in ihrer beschränkten, zweidimensionalen Erkenntnismöglichkeit. Und in der Mitte saß ein fetter Geldsack und zählte seinen Goldschatz und wurde mehr und mehr von Kreis zu Ball. Der reiche Sack. Und das Strichmännchen hob seine Stimme und sang dem Geldball das warnende Lied seiner Stricherwelt. Und das arrogante Großkapital wurde plötzlich ganz klein als Grosz mit seinem Kohlestück sein Schicksal mit dem Stifte sprach:
Achte wohin du trittst, Übermächtiger
Langsam unterhöhlen dich deine Totengräber
Langsam vergiften dich deine Ärzte
Langsam zersägen dich deine Kinder
Achte wovon du frisst, Übervoller
Manche Hure schlitzt Schweinebäuche
aus denen Unterhalt fließt
Mancher Freund spannt scharfen Draht
hinter gestütztem Rücken
Mancher Spross hält spitzen Dolch bei inniger Umarmung
Achte wie die Uhr tickt, Überfälliger
Aus jedem ringbesetzten Finger saugen
Wohlstandswelpen deine Honigmilch
Bis zum letzten Tropfen fleischen
sie sich Speck aus dir heran
Saure Erde und brennende Blumen
werfen sie dir in deinen schmalen Sarg
Knote dir lieber einen Strick, Überschüssiger
Trete von dem Stuhl in die Luft,
wie deine Vorgänger und Vorhänger
Stürze deine Feinde in würdelosen Erbenkrieg
Ihr Weltenbrand sei dein letztes blasses Werk,
dein letzter Krebs, dein letzter kranker Hauch
Achte was du bist, Überlieferter
Staubiger Atem schnaubt aus deiner einsamen Büste
Du Statue eines menschenleeren Platzes,
du zerbrochene Skulptur
Passanten müssen pissen wenn sie dich passieren
Niemand will dich dann mehr fressen,
alle wollen dich, endlich, vergessen
Grosz schoss mit der Kohle über den Blattrand hervor und hielt es über den Kopf. Fertig, Schluss, Aus, Ende. Er riss das Blatt weg und warf es hinter sich in den Raum. Fertig! Basta! Alle inneren Stimmen verstummt. Im Ohr nur noch Rauschen. Es spendete ihm – Applaus. Er wollte sich von dem Papierhaufen erheben, sich feiern lassen von sich selbst, doch er fiel in ihn hinein, wie ein volltrunkener Erzengel in eine Gewitterwolke. Er griff noch nach seinem verbeulten Zigarettenetui um eine Letzte zu rauchen, doch der Rest der alten Nacht war nur noch lautes Schnarchen. Wie die Ankunft eines unterläufigen Flusses; still, ausgeglichen, gleichmäßig. Wild und klar und schnell schleuderte er sich ins Tal hinab, Nacht für Nacht. Nun ruhte er, wurde tiefer, dunkler, atmete aus und ergab sich in die Breite des Deltas. Guter, gerechter, fester Schlaf; du süßestes Honorar.
Ein unverfroren frühes Türklopfen weckte ihn an diesem schalen, schmalen Morgen. Langsam drehte er sich in seiner Krakelei, fasste sich an die wummernde Stirn und drückte sich das Kohlestück darauf. Ein vollgesogener Schwamm waberte da in seinem Schädel, ein Planetarium voll Kopfschmerzen. Quälendes Tageslicht, ein bisschen Rache der verdrängten Erfahrung, wider besseren Wissens – zugeschüttet. Wehe dem Fusel, gähnende Verdorrtheit in der Kehle. Ein leerer Magen und doch nicht hungrig, übersatt und übersättigt, Katersäure und kalte Glieder. Und jemand der da an der Tür klopft. Nicht aufstehen, liegen bleiben. »Schlaf!«, rief er sich innerlich zu, »schlaf!« Doch es war zu spät. Die Erkenntnis war schon da, jedes nächtliche Geheimnis wurde sichtbar und blass – der Tisch, der Stuhl, der Schrank standen unaufgeregt wo sie immer standen – keine Monster, Nixen, Labyrinthe oder Schlösser mehr. Nur Tisch, nur Stuhl, nur Schrank, nichts weiter. Er erhob sich in unsicheren Stand und driftete in die Küche an den Gaskocher, schwer wiegt die Erleuchtung. Eva war schon zur Arbeit gegangen und hatte ihm ein Frühstück dagelassen, das würde wieder Ärger geben. Der elende Türeklopfer hatte sich endlich verzogen und schlich davon auf seinen muffigen Dienstwegen. Der Traum der Nacht hämmerte ihm wie Trommelfeuer in den Ohren. Der Traum war immer noch da und verlor sich in seinem Apartment. Er hatte wiedermal von der Front geträumt. Der Bohnenkaffee schmeckte herrlich nach Wiedergeburt. Vorsichtshalber ging er zur Tür um nachzusehen ob da nicht doch noch einer lungerte. Niemand, nur der Nachbar von schräg gegenüber glotzte ihm entgegen, während er mit seinem Mittagessen unter dem Arm seine Tür aufschloss. Er dürfte die Fahne riechen, dachte Grosz, und er guckte ihm interessiert auf seine Stirn, als hätte er dort einen Fleck. Nachbarschaftshalber blieb man zuvorkommend und wechselte ein paar öde Worte. O weh, dachte Grosz mit Schädelwehmut, der kleine Sprech für Zwischendurch. Der kurze Talk im Hausflur. Das gefürchtete Bla-Bla. Das höflichkeitshalber Nachfragen, das freundlicherweise dazu eine Meinung-haben. Das Nett-sein, das Genauso-sein, das ja, ja, ne, ne, das Angleichen an die heile Welt von gegenüber. Niemand ist Alkoholiker, niemand ist arm, niemand schlägt seine Frau, niemand geht zu Prostituierten, niemand ist je im Krieg gewesen und hat auf die Knöpfe gedrückt, niemand hat was mitgekriegt. Alles gut. Wir sind nur Nachbarn. Muckst du jetzt nicht, mucke ich das nächste Mal auch nicht, wenn es soweit ist. Alles Gute und viel Spaß dabei. Der kleine Sprech für Zwischendurch. Nichts gesagt und doch geredet. War ja schön, aber reicht auch wieder. Mach die Türe wieder zu, ja, ne ist gut, aber beim nächsten Mal bestimmt. Auf Wiedersehen sagen, Lebewohl meinen. Bleib nett, bleib genauso, alles Gute und viel Spaß dabei, wie gesagt, genau, tschüß.
Endlich war die Tür wieder zu. Er setzte sich an die Staffelei in seinem Arbeitszimmer und begann mit seiner seriöseren Arbeit. Immer wieder kamen ihm die Bilder seines voranmarschierten Traumes wie Blitze, die er aus der Luft zu fangen versuchte und dann einen Pinsel in der Hand hielt. Er rührte in den Wunden der Verletzten, wenn er Farbe mischte. Er musste nur die Augen schließen, schon kamen die granatenwerfenden Gasgespenster auf ihn zu gerannt, er öffnete die Lider und das erloschene Bild fiel auf die Leinwand. Er beschrieb die filigrane Vielfalt und Partikeldichte in einem zur Hälfte abgesprengten Gesicht. Wie das MG 08/15 tupfte er mit dünner Borstenspitze viele kleine Löcher in die Menschen und Erdhaufen. Er bezeichnete die flachbrüstigen Heimkehrer von der Front und die vollbusigen Waffenfabrikanten dahinter. Er porträtierte Großmütter mit ihren Enkelinnen bei der Berufsausübung im Bordell. Das Selbstbildnis eines Zeitzeugen. Selbstbildnis mit Hure. Selbstbildnis mit Krieg. Selbstbildnis mit Knackwurst. Dann klopfte es abermals unverfroren an der Tür. Dahinter schallte eine helle, kloßige Männerstimme.
»Herr Groß! Aufmachen!«
Grosz ging zur Getränkekiste und öffnete eine Flasche Chabeso-Limonade.
»Herr Groß, allerhöchste Eisenbahn! Stehen Sie auf! So lange schläft doch keiner! Aufstehen! Aufmachen! Die Tür! Offizielles Mahnschreiben, Herr Groß!«
»Himmel, Herrgott, Arsch!«, fluchte Grosz an die hellhörige Decke. Ihr Unterbrecher – ihr Verbrecher! Ihr feisten, dreisten Zeitdiebe! Er nahm einen klebrigen Schluck Zuckerwasser und warf den Pinsel in die Ecke mit den aufgeschraubten Farbengläsern und Wasserbechern. Ihr stehlt mir die kostbare Arbeitszeit mit eurem Bürokraten- und Terrorschwatz. O, und geschwätzig seid ihr, habt nichts Wertvolles zu tun, nichts, was mit meiner Arbeit zu vergleichen wäre. Nichts habt ihr im Schädel! Nur Erbärmliches geschieht in euren kleinen Beamtenköpfchen unter euren Beamtenhütchen. Schamlos und unverlegen zwingt ihr mich zu eurer weltlichen Geschäftigkeit herab. Tik, tak, tik, tak – Beamtenfleiß. Meine Nerven! Hört denn niemand auf meine Nerven? Ihr Zeitdiebe! Auf euren trojanischen Mauleseln fallt ihr mir die Türe ein und reitet mit meiner Zeit unter euren Armen davon! Ihr Zäterer und Plauderer, ihr habt mich noch nie überzeugt! Also bringt mir eure Argumente heran, ihr Zäter-Affen und Plauder-Taschen. Ihr Luftbläser, Wunderlämpchen und Armleuchter!
»Himmel, Herrgott, Arsch!« Wutenthemmt stapfte er der Tür entgegen und riss das Sperrholz auf. Dort stand er, der stachlige Spießer, der unterste Gerichtsdiener, hielt eine Vorladung vor sein ausladendes Gesicht. Nur der Bote dummer Nachrichten.
O, du Gerätmensch, dachte Grosz. Du Motorenkrachen, Kettenknattern, Auspuffröhren, Schraubenklappern, Mutterrasseln, Hubraumdröhnen, Eisenbrechen, um mit starken Nomen anzufangen. Willst mir einen geschäftigen Buckel machen, damit ich an Aussicht büße. Eine ganze Welt, die Welt des menschlichen Verstandes, kannst du gar nicht wahrnehmen, du Fähnchen im Winde, da dir der Sinn fehlt, Fadenwurm der du bist. Lesen kannst du davon, hast du ja gelernt, das Lesen, doch verstehen wirst du es nie. Dröger Gehorsam dient dir als Erfüllung und macht dich satt. Wie sagte Wizzie noch? Das Richtige tust du, weil du es nicht besser weißt. O, wie unähnlich du mir bist. Wie hässlich. Maschinenmensch. Machst die Welt einfacher für die Einfachen. Legst dich lästig an mein Kopfkissen, oder schleichst dich an meinen Arbeitstisch und schlägst dein Beil in mein Gesicht. Spaltest meine Illusionen von der ursprünglichen Schönheit aller Natur und kotzt deine Gleichgültigkeit über mich über mich. Aus den Idyllen meiner Träume schlägst du mich mit einem Pflock in den Hinterkopf, als wäre ich ein Vampir, während du einer bist. Mit maschineller Gewohnheit – denn Wiederholung ist für dich Notwendigkeit. Maschinenmensch. Welcher Stempelhengst hat deinen gottverdammenden Knopf gedrückt? Meine Nerven! Er riss ihm die Vorladung aus der Hand und knallte die Türe zu, noch bevor der Bote dummer Nachrichten seinen Zeigefinger erheben konnte um seine private Moralvorstellung kundzutun. Fadenwurm mit fadenscheiniger Gerichtsvorladung, und das mitten in meiner Arbeitszeit. Ich müsste dich verklagen, Wurm.
X X X
Behördliche Vorladung.
Angeklagter Herr Georg Groß,
das Amtsgericht zu Berlin legt Ihnen folgenden Sachverhalt zur Last:
In der letztjährig (1920) erschienenen »Mappe«, provokativ betitelt mit dem kaiserlichen Leitmotiv »Gott mit uns«, beleidigten Sie in Ihren »Lithographien« den deutsch-militärischen Wehrkomplex, namentlich die Reichswehr, in amoralischer Gesinnungsart wie missachtendem Spotte. Als polit-systemrelevante Hetze entlarvt, einzig und allein zu dem Zwecke, den deutschen Wehrgedanken zu vernichten, wird Ihnen hiermit ein Verbrechen nahegestellt, das dem Verrate verwandt ist.
Sie werden daher beschuldigt des: Rufmordes.
Strafbar als:
Ehrdelikt, nach §164 bzw. §185 sowie §196 des StGB (wahlweise als Majestätsbeleidigung oder Irrlehre auszulegen, ab §90 des StGB)
Mitangeklagte:
Wieland Herzfeld, Verleger des Malik-Verlages.
Beweismittel:
Die Mappe »Gott mit uns«, herausgegeben im Februar des Jahres 1920 durch den Malik-Verlag.
Gutachter:
Dr. Edwin Redslob, Reichskunstwart und Max Liebermann, Präsident der Preußischen Akademie der Künste.
Sie sind hiermit aufgefordert am 25.04.1921 um 09.45 Uhr DZ vor der Strafkammer des Landgerichts II an Berlin zu erscheinen.
Jedes Nichterscheinen wird zur Strafanzeige geführt.
Das Justizministerium.