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Chicago erhält ein neues Theater Kapitel 1 1917

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Die Winston-Brüder, Dick und Chuck, waren die Sprösslinge eines Multimillionärs und hatten es ganz im Sinne ihres Vaters durch teils gewagte Spekulationen selbst zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht. Das wollten sie jetzt in eine Immobilie anlegen, um damit langfristig eine permanente Einnahmequelle zu erlangen. Beide waren den schönen Künsten und ganz besonders schönen Frauen zugetan, so lag es nahe, eine Art Revue-Theater zu eröffnen.

Als sich ein passendes Grundstück im Chicagoer Stadtteil The Loop fand, gerieten die sonst so einigen Brüder in heftigen Streit, was die künftige Nutzung des neuen Gebäudes anbelangte. Schließlich nahmen sie den Rat des Vaters an und beschlossen eine Mischung aus prächtigem Theater und modernem Bürogebäude zu errichten.

Weiterhin uneinig waren sie über die Art von Programm, das in dem Theater geboten werden sollte. Da sie an Stücken von berühmten Dichtern und Denkern nicht sonderlich interessiert waren, schied das klassische Theaterrepertoire aus.

»Ich bin dafür, dass wir uns am Vaudeville orientieren«, sagte Dick. »Das New Yorker Unterhaltungstheater, das aus einer Frühform des französischen Schlagers und dem Pariser Theatergenre mit Gesang und Instrumentalbegleitung hervorgegangen ist, erfreut sich seit Anfang des neuen Jahrhunderts wachsender Beliebtheit. Da können wir Musiker, Komödianten, Akrobaten, Tierdresseure, Magier und Bauchredner auftreten lassen. Vielleicht können wir diesen Buster Keaton bekommen. Aus dem Burschen wird noch etwas Großes.«

»Hm, die Mischung hört sich für mich nach Varieté oder Zirkus an«, meinte Chuck. »Warum nicht einen Schritt weitergehen und eine Burlesque-Show präsentieren, bei der die zentrale Attraktion der Striptease ist?«

»Damit man uns den Laden gleich wieder zu macht, oder was?«

»Burlesque stammt vom italienischen Wort burla für „Schabernack“. Ursprünglich verstand man darunter eine humorvolle theatralische Darstellung mit parodierenden und grotesken Elementen. Also nimm nicht alles immer so bierernst. Die Künstlerinnen des Burlesque entkleiden sich ja nicht vollständig, sondern entledigen sich nur einzelner Kleidungsstücke. Dabei kann das Ausziehen von Handschuhen schon zur erotischen Attraktion werden.«

»Du alter Lustmolch. Nein, wir sollten nicht von vornherein einem gewissen Ruf zugeordnet werden. Ich denke, ich habe eine bessere Idee. Lass es uns diesem Ziegfeld gleichtun. Seine Follies haben die Pariser Folies Bergère zum Vorbild. Es gibt keine direkte Handlung, sondern ein Programm aus Nummern, das jährlich wechselt. Dabei tanzen wenig bekleidete, langbeinige Chorus Girls synchron. Du und das Publikum werden also auf seine Kosten kommen.«

»Das könnte es sein. Nur, wo sollen wir diese ganzen bildhübschen Weiber herbekommen?«

»Lass mich mal machen. Ich habe da so meine Verbindungen …«


Im Frühjahr 1917 war es dann so weit. Die Eröffnung des Theaters stand bevor. Chuck hatte für den Namen „Paradise“ gestimmt, aber sich schließlich dem etwas seriöseren Namen „Majestic Theatre“ gefügt. In den Monaten zuvor waren Scharen von hübschen, jungen Mädchen, egal, ob Sängerin oder Tänzerin, egal, ob durch eine Künstleragentur vermittelt oder durch Eigeninitiative vorstellig geworden, begutachtet worden. Sie hatten vortanzen oder vorsingen gemusst und sich dabei den kritischen Blicken des Regisseurs Don Davis und des Choreographen Jaques Marais stellen müssen. Auch einzelne Herren, die durch ihr fotogenes Aussehen oder ihre gute Singstimme auffielen, wurden unter Vertrag genommen.

Während auf der Bühne schon geprobt wurde, leistete ein Heer von Handwerkern unermüdliche Arbeit, damit der Premierentermin eingehalten werden konnte. Sie bohrten, schraubten, nagelten und brachten dabei wahre Kunstwerke hervor. Die Winston-Brüder sahen, dass alles nach ihren Vorstellungen geriet und waren vollauf zufrieden.

Die Generalprobe geriet aber dann zum Desaster. Ein Girl verhedderte sich mit dem Perlengestell ihres Kopfputzes in der Dekoration und verlor dabei gleichzeitig ihre Perücke. Zwei andere Girls kamen auf der Drehbühne ins Straucheln und landeten recht unsanft auf ihren hübschen Hintern, woraufhin die ganze Truppe aus dem Takt kam. Als die drei Pechvögel später heulend in der Garderobe saßen, nutzte Chuck Winston die Gelegenheit, für eine erste Tuchfühlung. Er kredenzte ihnen drei Gläser Champagner und trocknete mit seinem Taschentuch ihre Tränen.

»Kein Problem, Sweethearts, wenn die Generalprobe im Chaos endet, wird die Premiere erstklassig. Der Spruch stammt nicht von mir, sondern von eurem Regisseur, der übrigens sehr zufrieden mit euch ist.«

»Dann sollte er uns das mal persönlich sagen«, meinte eine kecke Rotblonde namens Moira, »bisher hat er immer nur rumgemeckert. Nichts konnte man ihm recht machen. Na, und der „Monsieur“, unser begnadeter Choreograph … Niemand hat ja etwas dagegen, dass er keine Mädchen mag und sich privat lieber anderweitig orientiert, aber bei der Arbeit sollte er es nicht so deutlich zeigen.«

»Aber, aber, wir sind alle etwas nervös, und die Nerven liegen blank. Nach der Premiere ist dann alles vergessen. Ihr werdet sehen. Na, wie heißt du denn, du kleines Goldköpfchen?«, sagte er, indem er das Kinn des Mädchens mit dem Finger hob, das am verzweifelsten geweint hatte, weil sie glaubte, schon vor der Premiere rauszufliegen.

»Meryl, Sir.«

»Du bist die mit dem Kopfputz, nicht? Das kann jedem mal passieren und kostet nicht gleich das Engagement. Wenn es aber öfter vorkommen wird, behält Onkel Chuck sich vor, dich übers Knie zu legen und dir deinen süßen Hintern zu versohlen. Also Kopf hoch und toi, toi, toi.«

»Vor dem werden wir uns in Acht nehmen müssen«, sagte Moira, als Chuck draußen war.

»Du hast aber auch ganz schön ausgeteilt«, antwortete Meryl. »Ich würde mich nie trauen, so mit dem Impressario zu reden.

»Ich weiß, bei wem ich wie weit gehen kann. Den vernasche ich als Vorspeise.«


Dann kam der große Abend. Alles, was in Chicago Rang und Namen hatte, erschien zur feierlichen Einweihung. Darunter Berühmtheiten wie W. C. Fields, die Marx Brothers und die große Mimin Sarah Bernhardt, die gerade auf einer USA-Tournee war.

Majestätisch betraten die Gäste mit ihrer kostbaren Abendgarderobe das prachtvolle Vestibül oder Foyer, das mit Marmorboden, üppigen Samtvorhängen, Blumenkörben und großen Kristalllüstern ausgestattet war. Zwischen Säulen hingen Ölgemälde der National Academy. Die annähernd achtzig Quadratmeter große Grande Lobby war spiegelvertäfelt und hatte einen roséfarbenen Marmorboden. Eine breite Treppe mit geschnitzten Balustraden und leuchtend blauem Teppich führte ins Zwischengeschoss, dem sogenannten Mezzanin, wo die Gäste zu ihren Balkonplätzen geleitet wurden oder dem unten stattfindenden Treiben zuschauen konnten. Zur Unterhaltung spielte ein Pianist auf einem großen weißen Flügel derzeit populäre Melodien.

Das Mezzanin-Geschoss mit vergoldeten Foyers und gedämpftem Licht war ebenfalls mit Gemälden dekoriert. In lauschigen Nischen lud ein gepolsterter Diwan zum Ausruhen ein, oder Springbrunnen plätscherten vor marmornen Nymphen und Mosaikwänden. Neben luxuriösen Lounges gab es Kosmetikräume für die Damen und Ruheräume für die Herren. Als Blickfänger dienten Nachbildungen von Skulpturen aus den Vatikanischen Museen.

Durch breite Flügeltüren betrat man den Theatersaal mit fünf Gangreihen, Logen und Balkonen an den Seiten, drei Meter breiten Kronleuchtern aus Kristall und einer Bühne mit Orchestergraben. Er hatte eine Kapazität von über dreitausend Sitzplätzen. Das Beeindruckendste war aber die gewölbeartige Decke mit Malereien im französischen Renaissancestil gestaltet.

Als die Saalbeleuchtung heruntergefahren wurde, das Orchester die Ouvertüre spielte und der tiefrote Samtvorhang sich hob, setzte stürmischer Beifall ein. Das Motto der ersten Show lautete „Springtime in Paris“, und das aufwendige Bühnenbild zollte diesem Thema auf Anhieb Tribut. Der Applaus steigerte sich noch, aber als die Girls in ihren entzückenden Kostümen heraustanzten, gab es kein Halten mehr. Bravorufe und Standing Ovations waren die Folge.

Dann folgten in loser Folge Tanznummern mit sorgfältiger Choreografie, Gesangseinlagen und Duette. Das opulente Finale, an dem alle Mitwirkenden teilnahmen, bildete den würdigen Abschluss. Und was sich schon in der Pause abgezeichnet hatte, zeigte sich jetzt in vollem Umfang. Das Publikum war begeistert, und die Winston-Brüder ahnten, dass sie die vier Millionen Dollar nicht in den Sand gesetzt hatten, denn das Haus war bereits für Wochen ausverkauft und sollte das Tagesgespräch von Chicago werden. Als ob es nicht noch andere Theater mit interessanten Programmen in Chicago gab, aber damals wie heute galt: das Neue, Ungewöhnliche gepaart mit stilvollem, exquisiten Rahmen zog die Massen an. Jeder wollte dabei sein, um mitreden zu können.


Das Presseecho war geteilt. Während die Chicago Tribune eher sachlich berichtete, das Chicago Daily Journal sogar ein Loblied verfasste, erlaubte sich der Chicago Examiner einen glatten Verriss.

Chuck Winston schäumte vor Wut. »Hast du das gelesen?«, fragte er seinen Bruder. »Ich zitiere: „Schuster bleib bei deinen Leisten. Nicht jeder ist ein Florenz Ziegfeld. Die Impressario-Brüder Winston haben sich mit Regisseur Don Davis, der zuvor an kleineren Bühnen seichte Unterhaltungsstücke inszenierte, keinen Gefallen getan. Auch die Einfälle des Choreographen Jaques Marais halten sich in Grenzen und orientieren sich überwiegend am großen Vorbild.“ So ein Bockmist, ich werde dem Schreiberling die Fresse polieren.«

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Dick. »Charlie Foster ist nur sauer, dass wir ihm nicht den roten Teppich ausgerollt haben. Wir werden ihn auch künftig ignorieren. Lies lieber das Chicago Daily Journal. Pass auf: „Wow, was für ein Start. Chicago braucht keine Ziegfeld Follies, wenn es die Winston-Brüder hat. Das war frisch und beschwingt wie der Frühling in Paris. Die Girls sind rundweg ein Augenschmaus und das Gesangsduo Betty Smith und Harold Gable überzeugten nicht nur mit ihrem Charme, sondern auch mit Stimme. Das könnte das neue Traumpaar der Chicagoer Bühnen werden. Und erst das Ambiente …Man fühlt sich in ein Schloss der französischen Renaissance oder eine Kathedrale versetzt. Das ist stilvoll und sehenswert. Wir sind gespannt, wie es weitergeht.“ Na also, was will man mehr

»Dafür schreibt Foster: „So viel Kitsch auf einem Haufen hat man lange nicht mehr gesehen. Die Kombination aus Museum und Vergnügungsbetrieb ist unerträglich. Wenn das mal keine gigantische Fehlinvestition wird. Kaum vorstellbar, dass die nächsten Programme mehr bieten werden.“ Ich bringe ihn doch um, den Drecksack.«

»Beruhige dich, wenn wir in zwei bis drei Jahren fest etabliert sind, geht den Miesmachern die Luft aus. Wir werden es allen zeigen.«


Dick Winston schien Recht zu behalten. Das nächste Programm mit dem Titel: „The Spirit Of Japan“ war wieder ein Kassenknüller. Stilsicher nahm man das erst in den 20er Jahren populär werdende Fernost Feeling vorweg. Die aufwendigen Kostüme, unter ihnen ein Rausch von farbigen, kostbaren Kimonos, verursachten wahre Beifallsstürme. Man konnte nur ahnen, dass sie ein Vermögen gekostet hatten, aber das kam durch die Einnahmen vervielfacht zurück.

Dafür brodelte es hinter den fantasievollen Kulissen. Neid, Missgunst und Eifersüchteleien unter den Girls machten sich breit. Chuck Winston war an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig, denn er schenkte mehr als einem Girl seine Gunst.

»Warum bekommt Ethel immer die meisten Soloparts?«, beschwerte sich Rhonda. »Sie kann nicht besser tanzen als ich.«

»Aber sie hat die besseren Titten, chérie«, sagte „Monsieur“ Jaque.

»Ich dachte, es geht hier nach Leistung, und nicht danach, wer mit einem der Chefs fickt.«

»Das geht es, Darling, das geht es. Sie setzt meine Choreografien wesentlich schneller um als du. Und ihr Körper ist makellos. Sehr zur Freude des männlichen Publikums.«

»Ach, und ist das hier etwa nichts?« Rhonda riss mit einem einzigen Ruck ihren Morgenmantel auf. Darunter war sie splitterfasernackt. Einige der Girls kreischten, und der „Monsieur“ hielt sich die Hand vor die Augen.

»Bedecke dich, ich bitte dich«, kreischte er.

»Ja, aber nur, um mir mein Trikot anzuziehen. Und dann tanze ich die nächste Nummer, dass ihr alle staunen werdet.«

Gesagt, getan, Rhonda tanzte sich die Seele aus dem Leib. Dabei glänzten ihre Augen wie im Fieber. Sodass es einige Girl mit der Angst zu tun bekamen, weil sie dachten, Rhonda sei vom Teufel besessen. All ihre Bemühungen fruchteten aber nicht, weil Regisseur Don Davis sich keine Vorschriften machen ließ. Einzig zu der Aussage: »Wenn Ethel mal einen schlechten Tag hat, kann Rhonda ja für sie einspringen«, ließ er sich hinreißen. Ein fataler Fehler, wie sich zeigen sollte.

Rhonda, die vor Wut kochte, änderte ihre Taktik. Sie begann Ethel zu umgarnen, um sie als Freundin zu gewinnen. Sie verwöhnte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten und half ihr, wo sie konnte. Ein Plan, der aufging. Ethel schöpfte nicht einmal Verdacht.

»Ich glaube, ich habe mich in dir getäuscht«, sagte Ethel eines Tages zu Rhonda. »Ich dachte, du bist neidisch auf mich und verbreitest Unwahrheiten.«

»Unwahrheiten? Ich bin nicht die Einzige, die weiß, dass du Chuck fickst. Aber das ist für mich kein Grund zur Eifersucht, Honey. Der Knabe ist einfach nicht mein Typ, weißt du. Ich hoffe nicht, du erwartest, dass er dich eines Tages heiratet. Für den bist du eine von vielen.«

Ethel war vor Scham errötet. »Ich erwarte gar nichts. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Im Bett ist er wirklich gut, und irgendwie habe ich wohl gedacht, ohne die Besetzungscouch kommt man hier nicht weit. Warum unsere „Madame“ einen Narren an mir gefressen hat, weiß ich nicht. Ich finde du tanzt mindestens ebenso gut wie ich.«

»Danke, danke. Mitunter fehlt dir etwas das Feuer. Das ist alles.«

»Ich weiß nicht, wo du manchmal deine Energie herholst. Eben noch waren wir alle total erschöpft, und dann sprühst du auf einmal … So wie neulich, als du Marais einfach vorgetanzt hast.«

»Viel hat’s ja nicht gebracht. Ich spiele weiterhin die zweite Geige. Immerhin stechen wir beide aus der Masse hervor. Und wenn du mein Geheimnis kennen lernen willst, das ist nur ein weißes Pulver. Nicht ganz billig, aber äußerst wirksam. Mein Bruder bringt mir hin und wieder etwas aus Südamerika mit. Es wird aus Kokablättern der Inkas gewonnen.«

Rhonda sprach von Kokain, das schon seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als örtliches Betäubungsmittel angewandt wurde. In gewissen Kreisen stieg es unaufhaltsam zur Modedroge auf und trat seinen Siegeszug um die Welt an. Vor allem aber in Paris, Berlin und den USA. Man sah es als Möglichkeit an, der modernen Sinnleere durch künstliche Euphorie entgegenzuwirken. Die Suchterzeugung und das Bombengeschäft, das dahinter stand, übersah man dabei leicht.

»Lässt du mich mal probieren?«, fragte Ethel, naiv, wie sie war.

»Ja, warte mal.« Rhonda ging zu ihrer Handtasche und kramte darin herum. »Oh, das tut mir leid. Ich habe nichts mehr dabei. Aber gar nicht so weit von hier, gibt es noch etwas. Wenn du willst, nehme ich dich heute nach der Vorstellung mit. Aber nimm deinen Mantel und deine Tasche mit, damit niemand merkt, dass du noch im Haus bist.«

Ethel schöpfte keinen Verdacht, als sie von Rhonda in den Heizungskeller geführt wurde, obwohl ihr schon etwas mulmig zumute war. Dort unten war es stickig und staubig, und die riesige Befeuerungsanlage und die dicken Rohrleitungen warfen in der notdürftigen Beleuchtung lange Schatten. Im Mantel und mit ihrer Tasche über dem Arm kam sich Ethel deplaziert vor, aber sie wagte nicht, beides abzulegen, um sich nicht schmutzig zu machen.

Rhonda steuerte auf eine etwas unebene Ziegelwand zu und löste ohne Probleme einen losen Mauerstein.

»So, greif da mal mit der Hand rein«, flüsterte sie lächelnd. »Keine Angst, es ist keine Mausefalle drin.«

Ethel ging etwas in die Knie und streckte gerade ihre Hand aus, als sie einen Schlag am Kopf spürte, der sie besinnungslos zu Boden sinken ließ. Dass es der Ziegelstein war, mit dem sie Rhonda niedergeschlagen hatte, bekam sie nicht mehr mit.

Rhonda funktionierte wie ein Uhrwerk. Ohne lange nachzudenken, zerrte sie den Körper der Kollegin vor die Heizungsanlage, öffnete die Feuerluke und wuchtete ihre schwere Last in die höllenartige Glut des Ofens. Zum Schluss warf sie die Handtasche hinterher und schloss die schwere Eisentür. Dabei zeigte sich ein böses Grinsen in ihrem Gesicht. Dass sie sich die Hände verbrannt hatte, stellte sie erst fest, als sie ihren grausamen Plan zu Ende geführt hatte.


Am nächsten Vormittag herrschte große Aufregung im Theater, weil Ethel nicht zur Probe erschien und Rhonda mit bandagierten Händen ankam. Regisseur und Choreograph berieten sich hektisch. Schließlich kam Don Davis zu Rhonda herüber.

»Weißt du, wo deine Freundin steckt?«

»Nein, keine Ahnung, ist sie noch nicht im Haus?«

»Dann würde ich wohl kaum fragen. So ist das mit euch Girls. Kaum lässt man euch erste Sonderrechte, schon bekommt ihr Starallüren. Aber ohne mich. Wer hier nicht pünktlich erscheint, fliegt. Eigentlich wollte ich, dass du Ethels Tänze übernimmst, aber wie es aussieht, bist du ein Fall für den Doktor. Womit gleich beide Solotänzerinnen ausfallen.«

»Ich tanze ja nicht auf den Händen«, sagte Rhonda keck. »Zur Vorstellung nehme ich natürlich die Bandagen ab. Aus der Ferne werden die Verletzungen kaum auffallen. Außerdem sind die Hände das Letzte, wohin die Kerle bei uns sehen.«

»Davon will ich mir selber ein Bild machen. Los runter mit den Verbänden.«

Rhonda wickelte die Binden ab und drehte die Hände so, dass man kaum etwas erkennen konnte, aber Don Davis sah genau hin.

»Igitt, das ist ja eklig. Man könnte meinen, du hast Lepra«, sagte er angewidert. »Wie holt man sich so etwas?«

»Tja, unsereins hat keine Zentralheizung wie manch feine Herrschaft. Und ein Kanonenofen hat eben so seine Tücken …«

»Du wirst keine Nummer ohne Handschuhe tanzen. Das sage ich dir.«

»Tue ich doch sowieso nicht, bis auf eine. Also wozu die Aufregung.«

Don Davis und der Choreograph berieten sich wieder. »Meinst du, wir kriegen das hin?«, fragte Don. »Und wen nehmen wir für die anderen Soli?«

»Ich würde vorschlagen Moira. Die hat zwar eine ähnlich große Klappe, aber tänzerisch ist sie top.«

»Gut, versuchen wir’s. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden sich die Augen auskratzen. Freundinnen werden sie jedenfalls nicht werden.« Dann wandte sich Don an die Truppe. »Alle mal herhören. Die Girls haben jetzt einen Moment frei und können sich etwas aufwärmen. Zuerst wird Rhonda einige Parts von Ethel einstudieren, danach Moira den Rest, und die anderen kommen anschließend dran. Wir müssen sehen, wie wir die Lücke von Moira überspielen.«

Einige Girls kicherten.

»Was ist, habe ich einen Witz gemacht? Also los. Moira, mach dich schon mal warm.«

Meryl beglückwünschte Moira, die vor Freude wie ein aufgescheuchtes Huhn auf und ab rannte. Dann begannen die Umbesetzungsproben. Und niemand, außer einer, ahnte, dass die vermisste Kollegin auch die folgenden Tage nicht kommen würde, weil sie schon längst ein Häufchen Asche geworden war.


Die Abendvorstellung stand kurz bevor, und Rhonda legte letzte Hand an ihre Frisur. Ihre hellblonden Haare wollten einfach nicht sitzen, und Rhonda war zusätzlich gehandicapt durch ihre nur schwer heilenden Brandwunden an den Händen. Deshalb rutschte ihr manchmal die Brennschere weg und bereitete zusätzliche Wunden auf der Kopfhaut.

Als sie gequält aufschrie, kam Moira zum Schminkspiegel der Kollegin und sah, wie Rhonda wie gebannt in den Spiegel starrte und dann mit dem Kopf nach vorne auf die Ablage kippte.

»Hast du dich wieder verbrannt, soll ich dir helfen?«, fragte sie.

»Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß«, zischte Rhonda mit zusammengepressten Zähnen. »Wirf lieber mal einen Blick in den Spiegel und sage mir, wen du da siehst.« »Nur uns beide, warum?«

»Warum, warum, weil ich da eben ganz deutlich Ethel stehen sah.«

»Du solltest deinen Konsum des „Pülverchens“ etwas einschränken, Honey. Sonst drehst du noch durch.«

»Ach, was weißt du denn. Außerdem kann es dir nur recht sein. Dann kannst du künftig noch mehr Solonummern bringen.«

Moira wandte sich kopfschüttelnd ab und machte mit der Hand vor ihrem Kopf eine Geste zu den anderen Girls, die an einen Scheibenwischer erinnerte und soviel heißen sollte wie: Die spinnt ja.

Clara, eine grazile Schwarzhaarige setzte noch einen drauf, weil sie Rhonda noch nie leiden konnte und fand, dass sie ungerechterweise bevorzugt wurde.

»Du brauchst nicht gleich durchzudrehen. Moira hat es doch nur gut gemeint«, sagte sie spitz.

»Wer fragt dich denn? Hast du hier auch schon was zu melden?«

»Da ich weder mit Chuck noch mit Don rummache, sicher nicht, im Gegensatz zu dir.«

»Ich mach mit keinem von beiden rum, damit das klar ist. Wenn ich hier einige Vorzüge genieße, dann nur, weil ich mir das mit Leistung und Disziplin erarbeitet habe.«

»Dass ich nicht lache. Es gibt einige Girls, die ebenso gut tanzen wie du. Und zu deinem Erfolgsrezept: Welche von deinen Titten nennst du denn Disziplin? Die rechte oder die linke?«

»Pass auf, was du sagst, du kleines Miststück, sonst wird es dir leid tun.«

»Mich kannst du nicht einschüchtern. Ich habe keine Angst vor dir …«

»Wahrscheinlich, weil du schon in der Gosse, aus der du kommst, gelernt hast, dich zu verteidigen. Und was dein Neid auf die Solonummern angeht, dafür hast du einfach nicht genug Klasse. Das Billige scheint bei dir aus jeder Pore.«

»Kannst du jetzt aufhören, dein Gift zu verspritzen?«, sagte Moira. »Wir müssen gleich raus, und schlechte Stimmung macht sich nicht so gut beim Auftritt.«

Später, als die Vorstellung in vollem Gang war, sah Meryl zufällig für einen Moment in die Seitengasse hinter dem zurückgezogenen Vorhang. Was, oder besser wen sie dort sah, brachte sie völlig aus der Fassung. Sie vergaß ihre Choreographie und brachte die ganze Truppe durcheinander. Das Publikum lachte und applaudierte, weil alle glaubten, der Gag sei einstudiert. Nur Chuck Winston legte seine Stirn in Falten und zog Meryl in der Pause zur Seite.

»Es tut mir wahnsinnig leid, Mr. Winston«, stammelte Meryl, und ihre blonden Locken tanzten dabei wie wild, als ob sie ebenfalls verzweifelt waren.

»Ja, das ist das Mindeste. Hast gedacht, das wäre ein guter Gag, wenn die ganzen Beauties mal ins Straucheln kommen, was?«

»Schmeißen Sie mich jetzt raus?«

»Nein, das werde ich nicht tun, im Gegenteil, wir werden es ab morgen immer so machen. Ich rede mit Mr. Davis. Nur noch mehr Eigenmächtigkeiten lasse ich nicht durchgehen.«

»Ich habe es nicht mit Absicht gemacht, ich schwöre. Mir ist nur so der Schreck in die Glieder gefahren, als … als ich Ethel in der Seitengasse gesehen habe. Das heißt, sie war nicht wirklich da und irgendwie halb durchsichtig.«

»Ja, mir fehlt sie auch, die hübsche Ethel. Was wohl aus ihr geworden ist? Ob sie uns jemand vor der Nase weggeschnappt hat? Tot und ein Geist ist sie bestimmt nicht. An so etwas glaube ich nämlich nicht.«

Nun, da irrte Chuck Winston gewaltig. Denn es sollte nicht die letzte Sichtung bleiben. Und damit hatte das Majestic sein erstes Gespenst oder einen Hausgeist, dem noch weitere folgen sollten.


Das neue Programm unter dem Motto Japan erhielt mit einer Sängerin aus New York eine zusätzliche Attraktion. Wanda Philipps, eine Schönheit mit silberblonden Haaren, die auch mit schwarzen Perücken, weiß geschminktem Gesicht und seidenen Kimonos ganz hervorragend aussah, hatte am Broadway erste Erfolge gefeiert, nachdem sie längere Zeit durch die Bars tingelte, sodass die Winston-Brüder auf sie aufmerksam wurden.

Dick war von ihrer leicht rauchigen Stimme und der zauberhaften Erscheinung vom ersten Moment an fasziniert. Ihr schönes Gesicht, die tadellose Figur und ihr wunderbares Haar hatten es ihm angetan. Er verlangte, von einem namhaften Komponisten Lieder für sie zu schreiben, während die übrigen Kompositionen für die Revue von Neulingen oder noch unbekannten Talenten stammten. Eine Vorgehensweise, die sich bei der ersten Produktion bewährt hatte.

Wanda wurde der Publikumsliebling und bekam hervorragende Presse. Dick baute vor und führte ein ernstes Gespräch mit seinem Bruder.

»Du lässt die Finger von der Kleinen, verstanden?«

»Hallo, hallo, meldet da jemand eigene Ansprüche an?«

»Ich werde sie heiraten«, sagte Dick trocken.

»Wow, hat es endlich eine geschafft, dich unter die Haube zu bringen, alter Junge? Weiß sie schon von ihrem Glück? Oder musst du erst noch einige Nebenbuhler beseitigen?«

»Sie wird sich freiwillig für mich entscheiden.«

Woher Dick Winston seine Gewissheit nahm, blieb sein Geheimnis, aber Tatsache war, dass auch Wanda an dem attraktiven Junggesellen mit den blauschwarzen Haaren und hinreißenden Grübchen Gefallen fand. Sie zierte sich nur noch ein wenig, wie es sich für eine Dame gehörte beziehungsweise von ihr erwartet wurde.

Mit den Chorusgirls kam Wanda bestens aus, obwohl man ihr eine eigene Garderobe zur Verfügung stellte und Moira sie mit Nichtachtung strafte, weil sie glaubte, Wanda interessiere sich für Chuck. Erst als sich mehr und mehr abzeichnete, dass Dick der Auserwählte war, gab Moira ihre Vorbehalte auf.

Auch Betty Smith und zwei andere Sängerinnen reagierten nicht eifersüchtig. Sie mussten neidlos zugeben, dass Wanda in einer ganz anderen Liga spielte und ihren Kolleginnen wertvolle Tipps gab. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis man sie für ein Schallplattenlabel entdeckte.

Dick verwöhnte sie mit Orchideen und Blumenbouquets und fand immer einen Grund, kurzzeitig in ihrer Garderobe aufzutauchen, und wenn er sie nur fragte, ob sie etwas brauchte. So auch an diesem Abend, als er mit einer Champagnerflasche und zwei Gläsern kam.

»Mr. Winston, wenn ich in der Pause schon trinke, werde ich im zweiten Teil womöglich unanständige Lieder auf der Bühne singen«, sagte Wanda augenzwinkernd.

»Ein Erlebnis, das ich mir nicht entgehen lassen möchte«, antwortete Dick anzüglich. »Einer Dame, wie Sie eine sind, wird man das bestimmt auch verzeihen.«

»Oh, Sie sind sehr galant. Aber Sie dürfen mich nicht derart mit Blumen verwöhnen. Man redet bestimmt schon über uns.«

»Nun, ich schätze, ein paar Bouquets werden auch von anderen Herren sein. Zum Beispiel von unserem Harold Gable.«

»Sie irren sich. Harold schickt mir keine Blumen. Schon allein deshalb, um Betty nicht zu kränken. Und die von anderen Herren schenke ich gleich weiter. Nur Ihre behalte ich.«

»Ich weiß es zu schätzen. Und was das Gerede angeht, dem können wir leicht ein Ende bereiten, indem wir unseren Flirt legalisieren.«

»Wie meinen Sie das? Soll das ein Heiratsantrag sein?«

»Nichts anderes.«

»Oh, la, la, wir kennen uns doch kaum. Nicht, dass Sie mir nicht gefallen, aber …«

»Ich finde, dass es an der Zeit ist, dass Sie Ihre vornehme Zurückhaltung aufgeben. Zunächst sollten Sie mich Dick nennen. Und wenn Sie der Meinung sind, es sei für eine Heirat zu früh, wäre ich auch zunächst mit einer Verlobung zufrieden.«

Wanda machte große Augen, und ihren schönen Mund umspielte ein Lächeln.

Dick Winston zauberte eine kleine Schatulle aus seiner Smokingjacke, in der sich ein dezenter aber sündhaftteurer Ring befand, klappte den Deckel auf und überreichte das Kästchen Wanda, deren Augen feucht strahlten.

»Sie meinen es wirklich ernst, nicht?«

»So ernst wie mir noch nie etwas war. Sie können meinen Bruder fragen. Schon bald, nachdem ich Sie gesehen hatte, habe ich gesagt, dass Sie meine Frau würden.«

»Bei mir war es eine Freundin …«

Dick stürmte auf Wanda zu und küsste sie leidenschaftlich. »War das ein Ja?«, fragte er überflüssigerweise.

Wanda beantwortete seine Frage mit einem weiteren Kuss.

Der letzte Vorhang

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