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Kapitel 2

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Vier Tage früher:

Michel war sehr froh gewesen, den kühlen Temperaturen des März in Paris für die Dauer der Winterferien zu entkommen und in die Sonne fliegen zu können. Dennoch war er dann vor Ort von der Idee, sich auf eine Shoppingtour zu begeben, nicht sonderlich begeistert. Schließlich war er nach Luxor gereist, um die Kulturschätze Ägyptens zu bewundern, allen voran das Tal der Könige, die derzeitige Arbeitsstätte seines Vaters Alain. Michel hatte den Verdacht, dass seine ältere Schwester Jeanne ihren Willen bei den Eltern durchgesetzt hatte, weil sie sich erhoffte, einen besonders exotischen Fummel zu finden, mit dem sie bei ihren Freundinnen daheim in Paris angeben konnte. Alain veranlasste nämlich sein schlechtes Gewissen, darüber, dass er schon Monate von seiner Familie getrennt war, seinen Kindern annähernd jeden Wunsch zu erfüllen, was Jeanne mitunter schamlos ausnutzte. Mutter Catherine tat ihr Bestes, den im Ausland weilenden Vater zu vertreten, geriet aber gelegentlich an ihre Grenzen, denn es war nicht einfach, einen lebhaften Dreizehnjährigen und eine verwöhnte Sechzehnjährige zu bändigen.

Die Tatsache, dass der Bazar Sharia el Birka sich in unmittelbarer Nähe des palastartigen Hotels Sofitel Old Winter Palace befand, veranlasste Jeanne maulend zu bemerken, warum sie nicht dort, sondern „nur“ im Shehrazade abgestiegen waren. Alain überhörte den Vorwurf, der zudem auch noch sehr ungerecht war, denn das Shehrazade mit seiner kleinen Kuppel, den anmutigen Domen und dem insgesamt orientalischen Touch hatte durchaus das Flair der Geschichten aus 1001 Nacht. Sein Besitzer hatte sich damit einen Traum erfüllt und sogar eine sechsjährige Bauzeit in Kauf genommen. Alain Duval erklärte seiner Tochter mit Engelsgeduld, dass das Shehrazade Hotel mit seinem Standort auf der Westbank wesentlich günstiger für ihn gelegen war, denn vom Dorf Geziret El Beirat konnte er das Tal der Könige in kaum fünfzehn Minuten mit dem Geländewagen erreichen und musste nicht erst von Luxor aus den Nil mit dem Boot überqueren. Deshalb hatten auch er und seine Kollegen dort Quartier bezogen. Außerdem verfügte das Hotel über alle Annehmlichkeiten einer großen Hotelanlage, bot aber die Gemütlichkeit eines kleineren familiär geführten Hotels. So war es kein Problem gewesen, sein Einzelzimmer für die Dauer des Besuches seiner Familie gegen zwei Doppelzimmer einzutauschen.

Die Quengelei seiner Schwester hatte Michels Laune noch verschlechtert. Er erhoffte sich kaum etwas von dem Besuch des traditionellen Basars Sharia el-Birka, auf dem man von Teppichen und Kleidungsstücken bis hin zu den üblichen Silberarbeiten ziemlich alles fand. Daneben würde es bestimmt jede Menge „Antiquitäten“ geben, die in Wahrheit nur neue, geschickt bearbeitete Stücke waren, um ihnen ein antikes Aussehen zu verleihen, dachte Michel. Wenn er Lust auf die Atmosphäre eines orientalischen Basars hatte, brauchte er schließlich in Paris nur in das Barbès-Viertel, gleich neben dem Montmartre mit seiner Sacré Coeur fahren.

Michels Vorschlag, lieber den Basar Wekalat Al-Balah in Kairo aufzusuchen, war auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zwar handelte es sich dabei um ein ganzes Viertel mit Gassen, in denen es palastartige Läden, bis zu drei Etagen hoch und von weißen Säulen gestützt, gab. Und Stoffe, neue und gebrauchte Kleidung, zu Ballen geschnürte Vorhänge, bis hin zu Bettwäsche sollte es dort in Hülle und Fülle geben, aber der Nachteil war, dass Michel die Entfernung wesentlich unterschätzte. Immerhin betrug die Luftlinie zwischen Luxor und Kairo zirka fünfhundert Kilometer, auf dem Landwege sogar mehr als sechshundert. Man hätte also eine über siebenstündige Fahrt auf sich nehmen müssen, wozu das Ehepaar Duval keineswegs bereit war.

So unterdrückte Michel seine Unlust und nahm sich vor, das Beste aus der Shopping-Tour zu machen. Da sich der Basar räumlich nur vergleichsweise bescheiden ausdehnte, würde sich der Zeitaufwand in Grenzen halten.

Tatsächlich war Michel es dann, der am meisten herumstöberte und die abgelegensten Winkel untersuchte, bis er plötzlich ganz verschwunden war.

Während Alain sich kaum Sorgen machte, weil er sich kaum vorstellen konnte, dass sein Sohn ernsthaft in Gefahr war, Jeanne nur genervt reagierte, weil der kleine Bruder wieder mal „Zicken“ machte, geriet Catherine mehr und mehr in Unruhe und bestand darauf, Michel zu suchen. Der tauchte nach geraumer Zeit mit verstrubbelten Haaren und staubigem Gesicht wieder auf und konnte den Unmut der Familie nicht verstehen.

»Ich bin schließlich kein Baby mehr«, sagte er trotzig, »was soll mir hier schon passieren? Hattet ihr Angst, man hätte mich in die Wüste entführt?«

»Keine schlechte Idee, dann wären wir dich wenigstens los«, bemerkte Jeanne und kassierte dafür von ihrer Mutter einen bösen Blick.

»Es gehört sich einfach nicht, seine Mutter derart in Sorge zu versetzen«, meinte Alain, »das dürftest du in deinem Alter langsam begriffen haben, junger Mann.«

»Jetzt bin ich ja wieder da, also könnt ihr euch wieder abregen.«

»Wie siehst du eigentlich aus?«, fragte Catherine, »hast du in einem Müllhaufen herumgewühlt? Und was ist das für ein Päckchen, das du krampfhaft vor uns zu verbergen suchst?«

»Das sollte eine Überraschung sein. Es ist ein uraltes Spiel, mit dem wir uns die langweiligen Abende versüßen können. Fernsehen auf dem Zimmer gibt es ja hier nicht und wie ich das einschätze, werden die ohnehin nicht vorhandenen Gehsteige hier abends hochgeklappt.«

»Entschuldige, dass wir dir nicht den Komfort eines Fünf-Sterne-Hotels bieten«, sagte Catherine immer noch verärgert, »wir sind davon ausgegangen, dass du hauptsächlich deinen Vater wiedersehen willst, und abends von all den neuen Eindrücken todmüde ins Bett fallen wirst.«

»So war es ja nicht gemeint«, lenkte Michel ein, »ich dachte nur, vielleicht habt ihr Lust…«

»Zeig mal her, was man dir da angedreht hat, wahrscheinlich eine der „echten“ Antiquitäten, die man eigens für diese Zwecke herstellt.« Alains Tonfall war sachlich und ohne Hohn, trotzdem fühlte Michel sich angegriffen.

»Ganz so blöd bin ich nun auch nicht, die Karten sind ziemlich abgegriffen, mit Hieroglyphen verziert und weisen Sprüche in arabischer Sprache darauf. Sie müssen schon sehr alt sein. Ich habe sie in einer dunklen Ecke gefunden, und der Händler wollte sie auch zuerst auf keinen Fall hergeben.«

»Ja, das sagen sie alle«, lachte Alain, »und wie viel hat man dir schließlich abgeknöpft? Du hattest doch kaum Bargeld dabei.«

»Der Verkäufer war an Währung nicht interessiert, er wollte lieber mein Handy haben.«

»Das du ihm hoffentlich nicht gegeben hast«, rief Catherine aus, »es war immerhin ein Geschenk deines Vaters.«

»Ach, maman, da gibt es doch dauernd Neuerungen bei den Telefonen. Ich konnte mit meinem ja nicht einmal ins Internet gehen.«

»Na, wie schrecklich«, zog ihn Jeanne auf, „wozu auch? Das kannst du zu Hause von deinem Laptop erledigen, da kann man wenigstens noch halbwegs kontrollieren, wie viel du herumsurfst.«

»Das musst du gerade sagen.«

»Warum hast du das Telefon nicht mir gegeben, wenn es dir nicht mehr fein genug war?«, sagte Jeanne, »hast wohl gedacht, ich kann damit nicht umgehen? Aber da täuschst du dich. Im SMS-Schreiben bin ich kaum zu schlagen.«

»Das denke ich mir, so was können ja auch schon Babys. Warum stehst du eigentlich noch hier rum? Du wolltest doch sicher nach einem neuen Fummel suchen, damit deine Freundinnen grün vor Neid werden.«

»Weil wir zusammenbleiben wollten, wenn du es genau wissen willst, du Hörnie. Nur du hast dich nicht daran gehalten und uns allen damit den Tag versaut.«

»Ich bin ziemlich enttäuscht, wie wenig du meine Geschenke wertschätzt«, unterbrach Alain das Streitgespräch seiner Kinder, »das nächste Handy wirst du dir selbst von deinem Taschengeld kaufen müssen. Wie ich dich kenne, wird es ein Smartphone sein und dementsprechend eine Weile dauern, bis du genug zusammengespart hast.«

»Es tut mir leid. Ich war wohl etwas unüberlegt.«

»Entschuldigung angenommen. Ich weiß, dass man manchmal schwer wiederstehen kann, wenn man sich einbildet, etwas unbedingt haben zu wollen. Wir werden zurückgehen und es gegen Bargeld eintauschen, aber vorher will ich mir den Plunder noch genauer ansehen.«

Alain Duval wickelte den Kartenstapel aus, bei dem sich noch eine kleine Schriftrolle befand, und pfiff bald darauf anerkennend durch die Zähne.

»Wenn das eine Fälschung ist, dann eine sehr gute. Ich muss mir das einmal unter der Lupe ansehen, aber ich vermute, dass die arabische Schrift erst später hinzugefügt wurde. Die Karten mit den Hieroglyphen müssen wirklich sehr alt sein. Das Material, aus dem sie angefertigt wurden, ist jedenfalls sehr ungewöhnlich und hat nicht das Geringste mit dem zu tun, woraus man heutzutage Spielkarten herstellt.«

»Das ist ja alles sehr interessant«, maulte Jeanne, »aber können wir jetzt endlich weitergehen, oder muss sich immer alles um den Knirps drehen?«

Catherine legte beschwichtigend ihre Hand auf Jeannes Arm. »Ich mache euch einen Vorschlag. Jeanne und ich sehen uns mal bei der Kleidung um und du, Alain, gehst mit Michel zu dem Händler zurück. In einer knappen Stunde treffen wir uns dann wieder hier, in Ordnung?«

»Ja, so machen wir es, Liebling. Aber lasst euch nicht übers Ohr hauen. Feilschen ist hier oberstes Gebot. Bei zwei Frauen wird man leichte Beute wittern.«

»Keine Sorge, im Preisaushandeln bin ich Spitze«, sagte Catherine, hakte Jeanne unter und verschwand kurz darauf mit ihr in der Menge.

»Was wolltest du denn mit dem Spiel?«, fragte Alain Michel, »du kennst dich weder mit Hieroglyphen aus noch bist du der arabischen Sprache mächtig.«

»Wir haben doch dich«, grinste Michel, »du bist bei beidem Experte.«

»Was die Hieroglyphen angeht schon, aber falls es sich bei der Schrift um einen seltenen arabischen Dialekt handelt, kann es schwierig werden.«

»Du schaffst das, da bin ich mir sicher.«

Michel versuchte später, sich an den eingeschlagenen Weg zu erinnern, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte weder den Laden noch den Händler wiederfinden, die sich in beiden Fällen ohnehin alle sehr ähnelten. Nachdem sie schon die Hälfte über die verabredete Zeit waren, kamen sie unverrichteter Dinge zum Treffpunkt zurück und wurden schon ungeduldig erwartet. Jeanne trug eine nagelneue Sonnenbrille, mit der sie ziemlich affig aussah, wie Michel fand, und eine Tüte in der Hand, in der sich ein wahrscheinlich ebenso scheußliches Kleid befand.

»Wo bleibt ihr denn?«, fragte Catherine und schoss kleine Blitze aus ihren grüngrauen Augen ab, »deine Tochter stirbt schon vor Hunger.«

»Wenn sie’s nur täte…«, grummelte Michel.

»So etwas sagt man nicht, noch nicht einmal im Scherz, verstanden?«, rief ihn Catherine zur Ordnung, »wie ich sehe, habt ihr das Päckchen immer noch. Wollte es der Händler nicht zurücknehmen?«

»Wir haben ihn nicht gefunden. Er war wie vom Erdboden verschwunden.«

»Na, das kann ja heiter werden. Vielleicht solltet ihr am besten gleich alles in den Nil werfen. Das Ganze kommt mir nicht geheuer vor.«

»Auf keinen Fall, maman, nicht bevor papa alles entziffert hat«, protestierte Michel, »vielleicht führen uns die Karten zu einem unentdeckten Grab. So eines, wo noch kein Grabräuber am Werk war.«

»Ja, bestimmt. Deshalb hat der Händler auch dir das Spiel überlassen, weil er selbst nicht an einer derartigen Sensation interessiert ist.«

»Vielleicht konnte er die Schriften nicht entziffern, deshalb waren sie für ihn wertlos.«

Catherine lachte. »Ja, träum weiter, du bist eben so ganz der Sohn deines Vaters. Ich warte nur auf den Tag, wo du selbst Ausgrabungen durchführen willst.«

»Warum nicht? Was ist schlecht daran, wenn man in die Fußstapfen seines Vaters treten will?«, fragte Alain.

»Nichts, Liebling, nur lass ihn noch etwas älter werden. Vielleicht will er später einmal lieber zum Mars reisen. Da gibt es sicher auch eine Menge zu buddeln.«

»Pah«, machte Michel, »wer will schon Astronaut werden? Das ist doch Schnee von gestern.«

Als sie später gut gesättigt mit einem der Boote den Nil überquerten, waren alle froh, dass es nur wenige Minuten bis zum Hotel war. Sie gingen die wenigen Meter von der Anlegestelle bis zur Hauptstraße, überquerten diese, bogen in Höhe eines kleinen Gemüseladens zweimal links ab und erreichten nach knapp 150 Metern das Hotel. Sie hätten natürlich auch im Shehrazade im Gartenrestaurant oder im Restaurant auf der Dachterrasse zu Mittag essen können, aber den herrlichen Blick auf Luxor und den Nil wollten sie sich für das Abendessen aufheben.

Catherine war jedes Mal erneut entzückt von den Wandmalereien eines prominenten einheimischen Künstlers, die fast jede Wand an der Rezeption, im Restaurant, an der Haupttreppe und den Durchgang zierten. Ebenso begeistert war sie von den antiken Kronleuchtern, die überall im Haus aufgehängt waren. Alain hatte sich schon an den Anblick gewöhnt und den Kindern stand der Sinn einzig nach einer erfrischenden Dusche, denn während in Paris das Thermometer nur auf knapp zehn Grad gestiegen war, konnte es in Luxor im März schon bis zu dreißig Grad warm werden.

Nachdem sich alle den Schweiß von der Haut gespült hatten, machten es sich Catherine und Jeanne mit einem Buch im schattigen Garten bequem, denn ihre Zimmer verfügten leider über keinen Balkon wie die im Erdgeschoss, während Michel keine Ruhe gab, bis sein Vater die Karten genauer untersucht hatte. Ungeduldig rutschte Michel auf seinem Stuhl hin und her und ließ Alain dabei nicht aus den Augen, bis dieser endlich den Mund aufmachte.

»Du hast Glück, der Text auf der Schriftrolle und die Anmerkungen auf den Karten sind in al-lugha al-āmmiyya, kurz al-āmmiyya, der ‏„allgemeinen Sprache“ verfasst, also Ägyptisch-Arabisch, das auch als Kairinisch bezeichnet und im gesamten arabischen Raum verstanden wird.«

»Aber wie kann das sein?«, hinterfragte Michel in seiner kritischen Art, »ich denke, Kairo ist so weit von hier entfernt?«

»Das kommt durch die Filmproduktion. Nach den USA und Indien ist Ägypten die drittgrößte filmproduzierende Nation der Welt. Die Filme werden hier nicht auf Hocharabisch gedreht wie zum Beispiel die Nachrichten, sondern in der jeweiligen Umgangssprache, also Ägyptisch-Arabisch beziehungsweise dem Kairoer Dialekt. Da sie nicht synchronisiert oder mit Untertiteln versehen werden, verstehen heute die meisten Araber diesen neuarabischen Dialekt. Jetzt bist du enttäuscht, dass es nicht ein seltener Dialekt oder gar eine Geheimsprache ist, oder?«

Michel schüttelte tapfer den Kopf.

»Wenigstens kannst du jetzt alles problemlos lesen. Was ist mit den Hieroglyphen? Sind die wenigstens etwas Besonderes?«

»Bedaure, auf den ersten Blick dienen sie rein dekorativen Zwecken. Es sind mit Sicherheit keine Namen von Pharaonen oder ägyptischen Göttern, sondern nur einzelne Buchstaben des Alphabets wie hier der Geier, der für das „A“ steht. Die Eule hingegen bedeutet „m“. Und was wie eine Teetasse mit Henkel aussieht, soll ein Korb sein und für „k“ stehen. Dieser Vogel hier mit den ausgebreiteten Flügeln bedeutet „Ente“ oder „Pa-Vogel“ und steht für den Doppelkonsonanten „pa“, und was wie ein Blumenkasten mit Blumen aussieht, ist auch ein Doppelkonsonant, soll ein Lotosteich sein und heißt „sa“ – das wird scha ausgesprochen. Was wie ein Legostein von der Seite wirkt, soll ein Schachbrett in der Seitenansicht sein und steht für „mn“.«

»Wie langweilig«, maulte Michel, »und das da, wo vier Zeichen zusammen sind? Sieht aus wie eine Feder, eine Welle, ein Kasten, ein Küken und ein Hund, der auf dem Dach seiner Hütte liegt wie Snoopy.«

»Bingo, das ist die Hieroglyphe für Anubis, der bildlich entweder als Schakal, liegender schwarzer Hund oder als Mensch mit einem Schakal- oder Hundekopf dargestellt wurde. Er war der Wächter über die Einbalsamierung und überwachte das Seelenabwägen, wobei sein Urteil von ent-scheidender Bedeutung war. Die Totenpriester trugen seine Maske, und die Gebete für die Toten wurden auch an ihn gerichtet.«

»Na, das ist ja wenigstens mal was. Vielleicht findest du noch mehr Karten mit interessanter Bedeutung.«

»Erwarte nicht zuviel, den Zahlen und den vier unterschiedlichen Farben nach dürfte es sich nur um ein herkömmliches Kartenspiel in der Art der uns bekannten handeln.«

»Dann ist die Schriftrolle nichts weiter als eine einfache Spielanleitung? Und wie verhält es sich mit den Anmerkungen auf den Karten?«

»Um darüber etwas sagen zu können, muss ich mich intensiver mit dem Spiel befassen, das in gewisser Weise ein Kuriosum darstellt. Den Moslems ist es nämlich nicht erlaubt Glücks-Spielutensilien zu verwenden, auch wenn nur zum Spaß und nicht um Geld gespielt wird. Sogar das Computer-Spiel „Solitär“ ist verboten.«

»Aber warum? Solitär spielt man doch ganz alleine. Ist das auch schon ein Glücksspiel?«

»Es geht darum, dass du Zeit verschwendest und dabei nicht an Allah denkst. In einer Sure des Korans heißt es:

Oh ihr, die ihr glaubt! Berauschendes, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind ein Gräuel, das Werk des Satans. So meidet sie, auf dass ihr erfolgreich seid.

Du weißt doch, dass der muslimische Glaube wesentlich strenger ist als der christliche?«

Michel nickte. Seine Miene hatte sich wieder etwas aufgehellt, weil er etwas Verbotenes erworben hatte, das vielleicht doch einige Geheimnisse enthielt.

»Ich schlage vor, du gehst zu deiner Mutter und deiner Schwester in den Garten, derweil ich mich etwas ausruhe. Vielleicht machst du auch ein kleines Nickerchen im Schatten? Später werde ich mich mit den Texten beschäftigen. Zum Abendessen kann ich dir bestimmt schon Näheres sagen.«

»Ich würde mich lieber etwas an meinen Laptop setzen. Hier soll es nämlich Internetzugang geben. Im Schatten liegen und dabei lesen oder quatschen ist mehr etwas für Frauen.«

»Na schön«, grinste Alain, »aber wenn du dabei müde wirst, leg dich nur etwas hin. Im Moment versäumst du nichts.«

»Papa, wann darf ich denn mit zu deiner Arbeit kommen?«

»Geduld, Geduld, mein Sohn, ihr seid erst den zweiten Tag hier. Ich muss einen günstigen Zeitpunkt abpassen. Dort wo wir tätig sind, hat kein Tourist Zugang, nicht einmal die Angehörigen der Archäologen.«

»Aber einmal nimmst du mich mit, versprochen?«

»Versprochen.«

Als alle am Abend auf der Dachterrasse saßen, lockte Michel weder das gute Essen noch die spektakuläre Aussicht, denn seine Blicke suchten unentwegt die seines Vaters. Als Alain gar nicht daran dachte, ihn zu erlösen, hielt Michel es nicht mehr aus.

»Jetzt sag doch endlich, was du herausgefunden hast. Was genau steht zum Beispiel auf der Schriftrolle?«

Alain hatte das Thema bisher nicht berührt, weil er nicht wusste, wie er es Michel sagen sollte, und keineswegs, um ihn absichtlich lange auf die Folter zu spannen.

»Es ist nichts weiter als eine Art Patience, die man alleine spielt oder indem man sich abwechselt. Ich fürchte, die ganze Aufregung hat sich nicht gelohnt.«

Michel kannte seinen Vater gut genug, um zu erkennen, dass Alain nicht die Wahrheit sagte, aus welchen Gründen auch immer.

»Sei mir nicht böse, aber das glaube ich dir nicht«, sagte er todernst, »sonst hättest du nicht soviel Zeit damit verbracht und eine derart finstere Miene aufgesetzt. Ich habe nämlich noch mal kurz in euer Zimmer gesehen, aber du warst so vertieft, dass du mich gar nicht bemerkt hast.«

»Ich möchte jetzt hier bei Tisch, wo alle mithören können, nicht weiter darüber reden. Wir können uns später in unserem Zimmer unterhalten.«

Michel fügte sich wohl oder übel, aber seine Neugier war nun noch größer geworden. Catherine und Jeanne schienen nicht sonderlich interessiert an der Sache, deshalb hatten sie auch keine Eile, den idyllischen Platz zu verlassen.

Als sich dann endlich alle im Zimmer der Duvals versammelt hatten, kam Alain umgehend zur Sache.

»Also schön, ich halte das Spiel für nicht ganz ungefährlich. Der Text auf der Schriftrolle ist eine eindeutige Warnung. Nicht, dass ich an solch einen Unsinn glaube, aber man kann nie wissen…«

Zuerst herrschte nach Alains Ausführung betretenes Schweigen, dann sprachen alle durcheinander, bis Alain dem Geschnatter Einhalt gebot.

»Also, nicht alle auf einmal, wenn ich bitten darf. Catherine, was wolltest du sagen?«

»Dass ich von Anfang an so ein seltsames Gefühl bei der Sache hatte. Ich fand es merkwürdig, dass ein Händler etwas Verbotenes an einen Touristen verkauft, einen noch minderjährigen dazu. Und dass er später ebenso wie sein Laden nicht mehr auffindbar ist, so als hätte es beide nie gegeben, ist doch geradezu abenteuerlich.«

»Ihr werdet nur nicht richtig gesucht haben«, sagte Jeanne, »hier sieht doch einer wie der andere aus, was auch für die Läden gilt.«

»Für wie bescheuert hältst du uns eigentlich?«, wollte Michel wissen.

»Das möchtest du nicht wirklich erfahren. Verzeihung, papa, das gilt natürlich nicht für dich.«

»Das habe ich auch nicht angenommen. Sonst hätte ich dich augenblicklich übers Knie legen müssen, trotz deiner Teenagerjahre. Nein, ich muss Michel in Schutz nehmen, wir haben wirklich alles versucht. Dein Bruder war anhand von Auslagen, an die er sich genau erinnern konnte, sogar sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Aber an der Stelle, wo er den Laden wähnte, gab es nur eine halbverfallene Mauer. Schon irgendwie eigenartig.«

»Willst du uns den Text der Schriftrolle nicht vorlesen?«, gab Michel nicht auf, »dann kann anschließend jeder seine Meinung kundtun, für wie gefährlich er das Spiel hält.«

»Ja, das kann ich machen, wenn meine Meinung in diesem Kreis nicht mehr zählt…«

»Du weißt, dass das nicht stimmt, Schatz«, sagte Catherine, »aber so ist das nun mal mit den verbotenen Dingen, sie üben einen besonders starken Reiz aus. Michel wird bestimmt keine Ruhe geben, bevor er nichts Näheres weiß.«

Michel griff nach der Schriftrolle, setzte seine schmale Lesebrille auf, was ihm einen ernsten, beinahe feierlichen Ausdruck verlieh, und begann zu lesen:

Nimm dich in Acht, Fremder. Dieses Spiel kann dich so sehr gefangen nehmen, das es künftig eine große Macht auf dich ausübt und all deine Gedanken beherrscht. Es ist mehr als nur ein bloßer Zeitvertreib, denn es kann dich zufrieden und glücklich machen, aber dich auch in große Gefahr bringen. Wenn du erst damit begonnen hast, gibt es kein Entrinnen. Du musst die Aufgaben bewältigen, bis du die Lösung herbeigeführt hast. Das gilt auch für deine Mitspieler. Du musst deine Ängste und dich selbst überwinden und großen Mut beweisen. Ein verlorenes Spiel kann auch den Verlust deines Lebens bedeuten. Hilfe kannst du nur von deinen Mitspielern erhalten, sofern diese dazu in der Lage sind.“

»So, ich denke, das reicht. Was jetzt noch kommt, ist die Erklärung, wie man das Kartenbild auslegt.«

»Puh, das ist ja eine wahre Schauermär«, meinte Catherine, »wenn ihr mich fragt, gehört das Spiel in den Mülleimer.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Alain, »da macht sich jemand die Neugier und Abenteuerlust der Menschen zunutze. Dabei schreckt er nicht vor Todesdrohungen zurück, wie es in Horrorfilmen üblich ist. Eine ganz billige Masche, um den Ehrgeiz des Spielers anzustacheln. Man sollte es nicht nur wegwerfen, sondern gleich verbrennen.«

»Finde ich nicht«, meinte Jeanne überraschenderweise, »das hört sich äußerst spannend an. Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass von Spielkarten eine Gefahr ausgehen kann? Schließlich ist nicht von Geistern die Rede, die man herbeirufen kann, indem man mit dem Finger auf einem Glas über ein Holzbrett mit Buchstaben fährt, und sich womöglich damit irgendwelche Dämonen ins Haus holt.«

»Du und deine Freundinnen hantiert doch nicht etwa mit so was?«, fragte Catherine entsetzt.

»Nein, keine Sorge, maman, wir kennen das auch nur aus Filmen. Aber weißt du, was mich wundert, papa? Dass gerade du den Drohungen Beachtung schenkst, wo du nicht einmal an verfluchte Grabkammern glaubst, sonst müsstest du ja bei deiner Arbeit ständig um dein Leben fürchten.«

»Da hat sie eigentlich Recht«, pflichtete Catherine ihrer Tochter bei, »ich stehe jedenfalls jedes Mal Todesängste aus, wenn du ein neues Grab findest.«

»Der sogenannte „Fluch des Pharao“ ist eine weitgehend widerlegte Legende, von der Presse und irgendwelchen sensationslüsternen Leuten erfunden. Das Ganze hat sich in den 20er Jahren abgespielt, als Howard Carter das Grab des Tutanchamun gefunden hat. Angeblich sterben heutzutage immer noch Leute, die irgendwie damit zu tun hatten. Bei näherer Betrachtung haben aber alle in hohem Alter friedlich in ihren Betten das Zeitliche gesegnet.«

»Da habe ich aber ganz andere Sachen gelesen«, sagte Catherine.

»Lass uns ein anderes Mal darüber reden, Liebling. Schließlich geht es hier nicht um den Fluch des Pharao, sondern um ein billiges Spiel, das ein gewisses Genre bedient.«

»Ja, also ich finde, wir sollten es ruhig einmal versuchen«, meldete sich Michel zu Wort, »den Kopf wird’s schon nicht gleich kosten.«

»Sieh an, unsere Sprösslinge sind sich mal einig. Ein seltener Moment und durchaus denkwürdig. Aber Einigkeit hin oder her, ich verbiete euch ausdrücklich die Karten auch nur anzufassen. Damit das klar ist. Man muss nicht abergläubisch sein, um zu wissen, dass man sich Dinge aufhalsen kann, von denen man noch nicht einmal eine Ahnung hatte.«

Catherine nickte zustimmend, während Michel und Jeanne förmlich ins Gesicht geschrieben stand, dass sie meinten, darüber sei noch nicht das letzte Wort gesprochen worden.

Die Ruhe der Pharaonen

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