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Teil I

Das Mountain View Sanatorium


1915

In jener Zeit machte sich weltweit erneut eine Krankheit bemerkbar, die man schon in der Antike gekannt hatte. Selbst bei ägyptischen Mumien war als Todesursache Tuberkulose, kurz TBC, festgestellt worden. In deutschsprachigen Ländern war die Krankheit als Schwindsucht bekannt.

Das Schönheitsideal der Renaissance, die schöne blasse Schwindsüchtige, hatte der Maler Sandro Botticelli für seine Bilder Die Geburt der Venus und Der Frühling als Vorbild genommen. Die Präraphaeliten hielten die Gegenwart des bleichen Todes gar für unverzichtbar.

In berühmten Opern wie Puccinis La Bohème und Verdis La Traviata war die Schwindsucht ein Thema. La Traviata diente als Vorlage für Bühnenstücke und Verfilmungen, allesamt mit dem Titel Die Kameliendame (La Dame aux camélias) nach dem gleichnamigen Roman des französischen Autors Alexandre Dumas. Die Bühnendarstellerinnen Sarah Bernhardt und Eleonora Duse hatten mit dem Stück wahre Triumphe gefeiert. Die berühmteste Verfilmung war wohl jene mit Greta Garbo im Jahre 1936.

Für die Schwindsucht oder Tuberkulose ist das Killer-Bakterium Mycobacterium tuberculosis, das in die Lunge eingeatmet wird, verantwortlich. Das Immunsystem vermehrt es sogar, ohne es zu zerstören. Die Tuberkulose-Erreger durchlöchern die Lunge wie Motten die Wolle und zerstören so die Lunge, hieß es. Als Grund für das vermehrte Auftreten der Krankheit sah man den rasanten Bevölkerungsanstieg und die Übersiedlung der Menschen in die Städte mit deren schlechten hygienischen Verhältnissen an, wie zuvor Cholera und Typhus. Zwischen 1880 und 90 starben allein in Deutschland Hunderttausende von Menschen an der Tuberkulose.

Im Laufe der Zeit sollten zu ihren Opfern Berühmtheiten wie Molière, Jean J. Rousseau, Friedrich Schiller, Christian Morgenstern, Novalis, Maxim Gorki, Anton Tschechow, Fréderic Chopin, Paganini, Edgar Allan Poe, George Orwell und die Schauspielerin Vivien Leigh zählen, um nur einige zu nennen.

In Amerika fürchtete man das Bakterium spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts. 1900 sollte Kentucky die höchste Sterblichkeitsrate der Tuberkuloseerkrankten im ganzen Land erreichen. Im ersten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts sollte die Tuberkulose gar die führende Todesursache in den Vereinigten Staaten werden.

In den 1880er Jahren wurde die Tuberkulose in Großbritannien für meldepflichtig erklärt. Einhergehend mit Kampagnen zum Vermeiden des Ausspuckens auf öffentlichen Plätzen. Den Angesteckten wurde nahegelegt, in Sanatorien zu gehen, die mehr Gefängnissen ähnelten.

In Deutschland war schon 1855 das erste Tuberkulose-Sanatorium weltweit im niederschlesischen Görbersdorf (heute Soko?owsko, Polen) eröffnet worden. In den Vereinigten Staaten eröffnete das erste Sanatorium 1885 in Saranac Lake, New York, der amerikanische Arzt Edward Livingston Trudeau, der an den Symptomen der TBC litt und festgestellt hatte, dass frische Luft seinen Zustand verbesserte. Nach weiterer Forschung präsentierte er seine Ergebnisse 1887 bei einer Tagung der American Climatological Association. Er selbst konnte nicht geheilt werden und verstarb im Jahre 1916 an den Folgen der Tuberkulose.

Andere Staaten wie Arizona und Virginia zogen in den nächsten Jahren nach, was die Erbauung von Lungensanatorien anging. Eines der größten und bekanntesten Sanatorien wurde 1911 in Kentucky erbaut.

In diesem Sinne lag Chester Fillmore durchaus im Trend und zählte sogar beinahe zu den Vorreitern der Bewegung. Er erreichte 1910 viel Aufmerksamkeit mit dem Bau seines Mountain View Sanatoriums inmitten der schönen Landschaft der White Mountains. Sein beträchtliches Vermögen hatte er mit seinen Fabriken an mehreren Standorten in New Hampshire gemacht, und wie viele sehr reiche Leute war er irgendwann von dem Gedanken beseelt gewesen, sich sozial zu engagieren. Sein Haus sollte Arm und Reich gleichermaßen zur Verfügung stehen und durch einen perfekt kalkulierten Finanzierungsplan auch wirtschaftlich funktionieren.

Chester Fillmore trat selbst nicht in Erscheinung, sondern überließ es sorgfältig ausgewähltem, versiertem Personal, seinen Gedanken in die Praxis umzusetzen. Allen voran der Nervenarzt Dr. Benjamin McClintock, der als Direktor das Haus leitete. Unter seiner Führung arbeiteten Fachärzte wie mehrere Internisten - Internists und Allgemeinärzte - Family Physicians, drei Hals-, Nasen-, Ohrenärzte - Ear Nose Throat Spezialists, ein Augenarzt - Eye Doctor, ein Gynaekologe - Gynecologist, ein Hautarzt - Dermatologist, zwei Kinderärzte - Pediatricians, zwei Chirurgen –Surgeons, zwei Narkosefachärzte - Anesthesiologists, ein Urologe - Urologist und sogar ein Zahnarzt/Kieferchirurg - Dentist/Dental Surgeon. Ihnen zur Seite stand ein ganzes Heer an Pflegepersonal, meist weiblichen Geschlechts.

Eine von ihnen war die blutjunge Mildred Taft, die ihre kaum nennenswerte Berufserfahrung durch ihr sonniges Wesen und eine ausgesprochen liebenswerte Art wettmachte. Das hatte der Personalchef, Jasper Wright, auf den ersten Blick erkannt. Noch wollte er sich zwar nicht eingestehen, dass die junge Frau auch in erotischer Hinsicht auf ihn wirkte, zumal er seit einigen Jahren mit Fidelia verheiratet war, aber der Gedanke, Mildred künftig täglich zu begegnen, erfüllte ihn mit Vorfreude.

Staunend hatte Mildred bei ihrer Einstellung erfahren, dass das Mountain View Sanatorium während der Dauer ihrer Anstellung auch so etwas wie ihre Heimstätte werden würde. Um die Ansteckungsgefahr zu bannen, sollten Patienten, Ärzte und Personal möglichst nicht das Sanatoriumsgelände verlassen, so dass sich eine kleine Gemeinde gebildet hatte. Dazu gehörten ein Schwesternwohnheim, größere Wohnheime für die anderen Angestellten und kleine Reihenhäuser für die meisten Ärzte und ihre Familien.

Man konnte fast alles, was man benötigte, an Ort und Stelle erhalten. Ärzte und Angestellte konnten sogar Lebensmittel bestellen und allerlei Dinge in einem Laden für Geschenke erwerben. Wöchentlich wurden Gottesdienste katholischer und protestantischer Ausprägung abgehalten, und die Cafeteria auf dem Gelände ermöglichte so manche Freundschaft zwischen Patienten und Angestellten beziehungsweise deren Angehörigen. Zeitweilig konnten sich alle wie in einer großen Familie wähnen, wenn nicht immer wieder auftretende Todesfälle schmerzhafte Einschnitte schufen und die Idylle ins Wanken brachten.

Am ersten Tag ihres Dienstantritts hatte Mildred an einer Führung durchs Haus teilgenommen, die freilich nicht für sie alleine veranstaltet worden war, sondern für drei weitere neue Krankenschwestern, zwei Pfleger und einige Handwerker. Mildred wunderte sich, dass es so viele Neuzugänge gab, erklärte es sich aber damit, dass in anderen Kliniken mitunter auch eine hohe Fluktuation herrschte. Vorher war ihr gerade noch Zeit geblieben, Koffer und Tasche in ihrem Zimmer abzustellen, das sie sich mit einer anderen Krankenschwester teilte, die sie erst am Abend kennen lernen würde, denn diese gehörte nicht zu den Neuen.

Die Verwaltungsangestellte Ms. Clementi Earhart, eine spindeldürre junge Frau, deren fahle Blässe kaum von der der Patienten zu unterscheiden war, tat ihr Bestes, die Führung so knapp und dabei so aufschlussreich wie möglich zu gestalten. Begonnen wurde in der Empfangshalle im Erdgeschoss, in der sich auch der Friseursalon befand, und von der man in den Flügel mit der Küche und den Speisesälen gelangte. Im gegenüberliegenden Flügel lagen die Ruhesäle oder Liegehallen, licht- und luftdurchflutet mit angrenzender Sonnenterrasse, in denen die Kranken bis zu sechs Stunden am Tag die frische Luft und die Sonne genießen sollten, und die umfangreiche Bibliothek, die allen zur Verfügung stand.

In der ersten Etage waren die meisten Patienten untergebracht. Dort gab es sogar eine eigene Kinderstation, eine kleine Kapelle, eine weitere Sonnenterasse und mehrere Aufenthaltsräume für die Krankenschwestern und das Pflegepersonal. Ein ausgeklügeltes Ventilationssystem sorgte für die nötige Frischluftzufuhr und eine konstante Lufttemperatur. Auf den Gängen zu den Patientenzimmern befanden sich mehrere Becken, die als Ausguss dienten. Mildred ahnte schon den Zweck dieser Becken, wagte aber nicht nachzufragen, das wollte sie am Abend bei ihrer Zimmergenossin tun.

Der dritte Stock beherbergte mehrere Behandlungsräume wie die Röntgenabteilung, die Badeabteilungen, die Zahnarztpraxis und die Verwaltungsräume, während sich in der vierten, für die Patienten nicht frei zugänglichen Etage die Operationssäle, die Forschungsabteilung und geheimnisvolle Räume, um deren Verwendungsweck sich viele Gerüchte rankten, wie Mildred später erfahren sollte, befanden.

Die Führung endete im Kellergeschoss des Hauses, das für die Handwerker am interessantesten war, denn dort gab es neben dem Büro des Hausmeisters und denen der Wartungsangestellten die Transformatorräume, die Aufzugwartung, die Wäscherei, die Kühlräume für Fleisch und andere Nahrungsmittel, aber auch das Leichenschauhaus, wie die neuen Krankenschwestern schaudernd feststellten.


Am Abend lernte Mildred erwartungsgemäß ihre Mitbewohnerin kennen. Sally Wilson war ein hübsches, junges Ding mit wachen Augen, glänzenden schwarzen Haaren, die sie in der Mitte ebenso gescheitelt trug wie Mildred, deren Haare aber aschblond waren. Sally hatte lustige Grübchen in den Wangen und ihr Lachen wirkte einfach ansteckend.

»Na, was hat dich denn hier in unser Panoptikum verschlagen?«, fragte sie frei heraus, »ist ein Verehrer zu zudringlich geworden, der nicht nach deinem Geschmack war, oder wollten deine Eltern einen Esser weniger zu Hause haben?«

»Eher Letzteres. Mein Vater ist schon länger tot, und mit meiner Mutter habe ich mich nie sehr gut verstanden. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde ich auch in den folgenden Jahren bei meinen Geschwistern Mutterstelle vertreten oder allenfalls in der Fabrik mein Geld verdienen.«

»Verstehe, aber du fühlst dich zu Höherem berufen. Willst der Menschheit einen Dienst erweisen, stimmt’s?«

»Was ist falsch daran?«

»Nichts, wir haben alle unsere Ideale. Nur, bist du sicher, stark genug für diese Aufgabe zu sein?«

»Das kommt auf einen Versuch an.«

»Ich weiß ja nicht, wo du vorher gearbeitet hast, aber ich gehe davon aus, dass es sich um eine normale Klinik gehandelt hat. Und da werden die Patienten in den meisten Fällen mehr oder minder geheilt entlassen. Hier verlassen sie eher liegend mit einem Tuch bedeckt das Haus.«

»Ich weiß, dass die Sterblichkeitsrate bei Tuberkulosekranken sehr hoch ist. Gerade deshalb möchte ich ihnen die letzte Zeit so angenehm wie möglich gestalten.«

»Deshalb also der Madonnenmittelscheitel …«

»Das musst du gerade sagen, du trägst ihn doch auch, aber mit deinen rabenschwarzen Haaren erinnerst du mehr an Snow White (Schneewittchen).«

»Dein Glück, dass du nicht an die böse Königin gesagt hast.«

Die beiden Frauen sahen sich an und prusteten los. In diesem Moment stand schon fest, dass sie gute Freundinnen werden würden.

»Und, wo bist du gelandet? Bei den kleinen Engelchen?«, fragte Sally.

»Nein, ich bin ja keine ausgebildete Kinderkrankenschwester. Ich bin im Ostflügel bei den eher minderbemittelten Patienten eingeteilt worden.«, antwortete Mildred.

»Sei froh, mich hat man zu den Betuchten gesteckt. Kein Zuckerschlecken, sag ich dir. Du glaubst nicht, was diese reichen, todkranken Wei … diese Art von Frauen für eine Energie entwickeln, einen herumzukommandieren, wenn sie kurz davor sind, ihr Dasein auszuhauchen.«

»Ich mag nicht, wenn du so redest. Es zeigt doch nur, dass der Tod keinen Unterschied zwischen Arm und Reich macht.«

»Wie unser aller Wohltäter, Chester Fillmore.«

»Wer ist das? Der Direktor?«

»Nein, der heißt Dr. McClintock. Mr. Fillmore gehört das Ganze hier, und von ihm stammt auch die Idee.«

»Entschuldigung, bisher habe ich nur den Personalchef, Mr. Wright, kennen gelernt.«

»Wie wir alle. Hat dir der feine Jasper schöne Augen gemacht?«

»Weiß ich nicht, ich glaube nicht.«

Sally kicherte. „So was merkt man doch. Vor dem musst du dich in Acht nehmen. Der ist hinter allem her, was einen Rock trägt. Dabei hat seine Frau ein wachsames Auge auf ihn. Sie arbeitet auch in der Verwaltung.«

»Was denn, die Blasse, Dürre von vorhin? Ach nein, die hieß ja Earhart und ist noch Miss.«

»Ja, das dürfte die Einzige sein, bei der er es noch nicht versucht hat, deshalb genießt sie auch das Wohlwollen von Fidelia Wright.«

»Sag mal, was hat es eigentlich mit den Becken auf den Gängen auf sich?«, fragte Mildred, der die Ausführungen über die Ehe der Wrights etwas peinlich waren, »die sind doch wohl kaum zum Händewaschen, oder?«

»Nein, du Unschuldsengel, darin sollen die Patienten ihr Sputum entsorgen, das sie zuvor in Spuckflaschen wie dem Blue Henry aufgefangen haben. Und es gehört zu deinen Aufgaben, diese Handlung zu überwachen.«

»Die Oberschwester hat so etwas angedeutet. Aber was ist der Blue Henry?«

»Den Begriff hat man in Deutschland geprägt und die Einwanderer haben ihn mitgebracht. Es handelt sich um einen Taschenspucknapf, der aus blauem Glas gefertigt und deshalb Blauer Heinrich genannt wird. Ein Mann namens Peter Dettweiler hat ihn 1889 vorgestellt. Bei uns hat man ihn kurzerhand in Blue Henry umgetauft.«

»Wie sinnig, blue bezeichnet ja nicht nur die Farbe, sondern auch das Traurigsein. Ich kann mir vorstellen, dass hier viele von sich sagen, deprimiert zu sein - I’m feeling blue.«

»Eben, passt doch. Apropos Oberschwester, wie gefällt dir unsere Rhonda?«

»Och, ich habe schon liebenswürdigere Frauen kennen gelernt.«

»Das dachte ich mir. Aber lass dich nicht täuschen, hinter der rauen Schale verbirgt sich ein weicher Kern. Im Grunde genommen ist sie ganz in Ordnung. Sie wird etwas dick aufgetragen haben, damit du ihr den entsprechenden Respekt erweist.«

»Da braucht sie bei mir keine Sorge zu haben. Ich bin nicht der Typ, der sich Vorgesetzten gegenüber aufsässig verhält.«

»Man muss sich aber auch nicht alles gefallen lassen. Die sind nämlich auch nur Menschen, und machen mitunter Fehler.«

»Ich werde es im Hinterkopf behalten.«

Mildred fing an, ihre Sachen auszupacken und ihre wenigen Kleider in den Schrank zu hängen.

»Wenn du noch Bügel brauchst, bedien dich auf meiner Seite«, sagte Sally, »ich nehme an, die Pelze und Abendroben werden dir noch nachgeschickt?«

»Nein, das ist alles, was ich habe. Bei sechs Geschwistern bleibt einem nicht viel, aber ich werde wohl kaum in die Verlegenheit kommen, hier an irgendwelchen offiziellen Anlässen teilnehmen zu müssen.«

»Sag das nicht. Einmal im Monat dürfen wir unsere Schwesterntracht gegen Goldlamé und edles totes Getier auf den Schultern eintauschen.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

Sally lachte herzhaft.

»Du musst nicht alles glauben, was man dir erzählt. Nein, auch in deiner Freizeit erwartet man von dir, dass du dich in Sack und Asche kleidest.«

»Da bin ich aber erleichtert. Ich hatte nicht die Absicht, meinen Verdienst in aufwendige Garderobe zu investieren.«

»Ist auch nicht nötig. Aber wenn du Lust hast, können wir öfter mal tauschen. Das Blaugeblümte gefällt mir ganz gut.«

»Hört, hört. Was ist eigentlich mit meiner Vorgängerin passiert? Ich meine die, die vor mir mit dir zusammen gewohnt hat. Ich hoffe, sie hat sich nur beruflich verbessert oder geheiratet, und ist nicht selbst krank geworden?«

Für einen Moment herrschte völlige Stille im Raum. Sally schien zu überlegen, was sie sagen sollte.

»Ellen ist eines Tages gegangen. Wohin, weiß keiner so genau.«

»Demnach seid ihr nicht so gut ausgekommen? Ich meine, wenn nicht einmal du als ihre Zimmernachbarin …«

»Du fragst zu viel. Lass uns langsam zur Ruhe kommen. Morgen früh ist die Nacht vorbei. Und hier muss man ausgeruht sein, um den Tag bewältigen zu können.«

Mildred ließ sich ihre Verwunderung über die plötzlich schroffe Art von Sally nicht anmerken. Sie spürte nur, dass sie einen wunden Punkt berührt haben musste. Zu dieser Zeit war ihr das Ausmaß ihrer Vermutung noch in keinster Weise bewusst, doch das sollte sich bald ändern.


Mildred war mit drei anderen Krankenschwestern für die Station der mittelschweren Fälle zuständig. Die Patienten waren Frauen, die nicht über sonderlich viel Vermögen verfügten, deshalb waren sie jeweils zu sechst oder acht untergebracht und teilten sich die Kosten für das Zimmer. Auch waren ihre Speisesäle weniger prunkvoll als die der reichen Patienten, aber keine von ihnen hätte im Traum daran gedacht, sich darüber zu beklagen. Sie waren Chester Fillmore und seinem System unendlich dankbar, denn sie sahen eine große Chance, durch die neuen Behandlungsmethoden von ihrer Krankheit geheilt zu werden. Die meisten jedenfalls, denn es gab auch weniger euphorische Gemüter unter ihnen, die genau wussten oder zumindest ahnten, dass das Mountain View Sanatorium ihre letzte Station sein würde.


Zusammen mit ihrer Kollegin Hetty brachte Mildred gerade zwei Patientinnen, die im Rollstuhl saßen, weil sie zu schwach zum Laufen waren, in einen der Liegesäle, als ihnen ein leichenblasses Mädchen am Fahrstuhl begegnete, das artig knickste. Die Kleine musste etwa acht Jahre alt sein, deshalb trug sie ein blassrosa Kinderkleidchen mit Rüschen und passenden Schleifen in ihrem zu Korkenzieherlocken geformten, dünnen, blonden Haaren. Die hübsche Aufmachung konnte allerdings nicht von ihren vom Fieber geröteten Augen ablenken. Statt eines Spielzeugs oder einem Täschchen hatte auch sie ihren Blue Henry dabei.

»Ich denke, Minnie, du wärst im Bett besser aufgehoben«, sagte Hetty freundlich, »du siehst gar nicht wohl aus.«

»Ach, im Bett ist es langweilig«, war die prompte Antwort, »ich möchte lieber etwas auf die Sonnenterrasse.«

»Gut, aber da legst du dich gleich hin, ja?«

»In Ordnung«, sagte Minnie, lief schnell davon und wäre um ein Haar mit einem etwa gleichaltrigen, hübschen, dunkelhaarigen Jungen zusammengestoßen, der weitaus weniger aufwendig gekleidet war, und gerade um die Ecke bog. Die beiden Kinder fassten sich an den Händen und machten, dass sie davonkamen.

»Mir scheint, da bahnt sich eine junge Liebe an«, sagte Mildred lächelnd.

»Sieht ganz so aus. Die beiden lassen keine Gelegenheit aus, sich zu treffen, denn sie wohnen natürlich räumlich voneinander getrennt und haben nicht einmal denselben Speisesaal.«

»Na ja, hier wird schließlich zwischen den Geschlechtern getrennt, selbst bei Kindern.«

»Das ist nicht der einzige Grund. Minnie ist die Tochter eines Filmstars und hat ein eigenes Zimmer, während Leander mit neun anderen Jungen zusammen untergebracht ist.«

»Oh, verstehe, dann gibt es sicher immer einen Auflauf, wenn die Mutter zu Besuch kommt.«

Hetty senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Das ist bisher nicht passiert. Die Dame war nur ein einziges Mal hier, um Minnie abzuliefern. Wahrscheinlich hat sie Angst vor einer Ansteckung und davor, dann nicht mehr ihrer so wichtigen Arbeit nachgehen zu können.«

»Und um diese schrecklichen Frauen anzuschauen, soll man auch noch Eintrittsgeld bezahlen«, sagte Mrs. Stinson, eine ältere Dame mit feinen Gesichtszügen, die zwar todkrank war, aber noch ausgezeichnet hören konnte.

»Sie müssen ja nicht hingehen«, lachte Hetty.

»Das werde ich bestimmt nicht tun. Hoffentlich wird nicht eines Tages hier im Hause eines der Machwerke dieser Dame gezeigt.«

»Die Gefahr besteht nicht. Die Filme sind nicht jugendfrei.«

»Auch das noch. Wenn jemand gänzlich ohne Moral ist, zeigt sich das eben in vielen Dingen.«

»Jetzt sind Sie aber ungerecht, meine Liebe«, sagte die andere Dame im Rollstuhl, die kaum jünger und nicht weniger durchsichtig war, »vielleicht hat sie wirklich keine Zeit, sich um ihre Tochter zu kümmern.«

»Noch so eine Bemerkung und ich kündige Ihnen die Freundschaft, Mrs. Whitson, was kann es für eine Mutter Wichtigeres geben als sich um das eigene Kind zu kümmern?«

»Jetzt vertragen Sie sich wieder, die Damen. Eine Landwandgöttin, die zu Klaviermusik lächerlich übertriebene Bewegungen macht und dabei viel Geld verdient, ist es nicht wert, sich aufzuregen«, sagte Hetty, und Mildred musste ihr lächelnd zustimmen.

Als Mrs. Stinson und Mrs. Whitson auf ihren Liegestühlen unter warmen Decken ruhten, schlug Hetty vor, einen Kaffee in der Cafeteria zu trinken.

»Müssten wir das nicht in der Kantine tun?«, fragte Mildred.

»Ach woher, der Kontakt zwischen Patienten und Personal ist durchaus erwünscht.«

Später saßen die beiden Frauen in der Sonne und genossen die kleine Pause.

»Gehörst du zu den Ersten, die hier angefangen haben?«, fragte Mildred.

»Ja, es hat noch nach Farbe gerochen, als ich hier ankam.«

»Dann kanntest du doch bestimmt meine Vorgängerin. Ich meine die, die vor mir mit Sally zusammengewohnt hat.«

»Du meinst Ellen Hayes? Warum fragst du nicht Sally nach ihr?«

»Habe ich ja, aber Sally hat so seltsam reagiert …«

»Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte. Ellen war von heute auf morgen verschwunden, und mit ihr all ihre Sachen. Verabschiedet hat sie sich von niemandem. Nicht einmal von Sally und Mr. Wr …« Hetty brach ab, als beiße sie sich auf die Zunge.

»Du meinst aber jetzt nicht Jasper Wright, oder? War da etwas im Busch zwischen den beiden?«

Hetty grinste. »Das hast du aber jetzt nicht von mir, hörst du?«

Mildred nickte eifrig.

»Ellen war ein bildschönes Ding. Das ist natürlich auch ihm aufgefallen. Es hieß, die beiden hatten ein Verhältnis und Ellen sei sogar schwanger gewesen. Es gibt Leute, die wollen sie erhängt in einem Raum gesehen haben. Das ist der auf unserem Flur, der immer abgeschlossen ist. Anfangs hat er als Sterbezimmer gedient. Heute soll er angeblich nur Putzkammer sein. Aber ich habe da noch niemanden hineingehen oder mit einem Besen herauskommen sehen. Den Schlüssel soll die Oberschwester haben.«

Mildred hatte schreckgeweitete Augen.

»Und das ist noch nicht alles«, sprach Hetty weiter, »andere wollen sie sogar in der Leichenhalle gesehen haben. Man könnte denken, alles nur Gerede, aber das Seltsame ist, dass all Jene, die etwas Derartiges gesehen haben wollen, inzwischen nicht mehr hier arbeiten. Man munkelt, dass sie gekündigt und mit einer größeren Summe abgefunden wurden. Aber pscht, von mir hast du das, wie gesagt, nicht.«

»Aber das kann doch alles nur Unsinn sein«, sagte Mildred, mehr, um sich selber zu beruhigen, »wie soll man unbemerkt eine Leiche aus dem Haus geschafft haben, die jeder kannte?«

»Sei doch nicht so naiv. Was glaubst du, wie viel Leichen hier abtransportiert werden, ohne dass einer etwas davon mitkriegt? Nicht umsonst gibt es den unterirdischen Gang, damit die Patienten nicht unruhig werden. Da brauchst man nur einmal die Papiere zu vertauschen …«

Mildred grauste es. »Welcher Gang? Und wohin führt der?«

»Der Gang, du kannst ihn auch Tunnel nennen, führt unterirdisch vom Sanatorium bis zum Park, von dem aus man die Straße hinter dem Grundstück erreicht. Er ist zweigeteilt. Auf der einen Seite werden Lebensmittel und Heizkohle transportiert, auf der anderen die Leichen. Ein Teil soll sogar für Fußgänger sein, mit Lüftungsschlitzen, der andere soll Schienen haben. Auf diese Weise sieht hier keiner der Patienten jemals einen Leichenwagen, denn keiner soll die Hoffnung auf Heilung verlieren, weil sich ja bekanntlich die Psyche auf die Gesundheit auswirkt. Dabei stirbt hier alle paar Stunden einer.«

»Aber das müssen die anderen doch merken, wenn jemand nicht ins Zimmer zurückkehrt oder im Speisesaal fehlt …«

»Natürlich, nur spricht niemand darüber, aus gutem Grund.«

»Jetzt weiß ich auch, warum mich Sally gefragt hat, ob ich stark genug für den Job sei …«

»Und, bist du?«

»Man wird sehen. Notfalls werde ich irgendwann Bekanntschaft mit dem Tunnel machen, wenn ich nicht vorher den Absprung schaffe.«

»Das geht uns allen so. Zunächst nimm dich mal vor den zweibeinigen Gefahren in Acht, den männlichen, meine ich.«

»Falls du einen gewissen Jasper Wright meinst, das hat man mir gestern schon einmal geraten.«

»Na, bitte, dann bist du ja gewarnt.«


Die Pforte zur Ewigkeit

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