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KAPITEL III Regel und Chaos 1921

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»Ruhe! Ruhe! Geben Sie Ruhe!« Der hohe Tribunals-Vorsitzende und Vorgesetzte, der höchste, werte Richter schlug den Autoritätshammer eindringlich auf die Platte und ermahnte die penetrant quasselnden Gerichtsgäste. Sie alle waren gekommen um ein gehöriges Theater zu veranstalten: Die Claqueurs, Chauffeurs, Chatouilleurs, Connaisseurs, Rieurs und die Pleureurs – jeder hatte seine Aufgabe.

»Keinen Respekt vor der Waagschale der Justiz, diese Leichtgewichte«, fluchte er seinen Staatsanwälten zu. Diese kippelten mit ihren Stühlen, ungeduldig abwartend wie wache, scharfe Hunde. Fachkundig und gewerbstätig im Sinne des Staates. Der werte Richter zerrte sich vor Aufregung den Kragen im Kreise. Da waren sie versammelt, die Verräter gefunden, quirlige Querulanten, die sich plötzlich neue Namen gaben und dann auch noch so hießen. Doch du heißt nicht Wieland Herzfelde, Herzfeld, ohne e (dein Bruder, Helmut, noch schlimmer: nennt sich »John Heartfield«). Nein, nicht vor dem Gesetz! Und du kleiner Georg Gernegroß, komme mir nicht mit deinem gebrochenen Künstlerenglisch, »George Grosz«! Eure Namen sollen gerade stehen vor Gericht! Ihr seid doch alle so banal wie Schimpansen beim Bananenschälen und auch noch stolz auf euren Unfug; stoßt komplizierte Sätze aus und schlagt euch auf die Brust. Der werte Richter schlug den Autoritätshammer abermals auf die Platte.

»Ruhe! Ruhe!« Die angehäuften Künstlermischpoken hielten so langsam die Schnäbel, watschelten auf ihre Sitze und setzten sich, endlich, hin. Und gaben Ruhe. Der Gerichtssaal erschien nun wieder glatt und symmetrisch wie Justizia höchstpersönlich.

Der werte Richter erhob sich und sprach in angemessenem, profunden Ton, die Anklage höchst selbst:

»Groß, Georg Ehrenfried, geboren in Stolp am sechsundzwanzigsten Julei des Jahres achtzehndreiundneunzig, siebenundzwanzig Jahre alt. Verheiratet. Beruf: Kunstmaler, gibt er an. Und sein Verleger: Herzfeld, Wieland, geboren in der Schweiz, als Deutscher, am elften April des Jahres achtzehnsechsundneunzig, vierundzwanzig Jahre alt. Gründer und Geschäftsführer des Malik-Verlages. Beide angeklagt der forschen und öffentlichen Beleidigung der Instanz der Reichswehr. Die Staatsanwaltschaft hat das Wort.«

Grosz und Herzfelde blickten demnach fordernd und gelangweilt auf die stühlekippelnden Bürden- und Würdenträger des Staatshauses.

Einer der beiden kippte nach vorne und holte Grosz‘ Mappe heraus. Er stand auf und rief dem Auditorium prophetisch, einem Opernsänger gleich, hinzu: »Gott mit uns!« Er hielt die Mappe hoch. »Gott mit uns! So heißt dieses Mappenwerk, herausgegeben vom Malik-Verlag, jedes Bild unterzeichnet von Georg Groß und verzeichnet auf Wieland Herzfeld, dem Herausgeber.«

»George Grosz«, korrigierte Grosz.

»Herzfelde, mit e«, verbesserte Herzfelde.

»Nicht vor dem Gesetz«, bereinigte der werte Richter.

»Gott mit uns!«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Der preußische Wahlspruch auf dem Antlitz seiner Kaiserstandarte – Verhöhnung, nichts als giftiger Spott. In dieser Mappe befinden sich Zeichnungen, welche Soldaten der Reichswehr in Aktion und Pose in unwahrem, weil ehrenlosem Handeln zur Schau stellen und deren ehrenvollen Dienst am Staate – und am Volke – mit Lügen rufmorden. Gerade in unserer Zeit, der Zeit, in der das deutsche Volk zusammenstehen muss, ob der Schmach der Niederlage, ja, sprechen wir es aus, der Schmach. Gerade in dieser Zeit sind solche wüsten, grundverkehrten Scharfmachereien zu unterbinden. Wir fordern Ketten! Das hieße im Geringsten eine einjährige Haft als Denkzettel für den Verleger Herrn Herzfeld.«

»Herzfelde, mit e«, klärte Herzfelde abermals.

»Herzfeld!«, schnauzte der Staatsanwalt und der werte Richter hob den Autoritätshammer drohend, als könne er damit auch auf Köpfe und nicht nur auf Platten schlagen. »Herzfeld, Herzfeld, Herzfeld!«

Der Staatsanwalt fuhr stoisch fort:

»Und für den Angeklagten Georg Groß fordern wir den weiteren Verbleib in einer nervenklinischen Heilanstalt. Betrachtet man dieses infantile Machwerk mit all seiner sittenlosen Brutalität und sexuellen Obsession, so stellen wir fest, müssen sich bestimmte Drähte in diesem Gehirn fälschlicherweise berühren, therapeutische Maßnahmen sollen eingeleitet werden.«

»Herr Groß befand sich schon einmal in solch einer Einrichtung«, dokumentierte der werte Richter. »Mehrmals. Er wurde als ›gesunder Geisteskranker‹ entlassen.«

»Nichtsdestotrotz«, ging der Staatsanwalt weiter. »Es sei weiterhin erwähnt, dass dieser so mondän wirkende Herr schon bei den Spartakistenaufständen vor einigen Monaten festgenommen wurde. Dort entging er einer polizeilichen Einbehaltung mit gefälschten Papieren. Das Betrügen liegt ihm wahrnehmbar im Blut, euer Ehren. Ein Brausekopf der nach Bedenkzeit fleht, euer Ehren, wegsperren. Das Tier. Die von ihm zu Papier getragene Weltbeschreibung kommt von weit her, doch sie will noch weithin. Ich sage euch die Kiste zu, den Riegel davor und den Nagel darauf! Unsere junge Demokratie verlangt nach harter Strafregel. Und zu Herrn Herzfeld muss ich wohl nichts hinzufügen. Seinen Dienst am Vaterland wusste dieser Eulenspiegelverschnitt ja immer gekonnt zu umgehen, mir fehlen die Worte für so etwas. Gerade zu ihm gibt es nichts mehr zu sagen, aber viel zu schweigen. Im Namen des Volkes und der Demokratie. Zu den Euren, Euer Ehren.«

»Demokratie ist zerbrechlich ihr Kriegstreiber!« Herzfelde protestierte dem Prozess, stand von seiner Anklagebank auf und ballte die Fäuste.

»Ihr ladet doch nicht zu Wahlen, ihr Soldaten. Was ist das? Ihr schafft Stimmvieh herbei – mit angelegten Gewehren! Mit Knitteln weichgeklopftes Wählerfleisch. Ihr seid doch keine Demokraten, nein, was soll das sein? Ihr seid nicht gerecht! Ihr seid die rechte Hand der alten Generäle in altem Adel. Fememörder! Und ihr wagt zu klagen? Nach den Fällen Eisner, Liebknecht, Luxemburg und den anderen – wagt ihr zu klagen? Wer nicht dafür ist, ist dagegen, denn ihr gebt keine Kompromisse ab. Was soll das sein? Wir stimmen dagegen und ihr durchschneidet unsere Stimme? Und ihr seid Kläger?« Er streckte eine Faust zum Stuck der Gerichtssaaldecke und die Horde der Gäste grölte und röhrte. Die Claqueurs klatschten, die Chauffeurs animierten die Temperamente mit bissigen Bemerkungen, die Chatouilleurs wurden sarkastisch, die Connaisseurs schlugen Freisprüche vor, die Rieurs lachten laut, die Pleureurs weinten und der Autoritätshammer schlug ein paar Mal auf. »Sie, Herr Herzfeld!«, schrie der Staatsanwalt enthemmt. »Gerade Sie! Haben sich in Kriegszeiten ja förmlich als erster Deserteur der Drückebergerkompanie hervorgetan. Keine drei Schritte konnten Sie mit Ihren Kameraden marschieren ohne wieder auszuscheren. Einen Offizier sollen Sie sogar geohrfeigt haben. Einen Offizier, Euer Ehren! Sie waren schon so gut wie füsiliert, ja, Sie standen schon an der Wand. Hatten Sie ein Glück, dass der Kaiser an jenem Tage Geburtstag hatte und zufällig Gnade über Ihre Schultern legte. Danken Sie dem Kaiser und halten Sie gefälligst ihr feiges Maul geschlossen! Verzeihung Euer Ehren, zu den Euren.« Doch Herzfelde schlug weiter zu: »Feige nennen Sie mich? Wenn hier einer im Raum steht der wahrhaft Standhaft ist, dann bin ich das! Feige? Das bedeutet nichts zu sagen, auch wenn man muss, weil man nicht darf. Doch ich muss – dürfen! Und danken soll ich dem Kaiser? Lüften Sie mal Ihre Kutte!« Einige Gäste verloren ihr gutes Benehmen vor hellichter Aufregung und warfen Kraftausdrücke auf die Ämter. »Ihr Soldaten!«, fügte Herzfelde hinzu, untergehend im Orchester der Parolenschreier, bis es ihn weit übertönte. Der Revolutionssprecher war lebendig. Grosz war sichtlich entspannt in einer Atmosphäre des sich zutragenden Geschreis auf seinem eigenen und unvergleichbaren Temperament – so verbissen und konzentriert, so schön weil so hässlich. So klug weil so dämlich, ja, im Auge des Scheißesturms. Mit den fragilsten Geschöpfen der sogenannten Harten. Mit den spaßlosesten der Humorlosen. Diese mitlaufenden Bremsen der Menschheitsgeschichte. Als Grosz aufstand, setzten sich die Gäste wieder, als wiese es ihnen ihr Naturinstinkt zu. Er stellte sich an Herzfeldes Schulter für den Schluss. Die empörten Staatsanwälte spitzten beinahe interessiert die Ohren und der werte Richter lehnte sich in seinen Richterstuhl zurück. Grosz genoss die Aufmerksamkeit kurz und professionell und fragte: »Um was, im Rahmen, darf ich Fragen, geht es denn hier?« Und er blickte fragend in den Saal und der Saal blickte fragend zurück. »Ich habe den werten Herren noch nicht einmal guten Tag gewünscht und schon wurden hier so viele Urteile gefällt wie Menschen in diesem Raum sitzen. Über wen oder was auch immer. Ich bin Künstler. Ich male Kunst. Ich male was ich sehe und ich male wie ich fühle. Das ist meine Beschäftigung und das ist mein Broterwerb. Herr Herzfelde betreibt seinen Broterwerb mit der Veröffentlichung meiner Beschäftigung und der Beschäftigungen vieler anderer. Ich persönlich sehe mich heute hier an diesem Ort zu einer Diskussion gebeten, nicht aber beschuldigt zu werden für die Äußerung meiner bescheidenen Meinung. Wenn mir also etwas vorgelegt werden würde, was mich zur Diskussion fordern könnte oder sollte, bitte, etwas Haptisches. Denn dann wäre ich durchaus bereit dem meine Aufmerksamkeit zu schenken und mich zu erklären, auch wenn ich das nicht müssen sollte. Denn dann würde mir das Gericht die sogenannte Ehre erweisen, mein Werk zu interpretieren und mir seinen Anstoß an seinem getroffenen Nerv zu schildern.« Grosz setzte sich wieder hin und der Saal war still. Der Staatsanwalt, etwas überrascht, dass man auf ihn wartete, begann seine Lesung. »Herr Groß«, legte er los. »Das hier ist Beweisstück Nummer eins.« »Nennen wir es ›Erzeugnis‹ Nummer eins«, grätschte Grosz dazwischen. »Es heißt aber Beweisstück Nummer eins«, drückte der Staatsanwalt dagegen und der werte Richter drohte dem Angeklagten mit dem Autoritätshammer. Der Staatsanwalt erhob die erste Zeichnung der Mappe, hielt sie den Gästen, den Angeklagten und dem werten Richter in zwei Fingern eingeklemmt, die anderen abgespreizt – so als hielte er eine ansteckende Fäkalie – vor die schnuppernden Nasen und polterte voran: »Auf Beweisstück Nummer eins sehen wir einen einfachen Soldaten am Fluss stehen, am Stadtrand im Wald, denn er lehnt an einem Baum und hinter ihm sieht man die Stadt und vor ihm fließt ein Fluss.« Er deutete mit seinem Stift auf die Eckpunkte der Zeichnung. »Und aus dem Wasser vor ihm schwemmt eine Leiche auf. Der betreffende Soldat wird so dargestellt, als wäre er kein fühlender Mensch, er wirkt gelassen. Fast so, als wäre der betreffende Soldat selbst der Mörder der dargestellten Leiche, kalt und ohne Gewissensbiss; dabei hätte die Leiche von überall her geschwemmt worden sein. Zu den Euren, euer Ehren.« »Liegt der Tod nicht im Sinne des Soldatenberufs?«, fragte der werte Richter. Der Staatsanwalt blätterte mit gestoßener Nase die nächste Seite auf und hielt die nächste Zeichnung hoch. »Auf Beweisstück Nummer zwei sehen wir einen Arzt mit einem Stethoskop beim Aushorchen eines Skeletts. Er spricht das Skelett gesund! In seiner Sprechblase steht das Kürzel ›k.v.‹ – kriegsverwendungsfähig.« Die Gäste kicherten, der Staatsanwalt präzisierte: »Um den betreffenden Arzt und den betreffenden Patienten sitzen Reichswehroberste versammelt. Diese bedienen sich verschiedenster Gesichtsausdrücke, auf verschiedenste Arten interpretierbar. Hier die anwaltliche Interpretation: Zweie lachen sich gegenseitig zu, ein anderer schmollt, der nächste notiert bedächtig, ein anderer sitzt dort wie Kinopublikum und raucht Zigarre, der nächste bewacht die Türe, und ein anderer Arzt hält die Krankenakte sichtlich erstaunt. Die Bildunterschrift lautet: ›Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.‹ Garstige Ironie. Alles in allem ist die Situation eine Lächerliche. Unsere anwaltliche Rechtsauffassung hat hier einen tiefen Einschnitt in die Standards unserer Staats- und Spitalräson sowie unseren pharmazeutischen Fortschritt identifiziert. Zu den Euren, euer Ehren.« »Sterben Soldaten nicht?«, fragte der werte Richter. Der Staatsanwalt zog die Nase kraus und dann das dritte Blatt hervor. »Beweisstück Nummer drei: Zwei durchaus als unsympathisch hervorgehobene Geschäftsleute, oder Handelsmänner, speisen bei durchaus imposantem Mahl, während vor ihnen scheinbar unschuldige Menschen von Soldaten mit deren Bajonetten zerstochen werden. Und überhaupt, es sieht dabei ganz so aus, als hätten die Soldaten Spaß dabei, Menschen zu schlachten. Als schenke es ihnen Freude Menschen zu zerstechen und ihre Pistolen zu ziehen. Sehen Sie es sich an. Widerlich. Ekelhaft. Euer Ehren, dies ist nichts anderes als ein eklatanter Angriff auf die Reichswehrmoral, ein Skandal. Eine Grabschändung der ehrbaren Opfer des Krieges. Ja, Sie, Georg Großklein, da haben Sie es. Und es ist ja nicht einmal anatomisch korrekt ausgeführt, euer Ehren, die Perspektive ist ja ganz prekär, euer Ehren, zu den Euren.« Der werte Richter suchte nach einer weisen, salomonischen Gegenfrage, da hob der Staatsanwalt das nächste Blatt und wurde selbstbewusster. »Das Profil eines spastisch behinderten Soldaten! Meine Damen und Herren, euer Ehren. Das Bild eines spastisch behinderten Soldaten! Ja!« Der Staatsanwalt spuckte theatralisches Feuer in den Saal: »Unsere Staatsgewalt, unsere Staatsmacht, unser Staatsstolz, unser Staatssein, unser Staat…«, er verlor an Atemluft und hustete, sein nächster Staat war ihm entfallen. »Können Sie denn beweisen, dass es sich hier um einen Spasmus handelt, Herr Staatsanwalt?«, fragte der werte Richter. Herzfelde nutzte die Schweigesekunde, hob abermals die Faust und lancierte den Staatsbegriffsmissbrauch: »Unser Staat, euer Staat, unser aller Staat, doch ohne Gewalt, ohne Macht, ohne Stolz, ohne Sein, keinem eigen! Jeder Staat, jede Gewalt, jede Macht, jedwedes Stolz, zusammen, jedem eigen! Das ist die nächste Welt. Nicht die Welt die uns wieder in Gewalt stürzt. Nicht die Welt die uns wieder, und wieder stürzt! Versteht ihr denn nicht den guten Gedanken?« »Himmel, Hintern, Zwirn, Herr Herzfeld, konzentrieren Sie sich endlich! Hinsetzen!«, rief der werte Richter, alteriert über die Undiszipliniertheit dieses jungen Dränglers. Herzfelde blieb stehen. Grosz kontrahierte auf den springenden Punkt: »Was an diesen Zeichnungen ist mir nun exakt und ausführlich vorzuwerfen, und wenn ja, warum und inwiefern betrifft dies meinen Verleger, Wieland Herzfelde?« Der Staatsanwalt schäumte, der werte Richter knickte ihn ab und tat, was er am liebsten tat, er kam zum Abschluss: »Genug gehört, genug gesehen. Strichmännchen, die wie Generäle aussehen, jucken die Ankläger, Generäle jucken die Angeklagten. Ähem. Waagschale hin, Waagschale her, Justizia entscheidet. Herr Groß, stehen Sie auf. Herr Herzfeld, auf sie kommen wir gleich zu sprechen, setzen Sie sich jetzt hin, verdammt noch mal. Ungeheuerlich!« Herzfelde blieb stehen. »Herr Groß, Ihre Erklärung an die Ankläger. Was haben Sie sich nur bei dieser Schandkleckserei gedacht? Das ist doch keine Kunst.« Grosz hob seine Vortragshand. »Was ist denn Kunst, Euer Ehren? Ich verarbeite nur meinen Eindruck, nichts weiter als das. Sehen Sie: Wenn der Bauer dem Schaf das Gras zu fressen gibt, dann will er nicht das wiedergekäute Gras zurück. Er will die Milch, die Wolle und das Fleisch, und endlich Käse und Pullover und Braten. So ist es auch mit mir. Ich nehme auf und gebe ab, das ist mein menschlichstes Tun. Ich gebe in einer Form ab, was ich in einer anderen Form aufnehme. Ich esse – und ich scheiße!« »Ja, und das alles ist Scheiße! Da haben Sie’s gesagt!«, echauffierte sich nun erstmals der zweite Staatsanwalt und kippte mit seinem Stuhl nach vorn, als hätte die Debatte nun endlich sein Niveau erreicht. »Nichts als Scheiße!«, schrie er inbrünstig, »ein Fiasko!« Satanisch erhob er die offene Hand zur Backpfeife. Justizia musste sich schon fast die Ohren zuhalten. »O ja«, stimmte ihm Grosz zu, »alles was der Körper aufnimmt, verdaut er und stößt es los. Das ist die Tugend des Schaffenden. Der Schaffende kann nicht anders als zu schaffen – das ist körperliche Notwendigkeit. Nichts anderes als körperliche Notwendigkeit. Und wenn ich Schimmel und Pilz und Knochen und Gräte essen muss – dann scheiße ich Scherben. Und wenn es stinkt, dann ist es nicht mein Körper, sondern es sind die Gase dieser schimmligen Gräten und dieser knöcherigen Pilze die ich zurückstoßen muss. So sucht sich der Maler stets eine schöne Landschaft zum Malen, denn sie bringt gesunden, festen Stuhl hervor. O, du friedlebender Landschaftsmaler. Ja, der Ästhet, er scheißt lang und gern, denn guter Stuhl ist die Vollendung eines wahrhaftigen Mahles, des ernsten Malens. Doch eure Welt gibt mir keine ruhige Landschaft und lachende Bäume und herzliche Grashügel. Eure Welt gibt mir nur Scheiße zum Sujet, und so esse ich, und so male ich. Ich kann nun mal nichts anderes verdauen als meinen Einfluss. Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd. Doch jetzt genug – Sie haben mich schon verstanden. Ich plädiere auf Unschuld.« Die Staatsanwälte schüttelten die Köpfe wie ungläubige Katholiken. Der Richter klopfte seinen Hammer zum abermaligsten Male auf die Platte, es rumorte schon wieder. Er erhob sich erhaben und gelobte seiner Entourage mit prophetengleicher Geste ihm gleich zu tun. Das Gefolge folgte ihm, die Urteilsverkündung war also gekommen. Schluss mit dem Vabanquespiel dieser zwei Rotzlöffel. Er öffnete den Käfig hinter sich und ein Lichtstrahl schoss aus ihm heraus und erbrach sich über den Tross. Justizia höchstpersönlich stieg dort heraus und wuchs über die gespannten Kläger und Beklagten hinaus. Mit ihren vier Metern Körperhöhe streiften ihre elektrisch geladenen Seidenhaare die Saaldecke. Die Augen, das Organ des Erkennens, verbunden – so sollte sie nun das Urteil fällen. Nur mit den Ohren, dem Organ der Furcht, und einem Riecher, dem Organ der Verführung, zur Verfügung. Eine rostige Krämerwaage in der einen Hand, welche Tat mit Strafe aufwiegt; und ein Schwert in der anderen, welches die abgemessene Rache ausführt. So stand sie da, blind, mit dem Rücken zum Geschehen. »Justizia!«, rief Herzfelde. »Hier sind wir!«, rief Grosz. »Pssst!«, zischte der Staatsanwalt. Justizia drehte sich um und stieß sich ihren Kopf am Kronleuchter, ihr seidenes Haar verfing sich in den Glasketten, so dass die Gerichtsdiener eine Leiter hereinbrachten um das Missgeschick zu entwirren. Während sie noch beim entfädeln waren, richtete Justizia ihr Schwert zum Schuldspruch an die Fensterfront. Die Gäste sprangen auf und lachten. Arme Justizia, dachte Grosz. Ihr werden Werte in die Waagschalen gelegt bis den Handelsmännern ihr Geschäft billig ist. Gleich welchem System sie nun dienen soll, die arme Madame der Gerechtigkeit, man verbindet ihr die Augen, dreht sie fünfmal im Kreis und ruft ihr zu: Blinde Kuh! Blinde Kuh! Blinde Kuh! Finde das Salzkorn in der Suppe! Die Gerichtsdiener geleiteten die Schwertspitze vor seine freche Nasenspitze. Die alte, dürre Geisterfrau öffnete ihren Mund, und der Geruch von Jahrhunderte altem Schweigen miefte durch den Saal und drang in das modrige Möbelholz der Bänke und Altare, wo schon viele Generationen Juristen Platz genommen hatten und die Asche ihrer Traditionen weitergaben. »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren«, kommentierte Herzfelde unbeeindruckt. Justizia öffnete ihr Sprachrohr. Die Spinnweben in ihrem mit Flechten bewachsenen Kiefer bogen sich wie Segel und die Spinnen verkrochen sich in ihre Zahnlücken. Der Wind blies Grosz durchs Haar, der Papierkram verflog in kleinen Wirbelstürmen. Der Bass ihrer tiefen, alten Stimme ließ den Boden krächzen und knarzen. »Im Namen des Volkes ergeht folgendes Unheil, bitte, Urteil, danke. Georg Groß. Schuldig im Sinne der Anklage in zweierlei Punkten: Rufmorden der Reichswehr und Angriff auf die öffentliche Moral. Sein Opfer füge die Teile wieder zusammen, sein Blut fülle die Brunnen wieder auf. Das macht auf Deutsch dreihundert Reichsmark. Wieland Herzfeld, Kopf der Organisation des kommunistischen Verlages Malik und der kriminellen Energie eines Wolfsrudelführers. Sein Opfer verschließe die Wunden unschuldiger Kinderseelen, sein Blut fließe aus den Wasserhähnen aller Betroffenen. Das macht auf Deutsch sechshundert Reichsmark.« Dann sperrten die Gerichtsdiener Justizia zurück in den Käfig. Die Renegaten blieben still und angemessen, hoben ihre Trenchcoats von den Stuhllehnen, setzten sich die Hüte auf und verließen das Spannungsfeld. Die Unwirklichkeit der flachen Systemiker unterrichtet einen mit tiefen Schlägen. Was soll man schon anderes tun als die Grobdenker zu erdulden. Ohne Grußworte beeilten sie sich durch die großen Türen und stolzierten, mit ihrem Rudel im Rücken, die Treppen des Gerichtsgebäudes hinab. Herzfelde drehte sich um rief ihnen zu: »Genug! Die Obergockel haben genug gegackert und Schlaumeier gelegt und sich die Kämme wund gekämmt, lassen wir sie brüten. An einem Ort, an dem Unrecht gesprochen wird, ist dem rechten Menschen der Schuldspruch ein Ritterschlag. Wir treffen uns heute Abend im Verlag, Lagebesprechung, um einundzwanzig Uhr.« Die Malik-Männer klopften sich auf die Schultern, gaben den Journalisten noch kurze Interviews und gingen ihrer Wege. Die Staatsanwälte standen zur gleichen Zeit in einem leeren Saal. »Aber Euer Ehren«, riefen sie ihre Majestät zur Rechtsprechung auf, »das waren Kommunisten!« Der werte Richter hob das Kinn und sprach ihnen von seinem Rang herunter. »Und sie waren jung«, fügte er hinzu. »Wer seine Jugend nicht nutzt, um gegen Mauern zu laufen, kann sein Alter nicht nutzen, um mit besserem Wissen Türen zu zimmern. Beim nächsten Mal, meine Herren Staatsanwaltschaft, beim nächsten Mal soll es das letzte Mal gewesen sein. Ich wünsche einen guten Tag.« Er erhob sich und verließ den Saal durch die Hintertür. Mit Dummen zu diskutieren ist wie mit einem Hunde Schach zu spielen. Er versteht nie worum es geht, nimmt die Figuren in den Mund und kötert aufs Brett. »Beispiellos«, stoßseufzte der eine Advokat und knüllte die Zeichnungen wütend in seinen Aktenkoffer zurück. »Juden!«, knurrte der andere. Semitisches Verschwörervolk, so rumorte es unter seiner Stirn: Sie treiben hart arbeitende Familien mit ihren Wucherzinsen in den Bankrott, dann zwingen sie die jüngsten und hübschesten Töchter in die Prostitution um ihren unstillbaren, sexuellen Appetit in ihnen abzureagieren, und jetzt? Jetzt grinsen sie einem ihre Goldkiefer auch noch mitten ins Gesicht und malen Bilder und gründen Verlage und machen Presse. Und ewig lügt die Presse. Doch allein unser Schicksal stopft ihnen die Bäuche nicht, die Backen werden nicht voll, Die Weltherrschaft muss es wohl auch noch sein. Aufgeregt kippelte er mit seinem Stuhl ein Stück zu weit nach hinten, so dass er umfiel und sich das Steißbein an der Lehne brach. Unwürdig musste er fortan durch die Straßen hinken. Jeder sah, wenn er ging, dass er an einem peinlichen Malheur vom Steiß ab aufwärts litt. Nie würde er diesen Schmerz je vergessen. Den seelischen wie den physischen. Nie. Auf jeden humpelnden Schritt würden sie ihn verfolgen. Doch bald – bald würde zurückgeschossen. Auf bald, wenn es Justizia wieder offiziell macht. Alle an die Wand stellen und abdrücken. Triffste immern Richtigen.

X


Retrospektive: 1916.

Seelenarzt Kajetan Kinkel, Prinzipal der Salpeterbergklinik nahe Görden, kramte in seinem langen, weißen Kittel und holte seinen Spatel hervor. Neben allgemeiner Gedankenschwindsucht und Chimären, behandelte er auch Zerwürfnis und Weltschmerz sowie Hysterie und Masturbation. Die Kuckucksuhr zwitscherte zur Stippvisite, pünktlich um den Psychopathen in den Rachen zu sehen. Abgründe konnten sich dort auftun. Er schob den Patienten den Spatel in die Kehlen, mit einem Pfriem in der anderen Hand stach er die Unterseiten der Zungen an um die Reaktionsfähigkeiten zu bestätigen. Auf einer seiner Listen setzte er Häkchen unter der pejorativen oder der mejorativen Geistesgenese, je nach Oszillationsrichtung der jeweiligen Rekrudeszenz. Er leuchtete mit einer Kerze in die Augen und maß die Kontraktionsprofile der Pupillen, während die Hornhäute anbrutzelten. Nur Schmerzinvasive schrien, die Paralysierten hingegen nahmen alles hin. Häkchen bei Schmerzinvasiv, Kreuz bei Paralyse. Tonnenvoll Abfall von Traumata, junge Verwirrte und alte Verrückte, vollgefressen mit schwerer Kost. Der Krieg in ihnen lief ihnen die Hälse herauf, man konnte ihr inneres Auf- und Durchdrehen riechen. Die Pfütze des Geistes lag hier vor ihm, er watete hindurch, als er an den Bettreihen vorbeiging und sich seine Patienten suchte, den Spatel hier und da einschob, mit Stecknadeln zupiekste und mit Streichhölzern zündelte. Jeder seiner Leidgeprägten hatte seine eigenen Ticks und Knicke. Einer summte wie eine Biene, einer raschelte nachts wie die Blätter im Wind und einer bepisste sich wie der Morgentau eines diagnoseversprechenden Vormittages. Es war der zweite Frühling des Krieges. Aus einer Appetit-Panik war ein Aha-Erlebnis geworden. Und ihre Opfer, die noch lebten, kamen an diesen Ort der isolierten Ruhe und des Experiments. Die Nervenheilanstalt. Die Klapse. Das Andersartig-sein-Gefängnis. Die Reparaturwerkstatt der Nicht-Metalle. Die Krankheitsbilder, welche die Soldaten aufwiesen, waren noch weithin unbekannt. Es waren neue Symptome aus neuen Ursachen. Philosophen arbeiteten sich daran ab, ob politische Umstände virale Folgen auf das Bewusstseins-Erleben haben könnten und schrieben Essays. Ärzte beratschlagten sich zu einem epidemischen Befall von Verblödung und epileptischer Neurasthenie, diagnostizierten Hysterie-Patienten, schrieben Bücher. Grosz sah den besenstielartig geformten, knochigen Arzt mit seinem Spatel in der einen, den Pfriem in der anderen Hand auf ihn zukommen.

»Mund auf«, befahl Kinkel.

Und ehe er noch guten Morgen sagen konnte hatte er den Spatel im Rachen. Kinkel leuchtete die Gebissreihen ab, schnupperte nach etwas in der Luft, stach zu, schmeckte das Blut ab und klappte den Patientenbeißapparat wieder zu.

»Mitkommen.« Preußische Ordnung mit Wiener Akzent. Die zwei Arzthelfer mit der Aura von Zwillingen packten Grosz unter den Armen und hoben ihn aus seinem Bettgestell. Ein alter Verrückter Kauz wippte auf seinem Bett vor sich her. »Ruhe geben«, sagte er. »Warum könnt ihr keine Ruhe geben? Das ist alles was ihr müsst.«

»Halt‘s Maul!«, schrie ihn ein Zwilling an.

»Kalt Blut, Günther«, kanzelte ihn Kinkel zur Räson.

Sie kamen ins Arbeitszimmer des Prinzipals. Grosz wurde angewiesen sich auf einen Holzstuhl in der Ecke des Zimmers zu verpflanzen. Es roch nach verdorrter Kiefer, noch aus der altbackenen Zeit, das alte sumpfige Holz, das morscht. Der Stuhl bröckelte. Wie ein toter Baum der zurückwächst in die Erde. Wer hier schon alles drauf gesessen haben muss, dachte Grosz.

Kinkel öffnete das breite Fenster zum Durchzug und wies die Zwillinge hinaus, dann wandte er sich Grosz zu.

»Wir haben heute einen hoch dekorierten und renommierten Gast, Herr Groß. Der könnte uns beiden in Ihrem Fall weiterhelfen. Sie sind ein sehr interessantes Problem, Herr Groß, für die Forschung vielleicht nützlich, nicht aber zum Kriegsdienst wie mir scheinen mag. Doch vielleicht bekommt Sie unsere Koryphäe wieder gerade und einsatzfähig. Können Sie mich verstehen?«

»Und wer soll das sein?«, fragte Grosz.

»Es handelt sich um keinen geringeren als Herrn Doktor Pyotr Sergeiwitsch Bobrow. Sie haben den Namen schon mal gehört?«

»Ich beschäftige mich derzeit mit Krieg, Herr Doktor, nicht mit Medizinern.«

Kinkel belehrte: »Doktor Pyotr Sergeiwitsch Bobrow, führend auf dem Gebiet der Hirnforschung und Psychoanamnese aus Petrograd. Nicht zuletzt Autor des Buches ›Volkspsychosen und politische Bewegung – über die Wirkungsgewalt von Fantasie.‹ Nicht zuletzt Widerleger Freudscher Theorien. Beinahe sämtlicher. Freud kennen Sie aber? Oder, Herr Groß?«

»Den schon, ja.«

»Den also schon, da sieh mal einer an.«

Bobrow kam ohne anzuklopfen mit einem Stampfer durch die Tür. Ein schratbärtiger, gewichtiger, runder Mann trat hinein.

»Morgen«, knurrte er, es war Mittag. Der große, dürre Kinkel stand auf und schüttelte seinem Bewunderten die Hand.

»Da ist er ja schon, hellauf. Herr Doktor Bobrow, einen guten Morgen, einen frischen Kaffee, ja?«

»Schwarz.«

Bobrow sah Grosz kurz an, stapfte zum Stuhl, kniete sich über die Sitzschale und zog sie zu sich her. Die Stuhlbeine kreischten auf.

»Wie ich sehe haben Sie sich schon gesetzt«, stammelte Kinkel, ihm im Nachhinein den Platz zuweisend.

»Genau«, gähnte Bobrow.

Er griff nach der vollen Tasse auf dem Silbertablett und schlürfte.

»Bohnenkaffee, Premiumröstung, nur das Beste. Importwaren sind in unseren politischen Umständen kostbares Gut geworden«, erklärte Kinkel, in tassereichender Geste.

»Können wir die Leier überspringen und gleich auf den Patienten zu sprechen kommen?«, forderte Bobrow. »Meine vorbezahlten Zugtickets drängen sich auf, ich werde nicht allzu lange bleiben können.«

»Wie lange haben Sie denn, Herr Doktor Bobrow? Ich erinnere mich, Ihr Wirkungskreis drehe sich um zwei bis drei Nächte?«

»Eine Stunde«, kürzte Bobrow ab.

»Aber Herr Doktor Bobrow, wie können wir ihre richtungsweisenden Errungenschaften dann in unserem Patienten durchführen? Ich kann den Jungen doch so nicht zurück an die Front geben. Schenken Sie der Heilung eine Möglichkeit, der Wissenschaft, Herr Doktor Bobrow.«

»Ich bin in beratender Funktion zugegen«, zäunte Bobrow die Erwartung ein.

»Aber, Herr Doktor Bobrow!«

»Sie wissen, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Denn ich mache vielbedurfte Dinge. Darum gehe ich in vielen Ländern ein und aus. Ich habe Termine in Warschau, Königsberg, Riga, Petrograd. Kürzen Sie ab, Herr Prinzipal.«

»Nun gut«, gab Kinkel nach und beugte sich der Beratung. Er setzte sich, holte ein paar Blätter aus seiner Schreibtischschublade heraus und fächerte sie vor Bobrow auseinander.

»Wir ließen die Patienten malen«, fing Kinkel an. »Neueste Methoden der Psychoanalyse nach ihrem Essay. Und wie Sie es in Stufe drei beschrieben, ›Die Illusionspräambel: Plastische Zwangsvorstellungen in der Farbenidee‹: Die meisten malten Bäume oder Brüste. Wir konnten sie als Simulanten enttarnen und zurück in den Wehrdienst integrieren. Doch dieser Patient, er malt andere Dinge, fremde Gewalt und abstrakte Brutalität, es ist scheußlich. Herr Doktor Bobrow, sagen Sie mir, ist das Kunst, oder ist das neuronale Perversion?«

Bobrow betrachte das Tintenwerk. Strichmännchen im Wasserfarbenblutbad, skelettöse Linienführung. Keine Sonne, kein Mond, keine Eltern, weder Bäume noch Brüste. Nur ein Klumpen Unordnung.

»Nein, Kunst ist das nicht«, brummte Bobrow durch seine Borstenhaare. »Haben Sie keinen Schnaps? Wodka sogar?«

»Wir haben, wie gesagt, bis auf weiteres komplizierte Kapazitätserscheinungen mit Importware Herr Doktor Bobrow, aber ich kann Ihnen ein Kirschwasser bieten.« Kinkel verneigte sich gastfreundlich.

»Dann Kirschwasser, Herr Prinzipal.«

Als sich der Arzt an die Vitrine machte spannte Bobrow kurz zu Grosz herüber.

»Spinner!«, furzte er leise und wog sich zurück in die quietschende Lehne.

Er nahm das Glässchen Obstbrand, diese Oase im Alltagsreichtum, und ließ den spärlichen Inhalt in seinen Rachen fallen.

»Darf ich Ihnen zur Bekömmlichkeit auch eine Zigarre anbieten?«, fragte Kinkel, im Nachhinein zuprostend. Dann schob er ihm eine alte Kiste entgegen.

»Ich habe meine eigenen«, nuschelte Bobrow in seinen Bart.

»Was rauchen Sie?«

»Russisch.«

»Ich wusste nicht, dass Russland Zigarren produziert.«

»Russland ist groß.«

»Ja, nur ist es dort nicht zu kalt für den Tabakanbau?«

»Sehr groß.«

»Also, was ist es?«, fragte Kinkel, und zeigte auf Grosz. »Neuronale Zwangsbeschimpfung, schizophrene Konfliktvorstellungen, Dementia paranoides, nicht wahr? Ich meine, pseudomoralisches Verhalten, klaustrophobiale Bewusstseinszustände, paragegenwärtige Trägheit. Und dann diese psychoabnormen Kritzeleien. Papier voller Verwüstung. Lässt dies nicht auf einen homosexuellen Konflikt in der Kindheit schließen, einen muttermordenden väterlichen gar? Wäre nicht Kastration der nächste Schritt? Und – könnte er dann noch dem Soldatenstand funktional hilfreich sein? Ohne Trieb meine ich, als Eunuch. Über welche Geschlechterrolle läge sich dann die Seele? Sie wissen schon, als ›ganzer‹ Mann fallen?«

»Kastration schließe ich aus«, nickte Bobrow ab.

Grosz ließ sich an die Stuhllehne sinken. Er war kurz davor aus dem offenen Fenster zu springen, gleich welcher Stock es war.

»Elektrotherapie?«, fuhr Kinkel fort. »Ich machte auch erhebliche Fortschritte in der Malariatherapie, wissen Sie? Künstliche Infektion. Der fieberinduzierte Schüttelfrost vernichtet befallene Nerven.«

Grosz bekam finsteren Bauchschmerz.

»Und die Malaria?«, fragte Bobrow.

»Die behandeln wir dann mit Quecksilberchlorid.«

»Na, wenns Ihnen hilft«, sagte Bobrow und klärte auf:

»Der Junge hat doch keinen Schatten, der ist traumatisiert, Herr Prinzipal. Und bevor Sie wieder fragen, das ist eine nervliche Atrophie des Charakters nach akuter Gegenüberstellung mit der eigenen Mortalität. Völlig normal. Das Individuum ist sozusagen negativ erleuchtet in seiner Existenzialität, oder wie Spinoza es nicht sagen würde, schockiert darüber, wie scheißegal es der Realität doch ist. Die Illusion des Schicksals, ersetzt durch die Möglichkeit des Zufalls, löst sich auf in melancholischer Bedeutungslosigkeit. Ein Gedanke ist nicht krank, nur weil er jenem Verstand, den wir augenblicklich als gesund verstehen, schwer zugänglich ist. Ich glaube nicht an Ihr Konzept der Seelenbehandlung. Ich denke weiter.«

»Weiter wohin?«, fragte Kinkel.

»Nun, dieses Gekrakel. Ich nenne es ›das geistige Verbluten‹. Es ist ein heilsamer Prozess, aber natürlich nicht frei von Risiken. Um sicher zu gehen, schlage ich operative Methoden vor, Herr Prinzipal. Direkter Eingriff am Gehirn. Nativkontakt an der Synapse.«

»Sie meinen dort sitze die Seele?«

»Die Seele ist ein Begriff der Romanciers und in Wahrheit nicht mehr als eine profane Drüse, drei Finger breit vom Frontallappen entfernt. Ich meine dort sitzt das Denken. Das Denken, das Bilder malt. Das Denken, das Gewehre bedient. Das Denken, das Kaffee kocht. Vergessen Sie das mit der Seele besser schnell wieder. Ich spreche von der Lobotomie, Herr Prinzipal. Sie haben davon gehört?« »Ja, ich hielt es für verfrüht.« »Ganz und gar nicht. Seien Sie mir da mal nicht zu konservativ. In meiner Forschung zu meinem neuen Buch habe ich nach meinen chirurgischen Behandlungen erstaunliche Entwicklungen an den Probanden feststellen können. Eine Art emotionale Veränderung vollzieht sich, Ruhe kehrt in den Patienten ein. Die statistische Unschärfe an erfolgreichen Wiedereintritten in Armeen ist zwar noch nicht ausgespitzt, obschon, lassen Sie mich nur so viel sagen: Mein Buch ist auf einem guten Weg. Sie werden noch davon hören.« »Und wie funktioniert die Lobotomie nun technisch?« Bobrow kramte in seinem Arzneikoffer, holte ein Merkheftchen heraus und schob es über den Tisch auf Kinkel zu. Kinkel las eifrig den Titel: »Aventiure Lobotomie – ein Handbrevier für den Medikus auf der Suche nach dem Nervenkitzel.« Brobrow erklärte das Vorgehen: »Nun, wir denervieren den Probanden indem wir ihm einige Nervenbahnen zwischen dem Stirnlappen und dem Zwischenhirn entfernen. Dann entnehmen wir etwas der grauen Substanz. Aus der Entnahme dieser Substanz erfolgt eine Eindämmung der, Sie nennen es ›Seelenschmerzen‹ aus einem Zentralbereich des Körpers. Der Eingriff wird mal durch die Nebenhöhlen, mal durch die Augenhöhlen unternommen, je nach Physiognomie. Man benötigt die Fertigkeit eines Spezialinvasiven, Herr Prinzipal, Sie bedürfen eines Sachverständigen dieses komplexen Handwerks. Mir.« »Weisen Sie mich ein«, meldete Kinkel. »Ich bin wie gesagt in beratender Funktion zu gegen. Mein Anschlusszug wirft schon die Kohlen ins Feuer, mein Scheck ist sauber, dafür danke ich Ihnen, ich muss los.« »Doch eine Stunde ist noch nicht vorbei, Herr Doktor Bobrow.« »In meinem beschäftigten Leben, da ticken die Uhren anders, Herr Prinzipal. Hören Sie das?« Nur das Ticken von Kinkels Kuckucksuhr war zu hören. »Nein«, sagte Kinkel. »Genau«, sagte Bobrow und nahm seinen Mantel. Kinkel ging um den Tisch und fing ihn an der Tür ab. »Es geht hier nicht um mich, oder um die Reputation der Salpeterbergklinik, oder um den medizinischen Fortschritt als Ganzes. Es geht um den Patienten, Herr Doktor Bobrow, einen Menschen, ich insistiere! Wie soll ich ihm erklären, dass er keine Lobotomie erfahren darf, dass er nicht mehr den Frieden finden darf, wo doch eine Lösung seines Schmerzes so nah wäre? Wie soll ich einem jungen Mann erklären, dass er sich nicht mehr dem Weltgeschehen stellen, nein, dass er sich nicht mehr zurück an die Front einreihen darf? Dass er nicht normal ist!« »Was ist Normalität?«, fragte Brobrow suggestiv. Kinkel spannte die Ohren auf, froh den Spezialisten gefordert zu haben. Dieser spannte das Kreuz und drückte seine Wampe in den Vordergrund. »Normalität als solches ist statistisch nicht nachweisbar. Jeder schlägt dann und wann vom normativen Wert ab und ist als solcher im Ausnahmefall nicht kategorisierbar, oder als gesund oder ungesund messbar. Ich würde Normalität nicht als Maßstab der zivilisatorischen Integrierbarkeit erwägen. Ich würde die Wogen der Zivilisation abwiegen und davon den Einzelwert herausziehen. Theorie und Praxis, Herr Prinzipal. Frieden erfordert Morpheumspritzen, Krieg erfordert Lobotomien. Sie sehen? Und da wir in Kriegszeiten leben ist Lobotomie-Saison. Ich bin verbucht. Wenn sie ihm nicht ins Gehirn schneiden können, lassen sie ihn gehen und seine Bilder malen. Sperren Sie nicht ein, was Sie nicht heilen können. Er ist geisteskrank, aber gesund, in Ihren Augen.« »Warten Sie, werter Herr Kollege«, hastete Kinkel. »Muss er nicht in Quarantäne? Ist seine Krankheit nicht ansteckend?« »Nein, Herr Prinzipal. Lassen Sie ihn gehen, lassen Sie ihn malen. Er kann nicht mehr. Wenn Sie das Beste für ihren Patienten wollen, dann schicken Sie ihn nach Hause. Auch wenn er einen hervorragenden Probanden für mein neues Buch abgegeben hätte, es warten andere. Große Fragen warten auf mich, große Antworten sollen ihnen gegeben werden. Ich schreibe Sie auf meine Warteliste. Meine Adjutante wird Ihnen die Rechnung für die Bearbeitungsgebühren zukommen lassen. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Sie verzeihen meine Professionalität.« Kinkel konnte nur mit einem plötzlich wirren Krächzen antworten, drehte den Kopf um dreihundertsechzig Grad und begann zu schielen. »Herr Prinzipal?«, vergewisserte sich Bobrow und beobachtete prüfend, wie sein Gegenüber bemerkenswerte Eigenschaften zu zeigen begann. Er zog einen Notizblock aus dem Mantel und setzte Häkchen. Kinkel hob beide Arme und weinte ein wenig. »Was ist los mit mir? Mir wird so blümerant.« »Ich habe Ihnen ein harmloses Psychopharmakon verabreicht.« »Ein was?« »Ein harmloses Psychopharmakon, Sie wirkten mir neuronal verkrampft, also empfahl es sich mir, Ihnen ein leichtes Anxiolytikum in Ihren Kaffee zu träufeln.« »Sie haben meinen Kaffee vergiftet, Sie Irrer?« Kinkel war außer sich und schnaufte, sein Brustkorb wölbte sich überproportional. Bobrow notierte. »Sie beruhigen sich, Ihr Heilprozess ist eingeleitet. Ich bin erstaunt, dass es bei Ihnen so früh einsetzt, bei einem gewöhnlich mittelgroßen Landwirbeltier setzt der Effekt erst nach einer Latenzzeit von zwei bis drei Stunden nach Verabreichung ein. Das ist interessant, bedenkt man die minimale Erhöhung der Dosis.« Er kreiste eine Notiz auf seinem Block ein. »Sehe ich denn aus wie ein Landwirbeltier?«, lallte Kinkel und blinzelte fest und intensiv, machte einen Buckel und keuchte wie ein durstiges Kamel. Bobrow sah ihn an und hob eine Augenbraue. »Ein Anxiolytikum ist ein Antitoxikum zur Handhabe von übereifrigem Ehrgeiz und etwaige humanoide Geltungssorgen. Etwas germanische Schwarzwurzel zerstampft mit dem Koka-Blatt aus den amerikanischen Anden, dazu chinesisches Opium und einen Schuss von diesem Voodoo-Sekret eines dieser zentralafrikanischen Medizinmänner; keinen Schimmer was da drin ist, aber es wirkt. Sie werden sich schon bald wie neu fühlen. Sehr neu.« Er drückte Kinkel von sich fort und zog die Tür hinter sich zu. Kinkels eingefallene Schultern fielen ein Stück tiefer, so dass sein langer Kittel seine Schuhspitzen berührte. Er wandte sich schwankend zu Grosz und kreiste mit seinen Augen als sähe er ihn durch ein Kaleidoskop. »Sie haben Herrn Doktor Pyotr Sergeiwitsch Bobrow gehört. Ich kann Sie nicht zurück an die Front entlassen, Sie müssen zurück in ihr Heimatdorf. Wo ist das?« »Berlin.« »Ah, ja. Es tut mir leid. Eine Lobotomie können wir mit unseren gewöhnlichen Mitteln nicht durchführen.« Grosz atmete auf. Er ließ abermals vom Sprung aus dem Fenster ab. Es war schon eine fixe Idee geworden. Kinkel hickste und drehte sich, er rief die Zwillinge herein, die Grosz des morschen Holzstuhls enthoben. Tausend Steine fielen von ihm ab. Dann haben sich die harten Jahre auf der Akademie der feinen Künste doch bezahlt gemacht. Zurück nach Berlin. Raus aus dem Krieg. Zurück in all die liebevollen Kleinigkeiten und großen Schönheiten. Zurück ins Leben. Ins Weiterleben. Da wäre er fast gewesen, der Tod, die Demenz, und sie hätten ihn beinahe gehabt. So gesehen war Bobrow sein Erlöser. Der Mann, der ihm mit seiner Fehldiagnose das Leben rettete. Kunst kann also Leben retten. Gelobt sei der Entdecker. Kinkel bremste seine Voreiligkeit mit letzter Geisteskraft. »Wir werden noch drei Wochen die Drehstuhltherapie anwenden und Überraschungsbäder durchführen, zugegeben, veraltete Methoden im Vergleich zur Bobrowschen Lobotomie, doch vielleicht greifen sie ja dieses Mal. Hoffen wir das Beste.« Beim Herausgetragenwerden sah Grosz, wie sich der Prinzipal unter seinen Schreibtisch verkroch um seine Drogenerfahrung professionell zu durchleben. Dann schleiften die Zwillinge den Patienten durch den Gang und warfen ihn zurück auf sein rostiges Bettgestell. Der alte Kauz wippte immer noch vor sich hin und blieb dabei bis in den frühen Abend »Ich muss hier raus, alter Mann«, sagte Grosz irgendwann, als er sich die Daunen überzog und an die torfige, verschimmelte Decke sah. »Gib Ruhe!«, zischte ihn der Kauz an. »Sei hart, habe Geduld.« »Ich bin ruhig«, sagte Grosz. »Das ist alles was du musst«, tatterte der alte Kauz. »Das ist das Geheimnis. Nehme dir Zeit. Die Zeit ist das Einzige, das man mit roher Gewalt an sich reißen muss.« Dann kicherte er verschmitzt, wie ein Kleinkind auf einem Piratenschatz. »Gute Nacht, alter Mann.« Mehr hatte Grosz auch nicht zu sagen, er war müde. Doch der Kauz ließ nicht locker. »Gelassenheit brauchst du, junger Freund, eiserne Gelassenheit. Denn Gelassenheit ist nicht müdes Labsal und hat auch nichts am Hut mit Passivität. Gelassenheit ist die Angriffslust der Gemütlichkeit. Wo ein Gaspedal, dort ein Bremspedal, beide haben Wirkgewalt, doch nur eines hat die Macht mit einem Tritt auch Halt zu machen: Die Gelassenheit.« Grosz setzte sich auf, beugte sich vor und gab dem Kauz in ruhiger Erzählstimme Resonanz: »Gelassenheit?« Der Kauz setzte sich auf und nickte überzeugt. »Wenn du wüsstest, was es schon alles auf mich gelassen hat, alter Mann. Kanonenkugeln, Schrapnellschrot, Dreck, Menschenteile, Flugzeuge, ja, der rote Baron höchst persönlich ist vor meinen Augen heruntergekracht. Auf mich hat es schon das ein oder andere runtergelassen. Die Maschinen hinter uns rüttelten die Erde auf, wir waren bloß Insekten und hinter uns die Kehrbesen. Fleisch zwischen Pressplatten. Die Mäuler voller Quarzsand, die Socken voller Schlamm, innen und außen alles aufgewühlt, alles braun. Und die Jagdflieger, über uns, in heldenhaften Zweikämpfen, für gar nichts gut. Aber immer noch besser als die industrielle Vernichtung auf dem Boden, nur dort oben machte Krieg noch einen Sinn, so dachte man fast. In Form von Duellen. Duellanten, in zwischenmenschlichen Zweikampfbeziehungen, Mann gegen Mann. Die stürzenden Vögel zogen Brandfahnen hinter sich her und rahmten das Fiasko tief im Grund mit heiterem Orange. Und alles Feuer fiel vom Himmel und dort lagen wir in unseren Grabkammern. Das Licht erstickte in weiter Ferne und wir schaufelten unsere Gruben tiefer, von Angst und Kälte getrieben, die ganze Nacht hindurch, bis über uns die totbringende Morgenröte aufbrach und die Rauchwolken wieder sichtbar wurden, die den Himmel vergifteten. Und es schneite Asche und der Atem kondensierte zu öligem Film und die Fäuste wurden blau und die Fingernägel zersprangen. Was es mir schon alles vor die Füße gelassen hat, alter Mann. Heiß war der Himmel, kalt war die Erde. Und alles um uns herum erfror oder zerschmolz. Das Alles, das ist Wahnsinn! Alles Wahnsinn! Bin ich des Wahnsinns? Oder ist es alles andere? Egal wie lange du Ruhe gibst und herumsitzt, irgendwann wird schon jemand von alleine kommen, der dich erschießt. Und darum buddelten wir uns ein, darum schrien alle immer herum und alles war laut, laut, laut. Nur die brennenden Krähen fielen still. Und ihr Aufschlagen in nahem Gebiet spendete uns kurzzeitig warmes Licht, wie ein makabrer Hoffnungsschimmer. Da war nichts zum Ruhe geben, da ist auch nichts und da wird auch nie etwas sein. Da wurde, ist und wird geschossen. Und wenn du daran verrückt wirst, versuchen sie dir den Schädel zu öffnen um dir das Gehirn zurecht zu schneiden. Da kannst du dir deine Gelassenheit aber mal getrost in deine Waffe Laden, dir das Rohr an die Schläfe halten und drei Mal abdrücken, alter Mann.« Der Kauz presste sein Gesicht zusammen. »Gib Ruhe!«, keifte er stur. Er war zu alt, zu gewohnt, zu versteinert um noch etwas zu ändern. Natürlich hatte er recht, aber er war auch keine traumatisierte Künstlerseele wie Grosz, er war verwachsen und eingeklemmt. »Gib Ruhe!«, grummelte er, zog sich seine Schlafmütze, ein frommer Brauch aus dem vorigen Jahrhundert, über den Kopf und verkroch sich unter seine Decke wie unter ein Dach. Grosz tat es gut mal darüber geredet zu haben. Dann legte er sich hin und schloss die Augen für die früh verordnete Nachtruhe zwischen den Hysterie-Patienten. Einer summte wie eine Biene, einer raschelte wie die Blätter im Wind und einer bepisste sich wie der Morgentau eines weiteren, hysterischen, diagnoseversprechenden Vormittages.

X

Zurück in 1921.

Da liefen sie, die Hanswürste mit ihren Hanswürstinnen und Gewürzgurken der ersten Gewerkschaften im feindbesetzten Düsseldorf und demonstrierten ihren Ungehorsam. Die Industrie- und Bergbauunternehmen der Region waren unter der Kriegsschuldeneintreiberei von französischen und belgischen Militärs besetzt und kontrolliert. Was nützlich war wurde einkassiert, von der Steinkohle Bochums bis zum Hafer vor Köln. Die Arbeiter hungerten sich von Tag zu Tag und was sie an Energie übrig hatten, brüllten sie der Demonstrationseskorte der Soldaten entgegen an der sie vorbeidefilierten und alte Kriegsmärsche sangen, über den langen und reinen, vereinten und ehrlichen, heißen, deutschen Hass, der ewig währte und ohne Unterlass und so weiter. Ansgar Dachs klopfte die Asche aus seiner Pfeife in das Rinnsal, spuckte griesgrämig den Tabak zwischen seinen Zähnen auf die Straße und kehrte um in Richtung Kramladen. Mit den Arbeitern konnte er nicht viel anfangen. Keine Gemeinsamkeit, Parallelentwicklung, Koexistenz. Dachs war von Beruf Kunstfälscher, aber nicht irgendeiner, kurz: der Beste. Niemand kannte ihn außerhalb seines erlesenen Kreises, welcher aus ihm bestand. Und Kurt. Der Unbetastete, der Unbesehene. Er malte Gemälde nicht ab, er malte Werke nochmal und fügte dann, zu guter Letzt, den »Geniestreich« hinzu, wie er ihn nannte, der noch fehlte. Viele wesentlichen Werke wurden erst bedeutsam (und überhaupt berühmt), nachdem Dachs seinen Streich vollendet hatte. Von der Neuzeit bis zur Renaissance reanimierte er die Gedanken der Großen, der größten Kunstmaler, der Koryphäen und der Verrückten und überstäubte sie mit dem künstlichen Verwesungsprozess der dunklen Alchemie (meistens reichte auch ein Backofen) – auf dass sich ihre Werke auf die Fissuren, die Patina-Absplitterungen und Verlaufsrichtungen der Pigmentverluste genau glichen. Er tauschte seine Versionen mit denen der Bestände in den Museen und Privatsammlungen aus und verbrannte die Originale. Es war jedes Mal ein Fest. Schon in seiner Ausbildung zum Restaurator stellte ihm sein Ausbilder die Naturstudie des Feldhasen Albrecht Dürers von 1502 auf die Staffelei, er solle es zu Lernzwecken imitieren. Dachs‘ »Gemini«, wie er seine Perfektionen nannte, waren so exakt, von Duktus und Pinselgesinnung bis hin zur Nachbildung des Alters von damaliger Materialwahl und dessen Verschleiß durch die Zeit, dass er dem Ausbilder die Kopie zurückgab – und das Original behielt. So heißt es. Durch die Zugabe des »Geniestreichs« war dem Ausbilder, als hätte das Werk an Wert, an Ausstrahlung, an Sympathie gewonnen, doch er konnte nicht genau benennen was es war. Seit her ist der Feldhase aus keinem historischen Abriss jener Epoche auszulassen. Er brannte umwerfend schön. Wo das größte Werk an die Kunst das Unbekannt-bleiben ist, liegt man außer Konkurrenz der Namentlichen. Wo andere Künstler mit leiser Katzentatze am Naschtor der Unsterblichkeit kratzen, lehnte Dachs sich zurück in die Lebbarkeit der Gegenwart. Und wo andere Künstler jeden Morgen von der Klinge des Anspruchs wachgestochen wurden und des Abends mit der vagen Vermutung der Erfolglosigkeit versuchten einzuschlafen, da lachte er sie aus und stopfte sich die Pfeife. Sie alle wollten in die Kunstgeschichte eingehen, ein Vermächtnis hinterlassen, einen Namen nach dem Tode führen. Für Dachs war das lächerlich prätentiöses Geltungsgebaren. Was nützt der Name nach dem Tod. Das goldene Glöckchen an der beglasten Eingangstür klingelte bei seinem Eintritt in den Kramladen. »Nichts zu erleben außer die Spinner da draußen«, nuschelte der Riese am Tresen hinter seinem Schmöker hervor aus seinem Bauch heraus. Der Kramsammler Kurt Brockhaus war ein massiver und edler Zeitgenosse. Zwei Meter war er hoch und einen breit. Ein Berg, ein Goliath, ein Fass von einem Mann. Auf mittelalterlichen Schlachtfeldern hätte er Raubritter gerissen wie Wölfe junge Kälber. Mit dem Morgenstern hätte er die blechernen Helme wie Nussschalen zerknackt, wenn er nicht so prüfend und sanftmütig wäre. Doch heute, Anfang der 1920er, da stieß er sich regelmäßig die Stirn an niedrigen Lampenschirmen und tiefgezogenen Türbalken in kleinen Lesestuben. Auch sein Gedächtnis schien ein Koloss zu sein. Aus seinem roten Vollbart kamen massenweise Anekdoten zu kunstgeschichtlichem Anno dazumal und er hatte immer zusätzlich ganz allgemein von Allem eine Art Ahnung. Kein Künstler, aber ein Künstlerfreund, eine wandelnde Enzyklopädie in seinem Lebensraum der alten Bücher, Gegenstände und Gerüche. »Die Gewerkschaften haben heute wieder dringlichsten Weltrevolutionstag«, sagte er und nickte zum Schaufenster, mit dem Zeigefinger voran, »und bekämpfen die Gewaltspirale, wenn es sein muss mit Gewalt. Kollektiveifer nenne ich sowas: Pumpen eine Sache auf, konstruieren sich die absolute Wichtigkeit und dann gibt es nichts anderes mehr. Können dann einfach nicht bei sich halten.« »Ich wollte heute sowieso nicht Spazieren gehen«, sagte Dachs und schleifte durch die engen Gänge zwischen den bauchigen Regalen und wackligen Stützbalken. Der Laden war voller kleiner und kleinlicher Winzigkeiten. Ein archivalisches Konglomerat von fast Allem. Die Ablagebretter gähnten und bogen sich unter der Last des akribischen Sammelsuriums. Hier und dort knackte es leise. Prähistorische Büchsen und Töpfchen mit antiken Inhalten türmten sich zu einem Mikado-artigen Mosaik. Dort und da standen Marmorbüsten irgendwelcher zweitwichtigsten Personen der Geschichte auf Bücherstapeln. Ein ausgestopftes Gürteltier, ein Elfenbeinhorn, allerlei Piratensäbel, afrikanische Masken und Hirschgeweihe. Eine Daumenschraube und anderes inquisitorisches Foltergerät, ein übergroßer Schildkrötenpanzer, ein Haifischgebiss und tropische Schrumpfköpfe hingen von der Wand. Er ging zu dem Schrank mit den Farbtöpfchen und Klangschälchen und Elixieren und griff nach einem Blau. Brockhaus war Dachs‘ Ratgeber in Sachen chemischer Zusammensetzung, kontemporärer Farbgebung und künstlicher Alterung seiner Fälschungen, seiner »Gemini«. Gemeinsam begutachteten sie Stile und Geschmäcker über Zeitfenster, welche sich zu Zeiträumen auftaten, über denen Epochen herüberzogen. Die Unterschiede von Krakelees, die Aggregatszustände von Öl mit Eigelb, das Koffein, der Schwefel, das Bügeleisen. »Ich hätte eine Frage zu einem neuen Projekt«, sagte Dachs verschwiegen. »Ein Projekt?«, fragte Brockhaus aufmerkend und schlug den Wälzer zu, schob ihn an seinen Platz zurück und holte die Tassen aus dem Schrank. »Welches Projekt?« »Ich dachte diesmal an einen dieser Peredwischniki, einen russischen Wandermaler«, holte Dachs aus. »Weg von der Menschheit, wieder hin zur Landschaftsmalerei. Wie damals den Turner. Diese Ruhe der Freiheit. Ich meine, diese Nebelschleier, dieser Luftgeschmack, dieses Sonnenlicht, das auf nichts trifft und in den Wasserkristallen leuchtet. Das Schimmern, das Unterholz, die faulen Grasstengel, die Beliebigkeit, bewusst, die Unordnung. Mit drei abgefransten Reisepinseln ähnlicher Auftragsbreite, nichts weiter.« »Du meinst einen Mjassojedow?«, riet Brockhaus begeistert. »Fast«, sagte Dachs, schraubte das Blau auf und roch daran. »Iwan Schischkin, du willst einen Schischkin?« »Nicht irgendeinen, Kurt, Ich will ›das Roggenfeld‹.« »Na dann schieß los. Wo hast du Fragen?« Brockhaus holte schon mal den Cuvée aus dem Maul einer ausgestopften Krokodilsschnauze. Zum Anfang eines neuen Projektes gab es stets nur das Auserlesenste. »Erstklassige Traubenmische«, lobte Brockhaus die Flasche, »hat einen Abgang wie der Kaiser höchst persönlich.« Er zog den Korken aus dem Hals und lachte bedächtig in sich hinein, während er das Weingut in die Tassen kippte. Alles hatte er im Haus außer Weingläser. »Wer besitzt das Bild?«, fragte Dachs und nahm sich einen Becher. »Ich denke mal, es steht irgendwo in einem russischen Privatarchiv mit dem Gesicht zur Wand«, antwortete Brockhaus und tunkte seine Zottel in den Wein. »Lässt sich schon herausfinden, ich frage einfach den alten Russen Pyotr, den Arzt, du weißt schon. Der musste sein Buch auf Eis legen um für diesen Lenin als Leibarzt den Spezialistenbuckel zu machen, zumindest zwitscherte mir das die Brieftaube neulich. Er sitzt zumindest in Moskau fest. Der wird schon wissen wo das ist, kann ja mal die Bolschewiken fragen, die da gerade wüten.« Dachs nickte und verzog einen Mundwinkel. »Pyotr Bobrow. Der Hirnwühler.« Dachs hatte nicht allzu viel übrig für jenen Doktor, einen Maulaffen, der sich selbst unmissverständlich für den nächsten Newtonschen Über-Sokraten hielt. Die Natur reagiert nur leider nicht auf romantische Gefühle. »Nächste Frage. Wie verhält es sich mit diesem Blau hier, stammt das aus der Zeit?« »Kobalt-Blau, Ansgar, träumst du? Die Pisse der Götter. Soweit ich weiß, hat schon Kleopatra darin Bäder abgehalten, keinen Zweifel – hat aber nichts mit unserem Schischkin zu tun.« »Ich brauche Ultramarin«, sagte Dachs und stellte das Blau zurück ins Regal. »Und du brauchst Gummigutta«, empfahl Brockhaus. »Ohne Gummigutta kein Schischkin, mein Freund. Da, neben dem Indigo. Das brauchst du auch. Ist übrigens auch gut gegen Verstopfung. Nimm auch den getrockneten Färberkrapp da drüben. Dann Schinkelschwarz, Indischrot, Äschel, Perlgrau, Schlohengelweiß, Grünaffe und, ja, was wir auch brauchen ist Ultramarin, aber aus echtem Lapislazuli-Gestein.« »Wo steht das?«, fragte Dachs und suchte nach der Aufschrift. »Nicht auf Lager.« »Wie – nicht auf Lager?« »Ist ein seltenes Stück Fels, kommt aus den Tiefen Indiens und Zentralasiens, ein Höhlenstein – kein Stein, den man mal auf dem Strand an der Nordsee aufsammelt. Hab ich nicht.« »Indien?«, fragte Dachs. »Ich schipper doch nicht bis nach Indien. Du weißt doch was beim letzten Mal passiert ist.« »Nun, es gäbe eine Möglichkeit«, sagte Brockhaus. »Den Lapislazuli-Stein gibt es wohl auch gleich ums Eck bei uns. Wurde nur noch nicht gefördert. In der Eifel, will ich meinen. Moment.« Er drehte sich um und rüttelte an einem Schinken im Bücherregal, das wie wild knarzte und sich sträubte. Staub schneite von den Staubgipfeln dicht unter der Decke herab. Mit festem Griff hievte er den Ochsen heraus, knallte ihn vor sich auf den Tresen und grub seine Nase in das Inhaltsverzeichnis wie ein Trüffelschwein. Dachs schüttelte den Kopf. Hat er nicht. Wo gibt es denn sowas? »Da!« Brockhaus zeigte auf eines der unzähligen, kleinen Wörter. »Gute alte Vulkaneifel. Padauz!« »Lapislazuli in der Eifel? Willst du, dass ich in eine Höhle steige? Ich bin Maler, Gott noch eins.« »Zu stolz?«, fragte Brockhaus. »Das hat nichts mit Stolz zu tun, sondern mit Größe«, postulierte Dachs und hob die Brust an. Brockhaus las einen seiner Sätze aus seinem immensen Gedächtnis. »Der Große, der zu Trägheit neigt, der Größe wegen. Doch spornst du ihn, wird er größeres leisten. Langweilst du ihn, streckst du ihn nieder und er schläft so lange, bis er stirbt.« »Wie meinen?« »Machen wir doch mal einen Ausflug, ich sitze ständig hier im Laden herum. Komm, Ansgar, lass uns was unternehmen, etwas anstellen. Schnappen wir uns den Lapislazuli, auf, auf, in die Eifel, da gibts was zu erleben.« Brockhaus schnürte schon seinen Feldsack auf, sammelte die erforderlichen Gebrauchsgegenstände aus dem Universal seines Ladens, das alles beinhaltete außer Lapislazuli und Weingläser und forderte Dachs zum Mitdenken auf.

Die Eifel war ein trauriges Naturschauspiel. Es war nieslig, neblig, kalt, grau, sauer und hatte alles, worum man die wenigen Bauern in ihren kleinen Dörfchen nicht beneidete. Im Zentrum Europas ein ausgewachsenes Nichts. Nur Höhlen gab es jede Menge, von den wenigen Bahnhöfen erforderten sie lange Märsche.

Brockhaus schlug einen Bolzen in den Boden des Höhleneingangs und befestigte den Ariadnefaden, Dachs entzündete die Funzel und sie stiegen hinab in die Unterwelt. Die riesenhaften Schatten der Felszacken tanzten an den kristallin schimmernden Wänden um sie herum in der feuchtkalten, stehenden Grottenluft, es tröpfelte und plätscherte überall und nirgendwo. Je tiefer sie stiegen, desto gewaltiger bauten sich die Stalagmiten auf und sahen aus wie Orgeln und Altare in dieser Kathedrale des Hades. Sie stiegen durch enge Flure und landeten in majestätischen Hallen, aus allen Ecken quietschten die müden Fledermäuse in ihrer Tagruhe gestört, um ihre Stille gebracht.

»Dort!«, rief Dachs und deutete auf ein Flimmern, das einem Felsspalt entsprang, so als mache jemand anderes Licht, hier unten in der Tiefe. Ein paar sensible Fledermäuse hatten genug Krach gehört und flogen kreischend davon.

»Da ist jemand«, resultierte Brockhaus und sie schlichen zu dem Spalt. Hinter dem Felsen führte ein weiterer Weg zu obskuren Geheimnissen. Wissbegierig zwängten sie sich hindurch und folgten dem Leuchten, welches bald zu knistern begann und aus dem Verdacht wurde Gewissheit, dass dort am Ende des Weges ein Feuer brannte. Als sie das Lager erreichten sahen sie einen rundlichen Raum mit einem natürlichen Rauchabzug in der Decke, drei Kisten standen dort, eine Angel lehnte an der Wand und ein toter Hase hing ab. Am Feuer saß ein auffallend junger Mann, mit langem Bart und Zottelhaaren in eine Art Toga eingewickelt. Er kniete dort friedfertig vor einem kleinen Felsbrocken wie ein Japaner vor seinem Esstisch und bestrich den Stein mit einem Zweig. Er tunkte den Zweig in eine Pfütze neben ihm, so als nehme er Tinte oder Farbe auf und strich weiter. Es sah aus, als ob er schrieb, oder etwas Bestimmtes malte. Sanftmütig in seine Arbeit versunken.

Brockhaus hustete absichtlich zur Begrüßung. Ruhig sah der Einsiedler auf.

»Gäste«, sagte er feststellend, weder freundlich noch unhöflich, die Tatsache erfassend.

»Gäste«, sagte Brockhaus, auf eine neugierige Nachfrage wartend, doch diese kam nicht. Der Einsiedler tunkte abermals seinen Zweig in Wasser und schrieb oder malte weiter, als wäre die Konversation für ihn damit beendet, wenn sie denn begonnen hätte.

»Sind wir hier richtig?«, fragte Dachs augenzwinkernd und klopfte Brockhaus auf die Schulter, als Zeichen um weiter nach dem Lapislazuli zu suchen. Doch Brockhaus winkte ab.

»Sie wohnen hier?«, fragte er den Einsiedler.

»Ich sitze hier«, erklärte der. »Wohnen würde ich nicht sagen.«

»Ein Irrer«, sagte Dachs zu Brockaus. »Lass uns weitersuchen.«

»Wir haben doch eine Ewigkeit Zeit, Ansgar, komm setzen wir uns erstmal ans Feuer. Wollen Sie den Hasen da ganz alleine essen, oder ist da noch Raum für einen Bissen?«

Der Einsiedler zog eine Schale gegrillter Fleischstückchen hinter dem Felsen hervor und schob sie ans Feuer.

»Spatzen und Fledermäuse«, nannte er es. »Nehmen Sie sich, wie es Ihnen schmeckt.«

Dachs klatschte prompt in die Hände. »Ich habe Pastete dabei, wenn du jetzt unbedingt was essen musst, Kurt.«

»Ich bevorzuge Spatzen und Fledermäuse«, sagte Brockhaus trocken, setzte sich ans Lager und griff in die Schale. Dachs tat ihm nörgelnd gleich. Brockhaus‘ unnütze Schnüffeleien nahmen ihm oft einiges an Geduld ab.

»Dann erzählen Sie mal, Herr Einsiedler«, eröffnete Brockhaus. »Wie sind Sie hierhergekommen? Warum sind Sie hier? Sie sind doch noch jung wie ich sehe, was suchen Sie in dieser gottverlassenen Höhle?«

Der Einsiedler nahm wieder seinen Zweig zu Hand und fuhr mit seiner Arbeit fort.

»Ich schreibe meine Gedanken auf und male meine Gefühlswelt aus und bin noch nicht fertig damit. Ich brauche noch ein wenig Zeit und vielleicht für immer. Viele Dinge stehen hier auf den Steinen, viele Leben habe ich schon gezeichnet.«

»Mit Wasser?«, fragte Brockhaus mit vollem Mund. Dann spuckte er einen kleinen Schnabel ins Feuer. Es schmeckte. Dachs biss derweil in seine Pastete.

»Das macht keinen Unterschied«, sagte der Einsiedler.

Brockhaus lachte Dachs begeistert an, doch dieser guckte nur unbeeindruckt zurück.

»Ich war auch mal ein Mensch«, sagte der Einsiedler und nahm an Fahrt auf. Offenbar tat ihm sprechen gerade gut.

»Ich dachte, ich wäre überzeugt gewesen und ich war mir fast sicher klug zu sein. Ich sah mich auf einem richtigen Weg, ich dachte, ich hätte etwas verstanden. Ja, ich dachte, mein Gefühl könne mich nicht täuschen, ich dachte, ich hätte die Wahrheit eingefangen wie ein Glühwürmchen und auf den Punkt gebracht, so als leuchtete sie mir ein. Also wurde ich Soldat, um Held zu werden. Wir kamen in unseren ersten Kampf an der Yser bei Langemarck. Und dort, auf diesem Feld, erkannte ich das Ausmaß meines Irrtums.«

Er hob seine Toga zur Seite und zeigte zwei Einschusslöcher in seinem Brustkorb. Er schob den Vorhang wieder zu und hob die Hände.

»Ich war doch so klug, ich hatte doch verstanden, es leuchtete mir doch alles ein. Wie konnte das alles, wie konnte ich so ein Irrtum sein? Das fragte ich mich.« »Wann fragten Sie sich das?«, hakte Brockhaus interessiert nach. »Schon wieder eine Kriegsgeschichte? Na dann gute Nacht.« Dachs stopfte den Pastetenrest in seine Backentaschen, spülte aus der Feldflasche etwas Bier nach, zog seinen Beutel nach hinten und legte seinen Kopf darauf für ein Nickerchen. Der Einsiedler holte tief Luft. »Es begann so: Das erste, woran ich mich erinnere, ist unser Hauptmann. Stolz und souverän ging er voran auf das Feld, dem feindbesetzten Dorf entgegen. In der einen Hand hielt er seine Pfeife, mit der er auf den Feind zeigte, in der anderen den Säbel, mit dem er uns zuwinkte und uns zu verstehen gab ihm zu folgen. Sein Schnauzer wehte in diesem besonderen Wind, der steigt, kurz bevor ein Gewitter hereinbricht. Leichte Wolken rasten über uns herüber, sanfte Blitze flackerten in den trüben Schwaden auf. Lange hatten wir auf die Ehre gewartet. Die erste Schlacht sollte beginnen, der Ruhm war uns nah und heilig. Aus den Gebäuden des Ortes flimmerten Lichter auf, wie ein ganzer Sternenhimmel, der sich aus dem Nichts auftat und ihre Strahlen sausten und pfiffen mir um den Kopf, die Geschosse prasselten dicht wie ein Hagelsturm mitten in unser Bataillon. Schrapnelle, Schrot, alles was aus Eisen war befand sich in der Luft. Einer nach dem anderen zitterte zu Boden. Ein Streifschuss traf meinen Helm und klingelte mich wach, ich ließ mich fallen. Als ich wieder nach vorn sah, erkannte ich unseren mutigen Hauptmann an der Spitze, er kniete mit gesenktem Kopf im Acker. Seine Pfeife lag neben ihm, sein Säbel rutschte ihm langsam aus der Hand und hielt sich nur noch mit der Schlaufe am Griff an seinem Gelenk. Neben mir lag ein alter Kamerad aus der Kaserne, den ich noch aus Berlin kannte. Schlosserlehrling war er im Zivilverhältnis. Seine Vorderzähne waren herausgebrochen, sein rechtes Auge war weiß, er brüllte mich an. Ich lag regungslos neben ihm und starrte ihm in sein sterbendes Gesicht, das war‘s, ich war tot, ich hatte meine Pflicht erfüllt. Das war sie also, die Ehre. Ich bettete meine Wange in den Matsch, sah meinen Kameraden brüllend zu Ende leben und fiel in einen dreitägigen Schlaf. Als ich aufwachte fand ich mich mit Chlorkalk bestreut, gegen den Verwesungsgestank nehme ich an, es half nicht viel. Die Toten um mich herum waren aufgebläht und neue, frische, waren dazugekommen. Sie liefen einfach über die Leichen drüber und ließen sich weiter erschießen. Immer wieder und wieder rannten sie an. Immer vorwärts, vorwärts – wer fällt, fällt. Alle Verwesungsstadien waren zu erkennen, in Sechsstunden-Intervallen. Mein Kamerad brüllte schon lange nicht mehr, er war schon aufgeplatzt. So lagen sie da, die, welche vor ein paar Tagen noch Loblieder auf das Vaterland sangen mit Wolfsgeheul und Tschinderassa, mit Gewehren in ihren Händen und Kugeln in ihren Herzen. In alle Himmelsrichtungen über den Acker gesät, das Schanzzeug in alle Winde verstreut, von den schweren Tornistern in die Pflugrillen gedrückt. Einer war verrückt geworden, wühlte in der Erde und tanzte zwischen den Linien. ›Ich bin tot, Ich bin tot‹, sang er. Bald war er auch wirklich tot. Gnade uns, dachte ich in diesem Moment, wenn Gott das wüsste. Das weiß ich noch. Ich robbte einen halben Tag lang hin zu dem nahen Pappelhain am Rande des Ackers, so langsam, dass mich kein Schütze aus dem Dorf ausmachen konnte. Ich trank aus den öligen Pfützen und aß die kleinwüchsigen Rüben, die die Bauern nach der Ernte in der Erde gelassen hatten. Hinter dem Pappelhain buddelten die übrigen Infanteristen einen Graben, wie Tatteriche schlotternd, einen halben Meter tief, um sich dort zu verstecken. Dann grollte schon wieder der Befehl über ihre verwirrten Köpfe. Wieder anrennen, Pflicht und Vaterland. Sie schnappten auf und rüttelten die Gewehre und tasteten sich ab, ob sie nicht doch schon irgendwo getroffen waren. Ich zweigte ab. Sie liefen kreischend in den Westen, dem Sonnenuntergang entgegen, der sie blendete, ich ging nach Süden. Nach kurzer Zeit hörte ich hinter mir wie die Luft durch hunderte rasende Peitschenschläge zerrissen wurde. Ich drehte mich ein letztes Mal um und sah Rauch aus den Pappeln herausqualmen, wie aus Schornsteinen. Je weiter ich ging, desto leiser wurden die Schreie. Eine Kuh mit zerschossenem Hinterteil sank nicht unweit von mir in die Wiese. Die Bauern hatten all ihr Vieh freigelassen. Das Tier hielt sich noch mit den Vorderbeinen aufrecht, zitterte, dann fiel es zusammen. Die Schweine waren hartnäckiger, noch tagelang streiften sie mit ihren Wunden umher und grunzten zäh, dann versackten auch sie. Nur die Hühner flatterten quietschfidel über die Leichen, schwirrten in die Bäume und gackerten wie echte Kriegsprofiteure. Ich ging weiter und kam in verlassene Dörfer. Ich betrat ein leeres Haus, alles stand noch an seinem Platz, kalter Kaffee auf dem Kocher, Spielsachen verstreut im Salon. Es kam mir so vor, als beträte ich ein Zimmer voller Menschen, doch alle waren unsichtbar, nur ich nicht. Ich ging weiter. Unter den Wäldern zu schlafen wurde zu Gewohnheit. Behutsame Eulen sangen mich in den Schlaf und eifrige Spechte weckten mich an den Morgen. Als ich das erste Mal seit langem einen Menschen sah, griff ich zu meinem eigenen Erschrecken nach meinem Gewehr und rüttelte daran, als ob ich noch eines gehabt hätte. Eine Phantomreaktion. Ich beobachtete ihn. Es war frischer Morgen und man sah die Wasserpartikel in der frühen Luft. Er war Bauer oder Förster und hackte Holz. Ich legte an und sagte: Peng. Dann schlich ich davon und lebte fortan allein. Und hier sitze ich nun und schreibe und male meine Überlegungen auf.« Schmatzend stellte Brockhaus die Schale zurück ans Lager. »Dann haben Sie ja einiges verpasst seitdem. Wann war das?« »Es war die erste Schlacht des Krieges in Belgien, Langemarck bei der Yser, das sagte ich.« »Der Krieg ist aus«, brummte Dachs, drehte sich um und versuchte zu schlafen. Brockhaus belehrte: »Das ist jetzt sieben Jahre her, junger Mann, der Krieg dauerte vier Jahre und ist jetzt schon seit drei Jahren vorüber. Wir haben verloren, der Kaiser wurde abgedankt und die Monarchie gibt es nicht mehr. Die Siegermächte vereinigten die Erde in einem Völkerbund und teilten sie untereinander auf. Alte Länder zerfielen, neue entstanden, selbst die Juden haben jetzt einen eigenen Staat. Die Welt ist zu einem Netz aus Grenzen verwebt und Deutschland blecht. Sie haben einiges verpasst. Wir haben Frieden!« »Es hat einen Krieg gegeben, also wird es wieder einen geben, das ist die Natur der Dinge.« »Sind Sie sich da so sicher?« »Ein Fluss fließt ins Meer, im Meer kondensiert sein Wasser zu einer Wolke und zieht zurück ins Landesinnere, wo er früher oder später zurück in seine Quelle regnet. Der Fluss kann große Kurven schlängeln, lange Wege fluten, breite Bögen schwingen; er kann es verzögern, doch er kann es nicht verhindern. Er wird wieder ins Meer fließen, wieder verdunsten, wieder in den Himmel steigen und wieder herabregnen. Und wir alle sind nur Regentropfen, die wieder und wieder mitgezogen werden. Alles wiederholt sich. Allein ich bin neben das Flussbett gefallen und in eine Tropfsteinhöhle gesickert. Hier fließe ich nicht mehr, hier kondensiere ich nur an der Decke und falle von den Stalaktiten und werde zu Mondmilch. Das alles können Sie lesen, hier auf den Steinen.« Er zeigte auf verschiedene Steine, die dort herumlagen und angeordnet aussahen. »Es ist eine unendliche Geschichte der Vergesslichkeit.« Dann tunkte er den Zweig wieder in die Pfütze und schrieb. »Sie haben tatsächlich alles verpasst«, nuschelte Dachs, mit dem Rücken zugewandt. »Sie haben wirklich gar nichts mitgekriegt.« »Ich weiß genug. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gibt«, erwiderte der Einsiedler schreibend. Dann legte er den Zweig zur Seite und atmete lange aus. »Das Leben, das Sie meinen, welches mir verborgen bleibt, ist das Öffentliche. Ich schätze meine Privatsphäre.« »Und Ihre Familie?«, fragte Brockhaus. »Wollen Sie nicht wissen wie es Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, Ihren Freunden ergangen ist? Wie es ihnen geht?« »Ich weiß, wie es ihnen geht. Es geht ihnen so, wie ich denke, wie es ihnen geht. Ich habe ihre glücklichen Gesichter auf die Steine hier gemalt. Sie sind bei mir und ich bei ihnen.« Dachs wollte nicht so recht einschlafen und stützte sich auf. »Wir suchen Lapislazuli«, sagte er und rieb sich die Augen. »Das ist eine Farbe, nicht wahr?«, vervollständigte der Einsiedler sein Gedächtnis. »Nein, das ist ein Stein. Aber aus diesem Stein gewinnt man eine Farbe: Ultramarin. Das brauchen wir. Man soll es hier in den Höhlen finden können.« »Aber wir befinden uns in der Eifel, wenn ich mich recht irre.« Der Einsiedler schien an einem Mundwinkel zu lächeln. Brockhaus rehabilitierte seinen Verdacht. »Ich habe gelesen, es gäbe auch in der Eifel Fundorte von Lapislazuli-Adern. Wissen Sie, wo die sind?« »Ich verwende keine Farben«, sagte der Einsiedler. »Ich nehme das Wasser hier.« »So!«, sagte Dachs und stand auf. »Kurt, ich denke, das war unser Stichwort. Auf geht‘s – weitersuchen.« »Warte noch«, bändigte ihn Brockhaus. »Ich will mehr erfahren, lass ihn doch noch eine Weile sprechen.« Dachs blies die Backen auf und setzte sich wieder hin. »An was arbeiten Sie gerade?«, wandte sich Brockhaus an den Einsiedler. »Schreiben Sie eine Geschichte?« »Ein Gleichnis, ja«, sagte der Einsiedler. »Können wir es hören?«, fragte Brockhaus. Dachs rieb sich die Stirn. »Natürlich«, kündigte der Einsiedler an. »Ich hole nur eben etwas Dramaturgie, dann erzähle ich.« Er stand auf, ging zu einer kleinen Kiste und holte eine Hand voll Schießpulver heraus. Er setzte sich näher an das Feuer und an seine Gäste, nahm etwas von dem schwarzen Sand aus seiner Handkuhle und warf einen Schrot in das Feuer, so dass es aufwallte, zischte, knackte und Funken spie. »Es ist das Gleichnis des erleuchteten Feuergespenstes«, führte er an, Brockhaus sah in die Glut und öffnete seine Ohren, Dachs gähnte und der Einsiedler begann: »Volk des Feuers, Gespenstervolk, knackende, knisterbärtige Gelbköpfe, das waren sie. Sie waren Licht, sie waren Hitze – nur eines waren sie nicht – dunkel. Darum machten sie die unbekannten Schatten rund um ihre Welt zu Götzen, zu Göttern, die sie bebeteten und sich nach ihren Tänzen richteten, sich ihnen unterordneten und sich selbst und ihr Licht zu Nichtsen verklärten. Und so schrieben und gesetzestexteten es die Priester nieder über die Niederköpfe, und so prusteten es die Bischöfe in den Flammenberg und die müden Feuergespenster ließen ihre faulen Mäuler auf und kauten, schluckten und dauten jeden Schnitz Asche, den sie ihnen hineinwarfen. Beten zu den Schatten, als dass sie Erschaffer, Schützer und Zerstörer sein mögen, auf dass die Hegemonen über die Blindgeborenen herrschen. Bloß dies eine rätsel-frohe Gespenst fraß die Leichenweisheit nicht, sah unter jedem schwarzen Holzscheit nach und wendete jeden gesprungenen Stein um sich selbst ein Bild zu machen. Beständig bewanderte es die springenden Gipfel, schlich von Bergbauch zu Bergrücken, um den Hintergrund der Schatten und ihre Herkunft zu entlarven. Und so schlug eines Tages die Zeit des Handelnden, als es auf einen fliehenden Funken sprang und durch die Hitzemauer in die Außenwelt hineinritt. Herausgestiegen aus der Feuerwelt erblickte das Gespenst zum ersten Mal das Nicht-Licht, sah Figur und Abriss, Gegenstand und Zugehörigkeit, Farbe und Kontrast und zuletzt das Gestirn der Sonne, dem Urfeuer, das Leben über all das All-Das goss. Das Gespenst verstand. Alles andere als Götter sind diese Schatten! Nichts als dunkle Luft, untergebene des Wahren, Illusion, Trabant der Realität. Und es leuchtete. Also sank es zurück in das Loder um es allen Gespenstern zuzutragen, auf dass sie Augen und Ohren haben würden für ihr Winzling-Dasein und Zwergen-Dortsein. Doch die Gespenster waren dummgebildet und Eitel ihres Starrsinns. Sie wollten es zur Überraschung des Gespenstes nicht wissen, sie wollten weiter an die Schatten glauben. Und nicht nur das. Die Fäuste der Hegemonen und Priester und Bischöfe wüteten über des Pestgespenstes Wahnsinn, frostgesprengt sei seine Seele draußen in der bitteren Eiswelt der Schattengötter – und ohnehin stand schon der Gedanke unter Strafregel ihrer Schattenreligion. Und sie befahlen seine Buße und man tat wie ihnen gesagt. Sie schmierten das Gespenst in Ölfilm und unterwarfen es der Brandleisterei. Wasser sieden und Luft saugen sollte es, zu beflissener Geschäftigkeit verdammt, sich krümmen und sich nicht mehr kümmern um diese Trümmerträume. So duckte sich das Gespenst lange Geisterjahre unter den Gewölben der Brandhölzer und Schmelzeisen – bis eines Tages wieder die Zeit des Handelnden schlug, es einen Funken ergriff und aus dem Schlund der feigen Bestien entkam. So stieß es voller Abenteuerlust und Freisinn hinauf zum Urfeuer – und als es der Sonne zu nahe kam verdampfte es und wurde zu Stein. Und wie jeder Stein, so musste auch dieser – fallen. Also fiel die Statue des Gespenstes zurück auf den alten Flammenberg und löschte alles Feuer bis auf den letzten armen, leuchtenden Glühwurm und Armleuchter aus.« Der Einsiedler nahm wieder etwas Pulver aus der Hand und streute es in das Lager. Er schien seine Rede beendet zu haben, denn er sagte nichts mehr. Brockhaus kramte in seinem Bart und Dachs schnarchte. Er war offensichtlich endlich eingeschlafen. »Und das Feuergespenst, das zu Stein wird und alles plattmacht ist eine Metapher für was?«, fragte Brockhaus, der das Suppenhaar gefunden zu haben schien, nach dem er suchte. »Es ist keine Metapher«, sagte der Einsiedler. »Es ist ein Gleichnis.« »Um was zu sagen?« »Wie es ist.« »Wie können Sie wissen wie es ist? Sie waren sieben Jahre nicht mehr da draußen. Sie waren sieben Jahre allein.« »Es ist, wie ich denke, wie es ist«, sagte der Einsiedler. Brockhaus lächelte entzückt über die stolze Naivität des jungen, bärtigen Mannes in seiner Eifler Tropfsteinhöhle. Seinen Frieden scheinbar früh gefunden, mit der Vulkan-landschaft Verwandtschaft geschlossen. »Es steht hier überall auf den Steinen«, wiederholte sich der Einsiedler. »Wie heißen Sie denn? Oder wie hießen Sie mal?«, fragte Brockhaus. »Damals, in Ihrer anderen Welt, bevor sie in den Krieg gezogen waren? Im Zivilverhältnis, wie man so schön sagt.« »Ich hieß Peter«, sagte der Einsiedler. »Und wie nennen Sie sich jetzt?«, fragte Brockhaus weiter. »Ich gebe mir keinen Begriff«, winkte der Einsiedler ab. »Es gibt genug Wörter, die nicht beschreiben, was sie sind, da brauche ich für mich nicht auch noch eins. Ich träume jede Nacht – und jeden Morgen stehe ich mit einem neuen Namen auf.« Dachs schnaufte auf und rieb seine Zähne, dass sein Gebiss quietschte. »Was er wohl träumt«, sagte der Einsiedler, den schlafenden Dachs betrachtend. »Ach, Der träumt nur von sich selbst«, lachte Brockhaus, zufrieden seinen besten Freund in friedlichem Tiefschlaf zu sehen. Auf dass er bald aufwache und einen ernüchternden Vorschlag mache. »Der ist ein unaufhaltsamer Bär auf Honigsuche.« »Lapislazuli finden Sie in dieser Höhle nicht«, gestand der Einsiedler plötzlich. Brockhaus blickte überrascht auf. »Aber ich habe eine Lapislazuli-Ader entdeckt. In einer kleineren, aber steileren Höhle, vielleicht tausend zweihundert Schritte nordostwärts von hier, da schimmerte mir ein wunderschönes Blau entgegen.« »Tatsache!«, stellte Brockhaus lautstark fest. Und schüttelte den träumenden Dachs. »Aufwachen Ansgar, ich kenne den Weg.« Dachs schoss nach oben und sprach aus seinem Traum heraus, der Realität entgegen. »Nein. Das kostet acht Millionen Mark. Bedenken Sie die Inflation! Seh ich denn aus wie der Briefträger? Scheiße!« »Ansgar!«, rief Brockhaus ihn zurück. »Das Lapislazuli, wir wissen jetzt wo es ist.« »Wo? Raus mit der Spucke. Hat der Höhlenpfaffe endlich ausgepackt?« »Hat er«, sagte der Einsiedler und lächelte zum ersten Mal eindeutig. »Na dann los!«, rief Dachs, griff nach dem Rucksack und der Gaslampe und marschierte voraus. Brockhaus gab dem Einsiedler die Hand. »Verraten Sie niemandem, dass es mich gibt, ich komme von selbst, wenn es soweit ist«, sagte der Einsiedler zum Abschied. »Wann wird das sein?«, fragte Brockhaus. »Vielleicht in einer Minute, vielleicht nie, ich weiß nicht.« »Na dann, viel Erfolg mit Ihrem Wasserwerk und was immer Sie hier auch tun. Und nur damit Sie Bescheid wissen: Uns hat es auch nie gegeben. Klar?« Der Einsiedler nickte und kniete sich wieder vor seinen Stein, nahm den Zweig, tunkte ihn in die Pfütze und schrieb. Brockhaus schloss auf Dachs auf, sie folgten dem Ariadnefaden zurück an den Eingang und gingen tausend zweihundert Schritte nordostwärts zur nächsten Höhle, krackselten abermals hinab und fanden den Lapislazuli. Doch da Dachs das Minenbesteck, namentlich den Meißel vergessen hatte, konnten sie ihn nicht herauslösen. Drei Tage später kamen sie wieder und schürften. Den Einsiedler besuchten sie kein zweites Mal.

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Zürcher Depesche

zum Deutsch-Russischen Überraschungsfrieden.

Hochverehrter Gospodin Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin,

Ihr wohl formulierter Einreiseantrag gab uns herzlich zu denken auf. Viele von unserem Besprechungskreis haben Ihr Buch »Was tun?« gelesen. Ihr glaubhaft fest gefasstes Vorhaben, das russische Machtgefüge zu entratifizieren, den kerenskischen Starrsinn zu beenden und unser beider Länder endlich und für ewig mit dem Frieden zu weihen sei darum nach Absprache mit meinem Vorgesetzen Nummer 3 und 8 sowie Geheimperson Nummer 32 als gemeinsames Projekt zu begreifen, ja, und nach ihm gilt es zu handeln. Sie haben in meiner Abteilung einiges an Hoffnung losgelöst. Dafür danke ich Ihnen.

Wir haben Ihre Vorschläge zur physischen Remigration nach Petrograd mit tiefem Ernst und wägendem Mut durchlesen. Sie werden mit folgend jeweiligen Begründungen negiert:

Ihre Vision, gemeinsam mit Ihrer Kommission per Fallschirm aus Zeppelinen zu springen ist zwar kurios und lässt sich eine gewisse heroische Dramaturgie nicht absprechen, wird aber durch die kriegstechnologischen Fortschritte an den modernen Frontlinien zu riskant – wo Flaks unter jedem Busch und Jagdflieger hinter jeder Wolke hervorzuschnellen vermögen. Belassen wir es dabei. Somit sei auch die Idee mit den verbundenen Heißluftballons gleichermaßen abgewogen wie abgelehnt. Die Lüfte sind voller Gefahren in solch mechanischen Zeiten, seien Sie uns dessen gewiss, Herr Lenin, wir haben den Krieg mittlerweile kennengelernt und richten uns denn auch danach. Ihre dritte Option, die Gesamtkostümierung Ihres Gefolges zu einem lettischen Wanderzirkus ist uns, insbesondere mir persönlich, schleierhaft. Das Lettische ist uns allen fremd. Das Kaiserreich hat weder Schneelöwen noch rechnende Elche noch Tanzbären zu bieten, wie Sie forderten. Die drei Elefanten sind das Letzte, auf das seine Hoheit sich stützt – eine Freigabe unmöglich. Die Nashörner wurden bereits 1912 an die Osmanen verschenkt. Trotz des zündenden Überraschungsmoments, welches mir durchaus einleuchtet, wird es nach unserer Ansicht schlicht zu teuer, geschweige denn zu unsicher, das nötige Material auf unentdecktem Wege und in gemeinnütziger Zeit zu beschaffen. Unsere Mission erfordert Beweglichkeit. Wir befinden uns im Auge des Krieges.

Mein Geheimstab und ich haben darum folgendes Kalkül entworfen:

Sie und Ihr Kollektiv werden einfach, rechtlich und gerecht mittels Transit innerhalb von mindestens 5 bis maximal 9 Tagen nach Stockholm befördert – ganz blau und plausibel mit deutschem Reichsreiserecht. Die nötigen Unterschriften weiß man als versprochen, die wichtigen Dokumente dürfen als unterzeichnet gelten. Der Geheimstab arbeitet parallel.

Unter dem Decknamen »Operation Verplombung« wird eingeleitet:

Sie steigen am zehnten des nächsten Monats um 7:45 MEZ in Gottmadingen bei Konstanz in den Zug Nummer 8, maximale Aufnahmekapazität 33 Personen, Aufnahmebereich Wagon Nummer 3 und 4 (Geheimperson Nummer 32 erwartet Sie an Gleis 7 in meinem Namen). Unter offiziellem Schutz der Wehrmacht (2 Offiziere) verbringt man Sie durch das gesamtdeutsche Reichsgebiet bis ins nördliche Sassnitz. Dort steht ein Fährschiff für Sie bereit, welches Sie und Ihr Gefolge in schwedisches Staatsgebiet verbringen wird. Alles passiert auf leisen Pfoten versteht sich. Arbeiteraufstände in unserem Inland sind unserer Handhabe entzogen und der Behörde des Innern unterstellt. Geben Sie Acht. Geheimperson Nummer 32 kümmert sich um die Gegebenheiten vor Ort, falls Verhandlungen auftreten sollten. Ab dem Stockholmer Hafen sind Sie auf sich allein gestellt. Petrograd ist dann nur noch eine Schiffsreise entfernt.

Es bleibe gesagt:

Ich spreche für mich und im Namen meines Mannschaftskerns, wenn ich sage: Mögen Ihnen, Herr Lenin, und Ihrer bolschewistischen Bewegung aller Erfolg zu Teil werden, welchen Sie sich zu erkämpfen versuchen und an deren weiten Visionen Sie uns in Ihrer Korrespondenz teilhaben ließen. Wir hefteten nur unsere bescheidenen Interessen an Ihre Schnur. Fahren Sie fort und ziehen Sie die Leine – der Deutsch-Russische Separatfrieden schlummert in Ihren Fäusten, lastet auf Ihren Schultern, liegt zu Ihren Füßen. Tun Sie es.

Concordia domi, foris pax,

Baron Exzellenz Wirkl. Geh. Rat

Gisbert Freiherr von Romberg

Deutsches Referat Bern,

an Zürich, März, 1917

Die freien Geisteskranken

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