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Kapitel 2 Eine unheilvolle Begegnung
Оглавление»So, du hast dieser Dame also einen Heiratantrag gemacht«, sagte Chuck. »Der Gedanke, dass sie mehr an dir als Theaterdirektor und deinem Vermögen interessiert ist, kommt dir wohl nicht?«
»Ich nehme dir nicht übel, was du sagst. Bei den Girls, mit denen du dich einlässt, mag dieser Gedanke im Vordergrund stehen. Wanda hingegen ist eine echte Lady, das habe ich vom ersten Moment an gemerkt.«
»Ach, wie rührend. Glaubst du, diese Lady hat wie eine Nonne gelebt, als sie durch die Bars getingelt ist?«
»Sicher nicht, aber deshalb muss sie noch lange kein durchtriebenes Luder sein. Gerade unter Künstlerinnen findet man Frauen, die an materiellen Dingen weniger interessiert sind.«
»Deshalb reißen sie sich auch den Arsch auf, um ganz nach oben zu kommen«, polterte Chuck. »Wer ganz unten angefangen hat und sozusagen aus der Gosse kommt, dessen Hauptinteresse dürfte das Geld sein. Da beißt die Maus keinen Faden ab.«
»Ich sage doch, du bewegst dich in den falschen Kreisen. Wanda kommt aus einer gutsituierten Familie. Sie lebt für die Kunst.«
»Der Herr hat sich erkundigt … Na, da ist wohl jedes weitere Wort überflüssig. So lange du nicht von mir verlangst, auch solide zu werden … Ich habe nämlich die Absicht, mein Leben noch eine Weile zu genießen. Mit Wein, Weib und von mir aus auch Gesang.«
»Dass du nicht so schnell aus deiner Haut kannst, war mir schon immer klar. Warum suchst du dir nicht auch eine tolle Frau und lässt die Finger von diesen Dämchen?«
»Weil ich ein bisschen „Gosse“ erotisch finde, ganz einfach. Der Typ höhere Tochter hat mich schon immer kalt gelassen.«
»Dazwischen gibt es ja wohl noch eine Menge anderer. Wirst du trotzdem den Trauzeugen für uns machen?«
»Was denkst du denn? Ich weiß doch, was ich dir schuldig bin. Daddy wird begeistert sein.«
»Unterschätze unseren alten Herrn nicht. Er hat ein Gespür für Klasse, sonst hätte er Mom nicht geheiratet. Was er sonst so treibt … Von irgendjemandem musst du ja deine seltsame Vorliebe haben …«
»Das solltest du ihn lieber nicht hören lassen. Und Mom schon gar nicht.«
Rhonda erhielt zum dritten Mal in Folge einen mit der Maschine geschriebenen Zettel. Die Botschaft war immer die gleiche. Jemand wollte ihr offensichtlich Angst machen. Womöglich würde eine Erpressung der nächste Schritt sein. „Du solltest mal im Heizungskeller nachsehen, ob auch wirklich alle Knochen verbrannt sind!“, lautete der erste Text. Danach kam: „Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst? Kannst du überhaupt noch nachts ruhig schlafen?“
Rhonda wurde langsam nervös und versuchte, an der Art, wie sie die anderen Girls ansahen, zu erkennen, welche die Übeltäterin war. Aber alle verhielten sich wie immer. Insgeheim hatte sie Moira in Verdacht. Sollte der rothaarige Teufel alle Solonummern für sich beanspruchen und Rhonda in den Wahnsinn treiben wollen? Oder ging es ihr nur um Geld?
Bisher waren die Botschaften im Rhythmus von zwei Tagen gekommen. Deshalb schloss sich Rhonda am sechsten Tag nach der Vorstellung in der Toilette ein und kam erst wieder heraus, als alle gegangen waren. Leise schlich sie in die Gemeinschaftsgarderobe zurück und versteckte sich hinter einem Ständer mit Kostümen. Sie hatte kaum eine halbwegs bequeme Position eingenommen, als sie Schritte hörte. Vorsichtig durch einen Spalt zwischen zwei Kleidern lugend, konnte sie mit ansehen, wie gerade wieder ein Zettel auf ihrem Schminkplatz abgelegt wurde.
Sie konnte das Girl nur von hinten sehen, aber die leuchtend roten Haare bestätigten ihren Verdacht, dass es sich um Moira handeln musste. So ein hinterhältiges Luder, dachte Rhonda. Mal sehen, was sie heute geschrieben hat.
Kaum hatte sich die Tür hinter dem Girl geschlossen, kam Rhonda aus ihrem Versteck hervor und überflog die Zeilen. „Du solltest dich lieber freiwillig der Polizei stellen. Oder muss ich ihnen den entscheidenden Hinweis geben?“ Jetzt habe ich aber genug, dachte Rhonda verärgert. Es wird Zeit für eine Lektion.
Nach der nächsten Tanzprobe war Rhonda auffällig schnell verschwunden, wie den anderen Girls auffiel.
»Vielleicht „tankt“ sie in irgendeiner dunklen Ecke etwas auf«, meinte Moira, und alle lachten.
Dann tanzte Moira ihre Soloparts. Sie hatte inzwischen die Choreographie so sehr verinnerlicht, dass sie jeden Schritt so setzte, als seien Kreidemarkierungen auf dem Boden. Sie kam immer exakt an denselben Stellen an. Mitten in einer Pirouette patzte sie, weil sie für Bruchteile von Sekunden das Gleichgewicht verlor. Das Missgeschick rette ihr das Leben. Denn in diesem Moment fiel von oben ein Kulissenteil herunter und zerschellte genau an der Stelle, an der Moira eben noch gestanden hatte.
»Was haben Sie da oben zu suchen?«, hörte sie die wütende Stimme des Schürmeisters. »Kommen Sie sofort da runter!«
Alle starrten entgeistert zum Schürboden hinauf, wo eine zierliche Gestalt versuchte, in Deckung zu gehen. Dabei machte sie nur einen Fehltritt mit fatalen Folgen. Hilflos mit den Armen rudernd, kam sie ins Straucheln, verlor den Halt und stürzte schließlich in die Tiefe.
Ein mehrstimmiger Schrei hallte durch das Theater. Auf der Bühne lag Rhonda mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen. Unter ihrem Kopf bildete sich eine stetig wachsende Blutlache. Mit ihren verrenkten Gliedern, die in seltsamen Winkeln verdreht waren, glich sie mehr einer Puppe als einem Menschen.
Alles schrie und wuselte durcheinander. Wie nicht anders erwartet, konnte ein Rettungssanitäter nur noch den Tod feststellen. Moira bekam einen Weinkrampf. Nicht so sehr aus Trauer um die Kollegin, sondern weil ihr in dem Moment bewusst geworden war, um Haaresbreite einem Mordanschlag entkommen zu sein.
»Sie hat versucht, mich umzubringen«, presste sie leise hervor. »Warum nur? Es gab doch genügend Raum für uns beide.«
Die Probe wurde sofort abgebrochen und eine längere Pause angeordnet. Als Moira sich halbwegs von ihrem Schreck erholt hatte, fiel ihr auf, dass Meryl nicht unter den Girls war. Sie fand sie schließlich in Tränen aufgelöst auf der Toilette.
»Es ist alles meine Schuld«, sagte Meryl immer wieder von Schluchzern unterbrochen. »Ich wollte sie nur dazu bringen, ihre Schuld einzugestehen. Wenn ich gewusst hätte, dass sie so weit gehen würde …«
»Was für eine Schuld, wovon sprichst du?«, fragte Moira irritiert.
»Ich glaube, sie hat etwas Schlimmes mit Ethel gemacht. Sie sind zusammen in den Heizungskeller gegangen, das habe ich genau beobachtet. Aber später ist Rhonda alleine zurückgekommen. Als sie weg war, habe ich unten nachgesehen, aber es gab keine Spur von Ethel. Nur die Heizung lief auf vollen Touren, und es hat da unten so seltsam gerochen.«
»Glaubst du, sie hat Ethel in den Ofen geschoben, wie die Kinder die Hexe im Märchen?«
Meryl nickte stumm.
»Aber warum bist du nicht sofort zur Polizei gegangen?«
»Ich habe es immer wieder in Erwägung gezogen, aber dann habe ich wieder gedacht, nur nicht bemerkt zu haben, wie Ethel heraufgekommen ist. Erst, als ich ihren Geist in der Seitengasse stehen sah, wusste ich, dass sie wirklich tot ist. Schließlich habe ich versucht, Rhonda dazu zu bringen, sich der Polizei zu stellen, indem ich ihr kleine Zettel zukommen ließ. Aber sie dachte offensichtlich nicht daran. Im Gegenteil, sie wollte die Mitwisserin auch noch beseitigen.«
»Aber warum wollte sie mich umbringen? Aus welch einem Grund dachte sie, dass die Zettel von mir stammten?«
Meryl bekam wieder einen Weinanfall und beruhigte sich nur langsam. »Gestern, als ich ihr die dritte Botschaft hinterlassen habe, machte ich einen verhängnisvollen Fehler, wie ich jetzt weiß. Ich griff mir irgendeine Perücke, bevor ich an Rhondas Platz ging. Sie hatte rote Haare wie du sie hast. Rhonda muss mich beobachtet haben und dachte wohl, dass du es bist. Oh, wie konnte ich nur so blöd sein. Hätte ich doch eine schwarze genommen.«
»Jetzt mach dir keine Vorwürfe. Du hast es ja nicht mit Absicht getan. Das bleibt alles unter uns, hörst du? Das Theater kann sich keinen Skandal leisten. Sonst verlieren wir alle unseren Job. Man wird sich schon eine Ausrede einfallen lassen, was Rhonda da oben zu suchen hatte. Auf jeden Fall hat es die Richtige getroffen. Damit hat sie ihre Schuld gesühnt.«
»Ich werde das alles nie vergessen können …«
»Mit der Zeit verblassen Erinnerungen. Das ist der Lauf der Dinge. Vielleicht kannst du meinen Platz einnehmen, jetzt wo ich für Rhonda einspringe.«
»Nein, das habe ich nicht verdient. Man soll mich nicht auch noch belohnen, für das, was ich getan habe.«
»Du Schaf. Du hast im Übereifer etwas unüberlegt gehandelt. Das hätte leicht schief gehen können. Stell dir vor, sie hätte sich schon gestern Abend auf dich gestürzt und dich umgebracht.«
»Besser mich als dich.«
»Blödsinn. Ich lebe ja noch. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Scheinbar ist meine Stunde noch nicht gekommen. Und jetzt trockene deine Tränen und wasche dir das Gesicht, bevor die anderen etwas merken. Die Rächerin mit moralischer Attitüde wirst du jedenfalls nie wieder spielen. Versprichst du mir das?«
Meryl nickte heftig. Im Stillen grauste ihr allerdings schon bei der Vorstellung, als Nächstes Rhonda als Geist in den Kulissen zu sehen.
Meryl wurde nicht die zweite Solotänzerin. Regisseur und Choreograph waren sich einig, dass sie zu viele Fehler machte. Meryl brauchte einfach die Sicherheit in der Gruppe, und selbst da patzte sie mitunter.
Als Ersatz sprang eine ein, mit der die wenigsten gerechnet hatten. Violet hatte ein Gesicht wie eine Porzellanpuppe, wunderschöne Haare und eine tadellose Figur. Sie war keine begnadete Tänzerin, machte aber vieles durch ihre bestechende Erscheinung wett. Sie war ein typisches Beispiel für das geflügelte Wort: Aus einer schönen Schüssel kann man nicht essen, denn ihre Intelligenz ließ etwas zu wünschen übrig. Dieser Art von Frauen sagte man nach, dass sie besonders gut im Bett seien. Dieser Meinung war auch Chuck Winston.
»Ich möchte, dass Violet die Parts von Moira übernimmt«, sagte er gebieterisch zu Don Davis.
»Bisher glaubte ich, dass die Besetzung Sache der Regie ist«, maulte Don.
»Ich muss Don leider Recht geben«, sagte Jaques Marais. »Die Kleine ist noch nicht so weit.«
»Wir sind hier nicht an der Staatsoper, meine Herren. Sie muss nicht die Qualität einer Primaballerina haben. Entsprechend zurechtgemacht sieht sie aus wie eine Miss sonst was. Das Häschen ist ein Schminkkamel, falls das noch niemandem aufgefallen ist. Unscheinbar bei den Proben und ein Star auf der Bühne, genau das, was wir brauchen. Und wenn es Monsieur Jaques nicht gelingt, ihr die Choreographie fehlerfrei einzupauken, dann soll er sich sein Lehrgeld wiedergeben lassen.«
Der Choreograph hasste es, wenn man über ihn sprach, als sei er gar nicht anwesend. Deshalb drehte er sich beleidigt um, sagte kein Wort mehr und ging hinaus.
»Jetzt hast du unsere Diva gekränkt«, grinste Don Davis.
»Das geht mir am Arsch vorbei. Wäre ja noch schöner, wenn ich in meinem eigenen Haus nicht das Sagen hätte.«
»Ich bin für Mabel. Sieh dir die beiden doch mal im Vergleich an. Oder hast du an Violet besonderes Interesse?«
»Das geht dich einen Scheiß an … Die Kleine tanzt, und damit basta. Oder wolltest du bei der neuen Produktion nicht mehr dabei sein?«
»Sei doch nicht gleich so übelnehmerisch, wenn man mal anderer Meinung ist. Früher hast du solche Dinge gemeinsam mit Dick entschieden.«
»Früher war früher, und heute ist heute. Dick ist mit seiner jungen Ehe beschäftigt und zieht sich mehr und mehr aus dem Geschäft zurück.«
»Heißt das, Wanda Philipps steht beim nächsten Mal auch nicht mehr als Star zur Verfügung? Oder nennt sie sich jetzt Wanda Winston?«
»Hast du schon mal von einer Künstlerin gehört, die nach der Heirat ihren Künstlernamen geändert hat, du Dämlack? Und ob sie dabei ist, wirst du früh genug erfahren.«
»Vielen Dank. Hoffentlich muss ich nicht mit einem unbegabten Starlet zusammenarbeiten, nur weil sie besonders schöne Titten hat.«
Chuck machte ein derart finsteres Gesicht, dass man befürchten musste, er hole gleich zum Schlag aus.
»Schon gut, schon gut. Ich mache ja hier nur die Drecksarbeit. Und wenn die Show ein Reinfall wird, nennt man meinen Namen zuerst.«
»Sag nur Bescheid, falls es dir zuviel wird. Regisseure gibt’s wie Sand am Meer …«
Jetzt war es Don Davis, der beleidigt das Büro verließ. Ein Abgang, der Chuck nicht im Mindesten beeindruckte.
Die neue Produktion sollte unter dem Motto „Winter, Spring, Summer and Fall“ herauskommen. Die Ausstattung, die Bühnenbilder und der Kostümaufwand schlugen alle Rekorde. In allen vier Teilen war eine Braut der entsprechenden Jahreszeit der Höhepunkt.
Moira sah als Winterbraut wie die Schneekönigin persönlich aus. Sie trug weiße Haare, die sich am Hinterkopf zu einem Eiszapfen formten. Ihr Kleid war über und über mit Schneekristallen und funkelnden Eiszapfen geschmückt. Selbst ihre grünen Augen nahmen durch geschickte Ausleuchtung einen eher bläulichen Farbton an.
Violet stand ihr im zweiten Teil in nichts nach. Ihr Gewand aus duftigem Chiffon zusammen mit dem in allen Regenbogenfarben schillernden Schleier repräsentierte den Frühling mit ersten Blütenknospen und vereinzelten Sonnenstrahlen.
Die Sommerbraut war wieder Moira, diesmal mit goldblonden Locken, Blumengirlanden und Vogelfedern. Violet, die sich privat gerne mit violetter Garderobe in zarten Abtönungen kleidete, um ihrem Namen gerecht zu werden, trug als Herbstbraut einen Kranz aus Kornähren, frischem Grün und verschiedenen Früchten. Die Blätter in allen Schattierungen von Orange bis Braun taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Selbst ihr Haar hatte die gleichen Farbabstufungen wie die Blätter.
Bei den Ziegfeld Follies war an dieser Stelle Fanny Brice als Höhepunkt gekommen. Die nicht sehr hübsche, aber komische Aktrice hatte gegen die ganzen Schönheiten um sich herum nicht ankommen können, und deshalb war sie mithilfe eines Kissens als schwangere Braut aufgetreten, damit man nicht über sie, sondern mit ihr lachte.
So weit wollte Don Davis nicht gehen. Außerdem war er der Meinung, ein guter Gag könne nicht zweimal zünden, und er wollte sich nicht den Vorwurf des Plagiats machen lassen. Deshalb ließ er Wanda Philipps zum krönenden Abschluss als Braut der Liebe auftreten. In einem atemberaubenden Gewand aus roséfarbener Seide, verziert mit roten Rosenblättern und kleinen Herzen. Die zarte Liebesweise, die Wanda sang, tat das Übrige. Das Publikum raste, und man musste viermal den Vorhang wieder öffnen.
Trotz des großen Premierenerfolgs gingen die Besucherzahlen in den nächsten Monaten zurück. Eine mögliche Ursache, die sich schnell herumsprach, war ein tragischer Unfall mit tödlicher Folge.
In dem Teil der Revue, der den Sommer zum Thema hatte, planschten einige Girls in einem im Boden versenkten Bassin. Zwar noch in züchtiger Badekleidung, aber der feuchte Stoff gab mehr preis als erlaubt. Dementsprechend gut kam die Nummer beim männlichen Publikum an.
Auf einer morgendlichen Probe verließen gerade alle das Becken, als Clara feststellte, dass sie ihren Ohrring verloren hatte. Übermütig sprang sie noch einmal ins Wasser, um das Schmuckstück zu suchen. Als sie wieder auftauchte, den Ohrring siegesgewiss in der Hand, löste sich aus unbekannter Ursache ein Scheinwerfer aus der Verankerung und fiel noch immer verkabelt in das Becken. Clara wäre nicht erschlagen worden, da das Ungetüm ein ganzes Stück weiter aufschlug, aber die Elektrizität in Verbindung mit Wasser versetzte ihr einen tödlichen Stromschlag. Bevor die Sicherung heraussprang, war es schon zu spät.
Die Girls kreischten hysterisch. Keins von ihnen hatte jemals so etwas Schreckliches gesehen. Claras zuckenden Körper, der förmlich gegrillt wurde, konnten sie nicht mehr vergessen. Einzig Meryl wollte ganz genau wissen, wie das passieren konnte.
»Das war Rhonda«, sagte sie später überzeugt. »Ihr habt doch alle mitbekommen, wie sie sich mit Clara gestritten hat. Jetzt nimmt sie Rache aus dem Jenseits.«
»Du liest zu viele Kitschromane, meine Liebe«, sagte Don Davis. »Und tu mir einen Gefallen und mach mir die Girls nicht noch nervöser als sie schon sind. Auch wenn den Quatsch mit dem mordenden Geist niemand glaubt, aber …«
»Ich selbst habe Ethel in der Seitengasse stehen sehen und habe Mr. Winston Meldung darüber gemacht.«
»Und, hat er dir geglaubt?«
Meryl sah betreten zu Boden.
»Hat heute jemand Rhonda beziehungsweise das durchscheinende Abbild von ihr gesehen?«, fragte er in die Runde. »Oder hat jemand gesehen, wie sich Rhondas Geist am Scheinwerfer zu schaffen gemacht hat?«
Niemand antwortete.
»Na, also. Setz keine Gerüchte in die Welt, Meryl.«
Der Besucherschwund verstärkte sich noch bei den nächsten beiden Produktionen „Nights of Arabia“ und „Roman Impressions“. Es gab andernorts zu viele Revuen, und immer mehr Zuschauer wanderten in die neu entstandenen Lichtspieltheater ab, um sich die inzwischen auf Spielfilmlänge angewachsenen Stummfilme anzusehen.
Dick und Chuck Winston überlegten, ob sie das Theater umrüsten sollten. Die Lichtspielpaläste waren nicht weniger prächtig als das Majestic. Und es war durchaus üblich, vor dem Film ein Orchesterkonzert und zwei etwa zwanzig Minuten dauernde Bühnenshows mit Sängern und Tänzern ablaufen zu lassen. So konnte man fünf Shows am Tag zeigen und das Ensemble auf ein vernünftiges Maß reduzieren.
Den größten Ausschlag für die Umwandlung des Theaters gab dann aber die Einführung der Prohibition in ganz Amerika. Am 16. Januar 1920 trat mit dem 18. Zusatz zur Verfassung ein nationales Alkoholverbot in Kraft. Fortan galt jeder Amerikaner, der Alkohol trank, als anrüchig. Was nützte das schönste Revuetheater, wenn die Zuschauer in der Pause kein alkoholisches Getränk zu sich nehmen konnten, dachten die Winston-Brüder. Die raffinierteste Fruchtbowle, der stärkste Kaffee oder der aromatischste Tee konnten es nicht mit dem Prickeln eines Glases Champagner aufnehmen.
Als der Entschluss in die Tat umgesetzt wurde, schaffte man eigens eine Wurlitzer Kino Orgel an, die aus dem Orchestergraben auf die Bühne hochgefahren werden konnte. Die Stummfilme sollten dann das ausgedünnte Orchester in Einklang mit den über zweitausend Pfeifen der Orgel untermalen.
Das große Revueensemble zerstreute sich in alle Winde, denn nur wenige durften bleiben. Dazu gehörten Betty Smith und Harold Gable, die mit jeder Show an Beliebtheit gewonnen hatten, die Solotänzerinnen Moira und Violet und drei weitere Tänzerinnen, unter ihnen Meryl, die ihr Glück nicht fassen konnte, und drei Tänzer. Als Gaststars sollten die Marx Brothers und Showgrößen, die zumindest bereits ihr Interesse bekundet hatten, auftreten. Im Laufe der Jahre sollten sich Stars wie Glenn Miller, Benny Goodman, Frank Sinatra und Doris Day darunter befinden, und natürlich Dicks reizende Frau Wanda.
So wurde das Majestic nach einer Spielzeit von knapp vier Jahren in Majestic (Movie) Theater umbenannt. Es sollte nicht die letzte Neukonzeption in den folgenden Jahrzehnten bleiben.
Zur festlichen Premiere, bei der wiederum VIPs und viele Stars anwesend waren, wurde als Hauptfilm „The Kid“ von Charlie Chaplin gezeigt. Dabei wurde die Ankündigung des nächsten Filmereignisses – „The Three Musketeers“ von Fred Niblo schon geschickt platziert. Ein prächtig uniformierter Portier riss die doppelten Flügeltüren auf, und jeder, der eintrat, fühlte sich sogleich in eine andere, schönere Welt versetzt. Das gesamte Personal, besonders aber das an den Eingängen zum Vorführsaal, war nach Motiven des aktuellen Films gekleidet, und Platzanweiserinnen geleiteten jeden Gast persönlich zu seinem Platz.
Aber es befanden sich auch weniger gern gesehene Personen unter den Gästen, wie Dick Winston indigniert feststellte. Zum Beispiel Lorne Summers, ein kleiner Ganove, der davon träumte, die großen Gangsterbosse der Syndikate wie Bugs Moran oder Johnny Torrio eines Tages abzulösen. Diese Herren machten sich allesamt die Prohibition zunutze, indem sie illegal hergestellten Alkohol verkauften und sogenannte Flüsterkneipen, die Speakeasys und Spielclubs unterhielten. Um dort Einlass zu erhalten, musste man an Hintertüren klopfen, warten, bis sich eine Luke öffnete und ein Codewort nennen. Da man dort leise sein, am besten flüstern musste, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, kam der eigentümliche Name zustande.
Die Organisierte Kriminalität bediente die illegale Nachfrage und machte damit riesige Vermögen. Die Gangsterbosse hatten ihre Territorien zwar untereinander verteilt, aber hin und wieder gab es erbitterte Syndikatskriege mit nicht selten vielen Toten. Zu nächtlicher Stunde kam der illegale Alkohol per Booten oder Lastern über die Grenze, um sofort zu den Lokalen transportiert zu werden.
Aber es war nicht ganz ungefährlich, die heiße Ware zu konsumieren, denn es gab auch eine Einnahmequelle darunter, die Moonshine hieß, ein bei Mondschein illegal destillierter Whisky, der oft von gewissenlosen Schwarzbrennern gepanscht wurde. Der Genuss konnte zu Lähmung, Erblindung, schweren Hirnschäden, bis hin zum Tod führen. Statistiken zufolge, sollten sich auf diese Weise bis 1927 etliche Zehntausend Amerikaner totsaufen.
Lorne Summers, ein eher kleiner Mann mit Menjoubärtchen und öligem Grinsen, führte eine hinreißende „Dame“ am Arm, die Chuck augenblicklich die Sprache verschlug. Deshalb hörte er auch nur mit halbem Ohr hin, als Dick auf ihn einsprach.
»Deine nächtlichen Ausflüge in die Spielclubs und Speakeasys bekommen dir nicht gut, wenn sich dein Bekanntenkreis um solch dubiose Gestalten vergrößert.«
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich kenne ihn kaum.«
»Ach, ja? Deshalb winkt er dir auch wie einem uralten Freund zu …«
»Vorsicht, er kommt …«
Lorne Summers steuerte auf die Brüder zu und zog dabei seine weibliche Begleitung wie einen Gegenstand unsanft hinter sich her.
»Na, das ist ja eine seltene Gelegenheit, die beiden Impressarios zusammen anzutreffen«, polterte er los. »Ach nein, das ist ja Vergangenheit. Wir sind doch jetzt ins große Filmgeschäft eingestiegen.«
»Wir? Sind Sie auch Filmtheaterbesitzer?«, fragte Dick provokant.
»Guter Witz, haha. Ein Scherzkeks, dein Bruder, Chuck, was? Hier würde doch so mancher gerne in der Pause einen Drink nehmen. Ich könnte das entsprechende Material liefern, zu ausgezeichneten Konditionen.«
»Nein, danke, kein Bedarf«, sagte Dick freundlich, aber bestimmt. »Der Laden war zu teuer, um ihn wegen ein paar Drinks aufs Spiel zu setzen.«
»Man sollte sich nie ein gutes Geschäft entgehen lassen, nicht Chuck?«
Aber Chuck hatte nur Augen für die wunderschöne Frau an Lornes Arm, die mit ihren seidigen Haaren, dem sündhaft engen Goldlamékleid und der Pelzstola so manchen Blick auf sich zog.
Lorne fing Chucks Blick auf.
»Das ist übrigens Sugar. Aber Vorsicht, zuviel Zucker verdirbt schnell den Appetit, haha. Sugar, das sind die berühmten Winston-Brüder.«
Das Zauberwesen knickste artig und hauchte: »Good evening«, und Dick und Chuck erwiderten den Gruß. Chuck sogar mit Handkuss.
»Lass noch etwas für mich übrig, Chuck«, feixte Lorne.
Sugar übte sich in vornehmer Zurückhaltung und blieb stumm.
»Wir müssen leider unseren Pflichten als Gastgeber nachgehen. Kommst du, Chuck?«, Dick zog Chuck mit sich fort. »Schönen Abend noch, die Herrschaften.«
»Oh, den werden wir haben, nicht Honey? Und wenn Sie sich es anders überlegen, mein Angebot steht.«
Dick zog so heftig an Chucks Arm, dass der sich erbost losmachte.
»Au, ich bin doch kein Leibeigener.«
»Ich gebe dir den guten Rat: Halte dich von diesem Gesindel fern. Das gilt auch für die „Dame“, oder gerade für diese. Womöglich geht sie für ihn anschaffen, schon deshalb wird er sie nicht aus den Klauen lassen.«
»Du immer und deine Moral. Dieser Summers ist wirklich nur ein kleines Licht. Das Loop wird mehr und mehr von Torrio kontrolliert. Die Expansion seines Outfits bringt ihm Millionen Dollar ein. Er streckt schon seine Finger nach der South Side aus. Da wird er sich nicht von so einem Würstchen ins Gehege kommen lassen.«
»Die Emporkömmlinge sind die Gefährlichsten. Ihre Machtgier und der unbedingte Wille, an die Spitze zu kommen, kennen keine Grenzen. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Und diese Femme Fatale ist Gift für dich. Bleib bei deinen Chorusgirls.«
»Du weißt auch nicht, was du willst. Seit Jahren versuchst du, mir die Girls auszureden, und jetzt …«
»Die haben jedenfalls keinen Gangster an ihrer Seite, der sie wie ein Zerberus bewacht.«
»Apropos Zerberus, wie geht es eigentlich Wanda? Einige werden sehr enttäuscht sein, dass sie heute nicht auftritt.«
»Wie denn, mit ihrem dicken Bauch? Sie soll doch nicht zur Lachnummer werden.«
»Du musstest ja unbedingt Vater werden …Als ob es nicht schon genug Leute gibt, die für Nachwuchs sorgen.«
»Auf dich kann man ja in dieser Hinsicht kaum zählen. Ein Wunder, bei deinem Konsum. Aber einer muss schließlich für den Fortbestand der Winstons sorgen. Dad weiß meine Bemühungen zu schätzen. Irgendeiner muss das hier alles doch mal erben.«
»Das kann ich mir denken, dass Dad dich in den höchsten Tönen lobt. Du warst schon immer der Sunnyboy von uns beiden.«
»Red keinen Stuss und kümmere dich um unsere Gäste. Ohne die ist das alles sinnlos.«
»Wenn du mich nicht mit deinen Moralpredigten aufhalten würdest … Oh, hello, Mr. Weatherby. Und die Gattin sieht wieder bezaubernd aus …«
Dick wurde Vater eines strammen Jungen, den sie Jimmy nannten. Er nahm zwar noch sein Mitspracherecht bei der Auswahl der Filme und der auftretenden Künstler wahr, zog sich aber mehr und mehr ins Private zurück, um den kleinen Jimmy aufwachsen zu sehen.
Auch Chuck wurde schneller als gedacht Vater, allerdings ohne sein Einverständnis. Violet weigerte sich strikt, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.
»Wenn du denkst, du kannst mich mit dem Balg erpressen, hast du dich geschnitten, du Luder«, schäumte er. »Von Heirat war nie die Rede.«
»Ich weiß, ich habe nichts anderes erwartet, weil ich nicht völlig verblödet bin«, sagte Violet. »Für dein Vergnügen war ich gut genug, aber du bist eben kein Gentleman wie dein Bruder.«
»Du meinst, weil er Wanda geheiratet hat? Die beiden spielen in einer ganz anderen Liga. Bei denen war es Liebe auf den ersten Blick.«
»Woher weißt du, was es für mich war? Aber Liebe ist für dich ohnehin ein Fremdwort.«
»Wenn ich jedes Chorusgirl, das ich gevögelt habe, auch geheiratet hätte, würde ich jeden Scheidungsrekord gebrochen haben.«
»Aber deinen neuen Schwarm, dieses Gangsterliebchen, die würdest du heiraten, was? Sie geht auffällig oft in die Vorstellung. Wenn nicht der Lude dabei ist, begleiten sie irgendwelche Freundinnen. Aber vielleicht muss sie auch so oft wiederkommen, weil sie den Film nicht verstanden hat.«
»Pass auf, was du sagst, ja? Frauen wie Sugar kannst du nicht das Wasser reichen, auch wenn du es dir einbildest. Aber dir fehlt die Klasse.«
»So, was ist denn an der so besonders? Außer, dass sie für jeden Gangster Chicagos die Beine breit macht?«
Ehe Violet sich versah, holte Chuck aus und gab ihr eine deftige Ohrfeige.
»Ja, schlag mich doch gleich tot. Dann bist du das Problem mit der ungewollten Vaterschaft los. Aber denk daran, falls du mich nur grün und blau schlägst, musst du für Ersatz auf der Bühne sorgen.«
»Eine wie du ist leicht zu ersetzen …«
»Das kannst du heute Abend gleich unter Beweis stellen. Ich trete nämlich nicht auf.«
»Dann kannst du dir gleich deine Papiere holen!«
Violet trat natürlich doch auf. Und das Spiel von Begehren und Hass ging weiter. Das hielt aber Chuck nicht davon ab, sich heimlich mit Sugar zu treffen. Sie hatten eine handfeste Affäre, und die Heimlichkeit und die damit verbundene Gefahr erhöhten den Reiz noch. Bis ihnen Lorne Summers auf die Schliche kam. Er machte sich nicht etwa selbst die Finger schmutzig, hetzte aber Chuck einen Schlägertrupp auf den Hals, der ihn halb totschlug. Und auch Sugar bekam ihre Abreibung. Sie konnte sich wochenlang nicht unter Menschen sehen lassen und musste ernsthaft um ihre Schönheit fürchten.
Dick musste vorübergehend sein heißgeliebtes Privatleben unterbrechen und sich um die Geschäfte kümmern. Als er seinen Bruder im Krankenhaus besuchte, wollte er ihm tüchtig die Leviten lesen, aber zunächst war er mehr als überrascht, dass er Violet an Chucks Bett sitzen sah.
»Der Kerl hat deine Liebe nicht verdient, Honey«, sagte er zu Violet.
»Ich weiß, aber was willst du machen? Ich bin nun mal verrückt nach ihm. Wenn erst sein Sohn auf der Welt ist, wird er mich vielleicht besser behandeln.«
»Träum weiter, Sweetheart. Und jetzt beweg deinen hübschen Arsch nach draußen und lass uns alleine«, raunzte Chuck.
Violet folgte brav und zog sich zurück.
»Ich hätte große Lust, dir die letzten heilen Knochen auch noch zu brechen«, sagte Dick, als Violet draußen war. »Einmal, weil du das Mädchen so schlecht behandelst, und zum anderen, weil du einfach unbelehrbar bist. Habe ich dich nicht immer wieder gewarnt? Lohnt es sich für so ein Flittchen wie diese Sugar den Löffel abzugeben? Als Nächstes schlagen sie uns womöglich noch das halbe Theater kaputt.«
»Das ist wohl deine größte Sorge?«
»Natürlich, es ist unser Baby, aber dass du dich nicht zum Vater eignest, hast du inzwischen mehr als bewiesen.«
»Dann such dir doch einen anderen Teilhaber. Wenn du mich nicht gleich auszahlen kannst, macht es nichts. Deshalb werde ich nicht am Bettelstab gehen.«
»Wenn du so weitermachst, wird dein Privatmögen bald verbraucht sein. Deine Spielsucht und der gepanschte Fusel bringen dich doch völlig um den Verstand. Den Rest besorgt diese Nutte.«
»Nenn sie nicht so, ja? Sugar mag keine Dame wie deine Wanda sein, aber deshalb ist sie nicht weniger wert. Wir denken gar nicht daran, wegen diesem Ganoven aufeinander zu verzichten. Wir müssen nicht in Chicago leben, um glücklich zu sein.«
»Bevor du Zukunftspläne schmiedest, solltest du dir erst einmal ansehen, was er von ihr übrig gelassen hat.«
»Sag, dass das nicht wahr ist. Hat er sie auch halb totgeschlagen? Oh, meine arme Schöne«, jammerte Chuck.
»Bevor du dir Gedanken um sie machst, solltest du deine eigenen Probleme in den Griff kriegen«, beharrte Dick. »Mein Vorschlag: heirate Violet. So ein Goldstück findest du nicht wieder. Außerdem werden damit die Wogen halbwegs geglättet und du bist für die nächste Zeit aus der Schusslinie.«
»Gar keine so schlechte Idee, wenn ich es recht überlege. Und schließlich kann man sich wieder scheiden lassen.«
»Ich glaube, ich muss dir doch eine reinhauen. Du tust, als wäre Violet eine unansehnliche Vettel, und du müsstest ein großes Opfer bringen. Ahnst du überhaupt, wie vielen Kerlen sie feuchte Träume beschert, wenn sie bei uns auf der Bühne steht? Und Typen wie du heiraten ohnehin nicht aus Liebe. Mir tut nur die Kleine leid, der du tüchtig Hörner aufsetzen wirst, aber scheinbar will sie es nicht anders. Sie hätte schon längst etwas Besseres haben können.«
»Jetzt mach mich mal nicht zu schlecht. Ich bin nicht gerade ein Frankenstein. Und eine gute Partie dazu. Violet wird kein schlechtes Leben an meiner Seite haben.«
»Das liegt im Auge des Beschauers, aber wie gesagt, manche Frauen sind geradezu erpicht darauf, in ihr Unglück zu rennen. Ich schicke sie dir jetzt wieder rein. Und versau es nicht.«
Dick führte einen fliegenden Wechsel mit Violet durch und machte die Geste des Daumendrückens, bevor er sich verabschiedete. Violet war sichtlich irritiert.
»Er sagt, ich soll dich zu meiner Frau machen …«
»Und was ich dazu sage, interessiert dich wohl nicht?«
»Nein, du kannst es doch sowieso nicht abwarten. Jetzt kriegst du, was du willst.«
»Du musst nicht denken, dass ich ohne dich nicht leben kann, nur weil ich an deinem Krankenbett Wache halte«, begehrte Violet auf. »Meinst du, ich habe Lust, mein Leben lang die zweite Geige zu spielen? Während ich mit dem Kind zu Hause sitze, schlägst du dir die Nacht in den Spielclubs und mit irgendwelchen Huren um die Ohren. Danke, verzichte.«
»Euch Weiber soll einer verstehen. Wenn du einen altbackenen Kniefall erwartest – ich bin gerade nicht so in Form, wie du siehst. Um dir einen Klunker an den Finger zu stecken, würde es gerade noch reichen, aber der steht im Moment auch nicht zur Verfügung.«
»Und ich stehe nicht zur Verfügung, die Karre aus dem Dreck zu ziehen, in die du sie selbst gefahren hast. Soll ich unserem Kind später sagen, wenn es mich fragt, warum wir geheiratet haben, dass sein Vater es aus reiner Berechnung getan hat? Er liebte mich zwar nicht, aber er steckte ziemlich in der Scheiße, und eine andere war gerade nicht da.«
»Ganz so ist es ja auch nicht. Schön, der Vorschlag kommt von meinem Bruder. Und wahrscheinlich hat er sogar Recht. Aber wenn ich mich recht erinnere, hatten wir eine Menge Spaß zusammen, als du noch keine Ansprüche stelltest.«
»Du Mistkerl.« Violet kamen vor Wut die Tränen. »Kannst du nicht wenigstens einmal sagen, dass du mich ein bisschen liebst? Brichst du dir dabei eine Verzierung ab?«
»Willst du, dass ich lüge? Also schön, ich liebe dich. Du bist mein Ein und Alles.«
Violet sprang auf und lief zur Tür.
»Such dir doch eine andere für deine Spielchen. Vielleicht kannst du dir ja eine kaufen für dein Täuschungsmanöver.«
»Dann scher dich doch zum Teufel, du dumme Pute. So eine wie dich finde ich allemal.«
Chuck war noch nicht ganz wieder hergestellt, als er Violet einen „richtigen“ Antrag machte, mit Ring und Blumen und allem, was dazu gehörte. Und Violet war so dumm, ihn anzunehmen. Dick hoffte für einen Moment, sein Bruder sei doch noch vernünftig geworden. Aber der Schein trog. In Gedanken war Chuck bei Sugar und sehnte sich nach einer Gelegenheit, sie wiederzusehen.
Wenn Violet etwas ahnte, dann verbarg sie es gut. Sie spielte allen die glückliche Ehefrau vor, die es nicht erwarten konnte, das Kind „der Liebe“ zur Welt zu bringen. Revuetänzerinnen mussten eben nicht nur gut tanzen können und blendend aussehen, sondern auch eine leidlich gute Schauspielerin sein, um sich und anderen etwas vormachen zu können.