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1.

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Die Region Ladakh im indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir mit den Verwaltungsdistrikten Kargil und Leh nahm etwa vierzig Prozent der Fläche ein. Das weitgehend hochgebirgige Gebiet war relativ dünn besiedelt. Da es für seine tibetisch-buddhistische Kultur bekannt war, wurde Ladakh auch als Klein-Tibet bezeichnet.

Die Hauptkette des Himalaya verhinderte gewöhnlich das Durchdringen des Monsun bis in das Gebiet von Ladakh. Aufgrund der zurückgehenden Niederschläge trockneten ganze Seen aus und wurden zu lebensfeindlichen Regionen für Fische und Nutztiere. Ladakh glich mehr und mehr einem wüstenähnlichen Gebiet.

Leh, der Hauptort und Verwaltungssitz der Region Ladakh, gehörte zu den höchstgelegenen Städten der Erde und war einst auf dem kargen Hang abseits der fruchtbaren Hochebene angelegt worden, um die wertvolle Ackerfläche zu erhalten. Während einst die Seidenstraße für Wohlstand in Leh sorgte, waren später die Herstellung von Silberschmuck und der Tourismus die Haupterwerbszweige. Neben dem höchstgelegenen Golfplatz der Welt sorgten Trekkingtouren und geführte Klettertouren, auch für ungeübte Bergsteiger, für zahlreichen Zulauf von Touristen. Mit angenehmen sommerlichen Temperaturen von 25 Grad Celsius ergaben die Monate Juni bis August die Hauptreisezeit. Im Winter hingegen konnte es schon mal bis zu −20 °C kalt werden.

Bhavin Gyatso kam in jener Nacht todmüde aus seinem Souvenirshop zurück, als er seine völlig aufgelöste Frau, Ananda Tsomo, vorfand.

»Was ist mit dir, warum schläfst du noch nicht?«, fragte er verwundert. »Ich habe doch gesagt, es kann heute spät werden, weil es im Laden so viel zu tun gibt.«

»Das Baby war für etwa eine Stunde verschwunden«, sagte Ananda, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Wie verschwunden? Hat es sich in Luft aufgelöst, oder was?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls war das Bettchen leer, als ich nach ihm sehen wollte.«

»Und jetzt ist es wieder da, ja? Ich höre es doch oben schreien.«

»Ja, nachdem ich vor Verzweiflung die Polizei angerufen hatte, war es auf einmal wieder da.«

»Du hast geträumt, Liebling. Kinder verschwinden nicht so einfach und tauchen dann wieder auf. Was hat der Wachmeister gesagt? Haben Sie jemanden geschickt?«

»Bis jetzt war noch niemand hier.«

»Zum Glück, man würde uns ja für verrückt erklären. Ich rufe gleich an.« Bhavin griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizeistation. »Assalamo aleikum! – Hallo«, sagte er in Urdu, der offiziellen Amtssprache der Polizei, als sich am anderen Ende jemand meldete, »hier spricht Bhavin Gyatso, meine Frau hat wohl etwas überreagiert, als sie unser Baby als vermisst gemeldet hat. Es befand sich in der Obhut meiner Eltern und ist inzwischen wieder hier. Sie haben doch noch nichts unternommen? …verstehe … maaf kii dschiye ga – Entschuldigung! Khuda hafiz! – auf Wiedersehen!«

»Was hat er gesagt«, fragte Ananda, »warum ist keiner gekommen?«

»Er meint, Sie hätten viel zu tun, sich um alle vermissten Kinder zu kümmern. Die meisten tauchen ohnehin wieder auf. Womit er ja Recht behalten hat.«

»Aber ich schwöre dir, unser kleiner Irshalu war fast eine Stunde nicht mehr da. Ich habe immer wieder nachgesehen …«

»Träume erscheinen einem manchmal so real, dass man kaum glauben kann, geträumt zu haben. Komm, lass uns schlafen gehen. Der Tag wird morgen nicht weniger anstrengend.«

Ein knappes Jahr später, als Irshalu wiederum für eine dreiviertel Stunde unauffindbar war, rief Ananda nicht die Polizei, sondern gleich ihren Mann an. Bhavin Gyatso bekam einen Wutanfall und war nahe dran, Ananda zu schlagen, als er bei seiner überstürzten Heimkehr den Sohn unversehrt in seinem Bett vorfand.

»Ich lasse alles stehen und liegen, nur weil du hysterisch bist«, schrie er. »Wie soll ich denn für unseren Lebensunterhalt sorgen, wenn du mich ständig von der Arbeit abhältst?«

»Aber Bhavin, hör doch, es war, wie ich es dir geschildert habe. Glaubst du, ich denke mir das alles nur aus?«

»Was weiß ich, was in euch Weibern vorgeht? Vielleicht fühlst du dich vernachlässigt und wünschst dir mehr Zuwendung.«

»Du tust mir Unrecht.« Ananda brach in Tränen aus. »Wenn Irshalu etwas größer ist, helfe ich ja wieder im Geschäft mit. Solange er noch so viel schreit, stört er doch nur die Kunden.«

»Also wenn du das nicht inszeniert hast, um mich herzulocken, was ist es dann? Bist du geistig verwirrt und siehst Dinge, die gar nicht da sind, beziehungsweise umgekehrt? Vielleicht sollten wir einen Geshe kommen lassen?«

Der Geshe, Hüter des buddhistischen Wissens und Spezialist für Logik, Texte, Rituale und korrekte Abläufe verkörperte in ländlichen Gegenden außerhalb der Städte die spirituelle Macht, er war der eigentliche Arzt des Dorfes. Bei einem Sterbenden wurde zusätzlich ein Amchi, der Naturarzt in den Dörfern, hinzugezogen, um die Medizin zuzubereiten. Der Geshe gab dann Anweisungen, was zu tun sei. Zum Beispiel die Mönche einladen, die Tormas, kleine Figuren aus Mehl anfertigen und die Medizin segnen, um ihr Kraft zu verleihen. Die hohe Heilungsquote durch die Rituale ließ die Einwohner der Schulmedizin kaum eine Chance geben.

»Ich brauche keine ärztliche Hilfe«, begehrte Ananda auf. »Etwas mehr Verständnis und Vertrauen von dir würden mir schon reichen.«

»Deine Eltern hätten dir eben eine andere Familie aussuchen sollen, dann könntest du jetzt wechseln.«

Bhavin spielte auf die in Ladakh gebräuchliche Polyandrie – Vielmännerei an, bei der eine Frau mit mehreren Männern, meist Brüdern, verheiratet sein konnte.

»Ich wollte aber nicht mehrere, sondern nur einen – dich, deshalb war ich mit der Wahl meiner Eltern einverstanden. So langsam glaube ich, dass das ein Fehler war.«

Die Ehe von Bhavin Gyatso und Ananda Tsomo wurde zwar nicht geschieden – Scheidung war in Indien immer noch äußerst verpönt –, aber Bhavin machte sich kaum sechs Monate später aus dem Staub. Das Schicksal von Frau und Kind schien ihm egal zu sein. Ananda führte daraufhin den Laden mit ihren Brüdern, Pouya Gönpo und Kumar Sangpo weiter. Und das Geschäft lief besser denn je, weil es unmittelbar am Srinagar-Leh-Highway lag und quasi niemand daran vorbei konnte.

Dann ereignete sich ein weiteres Jahr später der dritte Vorfall, der schlimmste von allen. Als die Lampen aufgehört hatten zu flackern, die Technik Ruhe gab und Ananda sich wieder ungehindert bewegen konnte, lief sie sofort ins Kinderzimmer hinauf. Wie befürchtet, war Irshalus Bettchen leer. Es gab lediglich einen Abdruck des kleinen Körpers auf dem Laken, der sich noch warm anfühlte.

Ananda lief zu ihren Brüdern, die nur ein paar Häuser weiter wohnten, und hämmerte mit den Fäusten an die Tür. Pouya Gönpo öffnete ihr schlaftrunken.

»Was machst du denn für einen Krach? Du weckst ja die gesamte Nachbarschaft auf.«

»Irshalu ist weg. Habt ihr auch das Beben gespürt und die seltsame Lichterscheinung gesehen?«

»Nein, bei uns ist alles ruhig, und außer dass wir heute Vollmond haben … aber was hat das mit Irshalus Verschwinden zu tun?«

»Man hat ihn geholt, wie schon zweimal davor.«

»Bist du sicher, nicht geträumt zu haben?«

»Du redest genau wie Bhavin … Nein, ich habe nicht geschlafen und bilde mir das nicht ein. Irshalu ist weg, und etwas in meinem Inneren sagt mir, dass er diesmal nicht wiederkommt.«

»Jetzt beruhige dich erst einmal und geh’ wieder nach Hause. Hier findet er dich nämlich nicht. Er wird sich irgendwo im Haus versteckt haben. Wenn nicht, informierst du die Polizei. Vielleicht irrt er draußen irgendwo herum.«

»Ach, die haben doch nie etwas unternommen. Aber für den Fall, dass Irshalu unbemerkt aus dem Haus gelaufen ist, solltest du Kumar wecken und mit ihm zusammen die Gegend absuchen. Das kann ich doch wohl von meinen Brüdern erwarten.«

»Ja, schon gut. Wir machen uns gleich auf den Weg.«

Ananda Tsomos Ahnung schien sich zu bestätigen, denn auch nach fünf Stunden war Irshalu noch immer nicht zurückgekehrt. Kumar Sangpo und Pouya Gönpo hatten erschöpft ihre Suche abgebrochen und geraten, doch die Polizei zu informieren. Ananda hatte fast die gesamte Zeit vor dem Gebetsschrein kniend verbracht, bis sie ihre Beine kaum noch spürte und geschworen hätte, dass der lächelnde Buddha ihr zugezwinkert habe. Gleichzeitig war sie sich aber darüber bewusst, dass ihr tränenumflorter Blick oder ihre überreizte Fantasie ihr einen Streich gespielt haben konnten.

Am nächsten Morgen machte sie sich besonders adrett zurecht, indem sie ihre langen, dunklen Haare kunstvoll, aber schmucklos aufsteckte und einen ihrer besten Saris anzog. Dann sagte sie kurz im Laden Bescheid und ging gleich weiter zur Polizeistation am Markt. Ihren Kleinwagen, einen weißen Tata Nano, ließ sie stehen, weil sie viel zu aufgeregt zum Autofahren war.

Auf der Polizeistation herrschte schon reges Treiben, verursacht von einigen geprellten Touristen und einem randalierenden Jugendlichen. Ananda wartete geduldig, bis sie an der Reihe war und legte dann die Handflächen in Brusthöhe aneinander, wobei sie den Kopf leicht senkte, um den „Namaste“-Gruß auszuführen. Das Wort bedeutete übersetzt in etwa „Ich verbeuge mich vor Dir!“ und war die übliche Begrüßung in Indien. Dabei gaben ihre Armreifen einen leise klingenden Ton von sich, obwohl sie an diesem Tag ungewöhnlich wenige davon trug. Ihre Mehendi, kunstvoll auf die Haut aufgetragene Verzierungen und Ornamente an den Füssen und in den Handflächen hatte sie nicht so einfach abwaschen können.

Der Wachtmeister streckte den Arm aus und bewegte die Hand nach unten, eine Aufforderung, näher zu treten, denn ein Heranwinken wie in europäischen Ländern wurde in Indien als beleidigend gewertet.

»Maaf kii dschiye ga ... – Entschuldigung, mera naam ... – mein Name ist Ananda Tsomo«, sagte sie auf Urdu.

»Dschii haan – ja, ich kenne Sie aus dem Souvenirladen am Highway. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte meinen Sohn Irshalu vermisst melden.«

»Einen Moment, bitte.« Der Wachtmeister stand auf und ging in einen Hinterraum.

Kurz darauf kehrte er in Begleitung eines Kollegen wieder, der ebenfalls beige gekleidet war, aber kein dunkelblaues Schiffchen wie der Wachtmeister auf dem Kopf trug, sondern eine Kappe, die ihn als Offizier auswies, und Ananda aufforderte, nach hinten zu kommen. In seinem Büro bot er Ananda einen Platz an.

»Das ist jetzt das dritte Mal, dass Ihr Sohn verschwunden ist, wenn ich recht informiert bin«, sagte er übergangslos.

»Ja, innerhalb von drei Jahren …« Ananda wunderte sich nicht einmal, dass der Offizier von dem zweiten Vorfall wusste, obwohl sie damals nicht die Polizei informiert hatte. In Leh sprachen sich derlei Ange-legenheiten offensichtlich schnell herum.

»Was ist diesmal anders, dass Sie sich persönlich herbemühen?«

»Das will ich Ihnen sagen. Die beiden Male zuvor kehrte Irshalu nach zirka einer Stunde wieder. Diesmal ist es bereits über neun Stunden her, und er ist noch immer nicht da.«

»Was schließen Sie daraus, eine Entführung?«

»Ich weiß nicht … doch, er muss entführt worden sein!«

»Sie leben von Ihrem Mann getrennt, nicht wahr? Könnte es sein, dass er den Jungen geholt hat?«

»Nein … ja, ich weiß nicht recht. Wohl eher nicht.«

»Warum nicht? Es ist schließlich auch sein Kind.«

»Ja, aber Bhavin würde mir das nicht antun. Irshalu ist das Letzte, was mir geblieben ist.«

»Nun, Ihr Mann hat Ihnen das Haus und den Laden überlassen. Das ist mehr als großzügig, nicht?«

»Wahrscheinlich, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Auch hing er nicht so sehr an unserem Sohn wie ich. Aber nein, je länger ich darüber nachdenke … Bhavin kann es nicht gewesen sein. Er würde sich nicht wie ein Dieb ins Haus schleichen … Außerdem hätte ich ihn doch hören müssen.«

»Wie jeden anderen auch. Haben Sie gestern Nacht überhaupt etwas gehört oder gesehen?«

Ananda antwortete nicht gleich, schüttelte aber dann den Kopf. »Für einen Moment glaubte ich, über das Babyphon fremdartige Geräusche zu hören. Es klang wie eine unbekannte Sprache. Aber das kann eigentlich nicht sein. Es war niemand da, als ich nachgesehen habe.«

»Wollen Sie damit andeuten, Ausländer hätten Ihr Kind geraubt?«

»Ich weiß es doch nicht …« Anandas Stimme ging in ein Wimmern über.

»Beruhigen Sie sich bitte. Wie lange hat es gedauert, bis Sie im Zimmer Ihres Sohnes ankamen?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und konnte mich zuerst nicht bewegen, als hätte man mich hypnotisiert.«

Die Augen des Offiziers verengten sich einen Moment zu Schlitzen. Sein Blick bekam etwas Lauerndes. »So, Sie fühlten sich also wie hypnotisiert. Aber von wem, wenn Sie doch keinen gesehen haben?«

»Ich weiß es doch nicht. Jemand muss so eine große Macht haben, dass er Leute bewegungsunfähig und Dinge zum Vibrieren bringen kann …«

»Ich denke, das bringt uns jetzt nicht weiter. Haben Sie überall gesucht, auch in der Umgebung?«

»Natürlich, meine Brüder waren stundenlang unterwegs, ohne Erfolg.«

»Dann würde ich Ihnen raten, die Vermisstenanzeige schriftlich zu formulieren und gleichzeitig Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Der Kollege händigt Ihnen vorne die Formulare aus. Die müssen allerdings in Urdu ausgefüllt werden. Sie beherrschen doch die Amtssprache? Ach ja, ich hörte Sie, den Wachtmeister so begrüßen.« Der Offizier stand auf und geleitete Ananda zur Tür. Hinter ihrem Rücken machte er seinem Kollegen ein Zeichen, das so viel bedeutete, als hielte er sie für leicht plemplem.

Nach dem Ausfüllen der Formulare ging Ananda Tsomo tief enttäuscht in ihren Laden zurück. Sie hatte nicht wirklich erwartet, Hilfe zu bekommen, aber es wenigstens einen Moment gehofft.

In den nächsten Tagen brachte sie überall in Leh Suchmeldungen mit Irshalus Foto an. Man brachte ihr allseits viel Mitgefühl entgegen und weckte sogar einige Male falsche Hoffnungen, indem man behauptete, den Jungen an verschiedenen Orten gesehen zu haben. Die Spuren führten aber allesamt in eine Sackgasse. Anandas Verzweiflung wuchs von Monat zu Monat, bis sie jede Hoffnung verlor, ihren Sohn jemals wiederzusehen.

Dann schlug das Schicksal erneut zu. In der Nacht vom 5. auf den 6. August 2010 - einen Tag früher, 48 Jahre zuvor, war der Leinwandmythos Marilyn Monroe am anderen Ende der Welt unter nie geklärten Umständen ums Leben gekommen - ereignete sich in Leh und in vielen anderen Gebieten Ladakhs eine Flutkatastrophe, bei der es über fünfhundert Todesopfer und viele Verletzte gab.

Nächtliche Wolkenbrüche bisher nicht gekannten Ausmaßes haben die nördliche Himalaya-Stadt Leh ins Chaos gestürzt. So und so ähnlich lauteten damals die Schlagzeilen, die um die Welt gingen. Insgesamt 115 Leichen bei den Aufräumarbeiten in den überfluteten Gebieten geborgen, und 375 Verletzte in örtlichen Armeekrankenhäusern behandelt, hieß es weiter. Und der Polizeichef des Bundesstaats Jammu und Kaschmir, Kuldeep Khoda äußerte sich dahingehend, dass Dutzende Menschen noch immer vermisst seien.

Zum ersten Mal begrüßte Ananda, dass Irshalu, der zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre vermisst wurde, die Katastrophe nicht miterleben musste. Sie selbst hatte derartige Sturzfluten aus den Bergen, die riesige Schlammlawinen mitbrachten und Zerstörungen von Teilen Lehs sowie umliegender Städte und Dörfer verursachten, noch nie erlebt. Ihr Haus war zwar weitgehend verschont worden, weil es erhöhter als die anderen lag, aber sie musste hilflos mitansehen, wie einfachere Lehmhäuser begraben oder mitgerissen wurden.

Von einem Moment auf den anderen hatte sich etwas Segensreiches ins Gegenteil verkehrt, denn die Wasserversorgung für die Landwirtschaft von Leh basierte überwiegend auf Schmelzwasser der Gletscher und der höhergelegenen Schneefelder. Wohingegen für das Trinkwasser ausschließlich Quell- und Grundwasser genutzt wurde. Dazu dienten private Brunnen und etwa vierhundert öffentliche Wasserstellen, von denen zirka ein Drittel auch im Winter nutzbar waren.

Nun glich Leh beinahe einer Geisterstadt, in der eine gespenstische Stille herrschte. Unpassierbare Straßen und Brücken, geschlossene Läden und vor Entsetzen verstummte Touristen. Es gab keinen Busbahnhof mehr und keine Flüge von und nach Leh, da die Landebahn überspült wurde. Fahrzeuge und Busse lagen unter Schutt begraben, und alles war mit Schlamm und Unrat bedeckt. Während Schaufelbagger den Weg für Rettungsmannschaften bahnten, die Verschüttete befreien sollten, halfen Anwohner und Touristen gleichermaßen, den Lehm und die Schlammberge mit allem, was sie in die Hände bekamen, abzutragen. Sogar das Regierungskrankenhaus war nicht von Schlamm verschont worden, sodass die Verletzten ins Militärkrankenhaus gebracht werden mussten. Es gab keinen Strom, kein Telefon und kein Internet, und auch nichts zu essen, da Läden und Restaurants geschlossen blieben, bis die Regierung dazu aufforderte, die Läden zu öffnen, um so etwas wie Normalität wiederherzustellen.

Aber die Gefahr war noch nicht gebannt, da es weiterhin regnete und die Flüsse anschwollen. Um sich über Nacht in Sicherheit zu bringen, suchten die Anwohner höher gelegene Orte wie den Palast und die Shanti Stupa auf, wo sie sich zu Hunderten drängelten. Manche übernachteten auch in ihren Autos, die sie auf sicheren, höher gelegenen Straßen geparkt hatten.

In den folgenden Wochen und Monaten kehrte dann langsam wieder Ruhe ein. Die schlimmsten Schäden waren beseitigt, und man begann mit dem Wiederaufbau. Ananda und ihre Brüder hatten bis zur totalen Erschöpfung gearbeitet, die Eltern waren schon zu alt, um selbst Hand anzulegen, aber alle waren noch einmal davongekommen. Ihre Häuser und der Laden waren zwar verschmutzt, aber unbeschädigt. Und in all dem Chaos war sogar die schmerzliche Erinnerung an Irshalu etwas zurückgetreten, sofern eine Mutter überhaupt aufhören konnte, an ihr vermisstes Kind zu denken.

Paigam Kalzang, dessen erster Name die Botschaft/Nachricht bedeutete, während der zweite Glück, gutes Schicksal verhieß, war an diesem Tag zum dritten Mal im Geschäft von Ananda Tsomo im Abstand von nur wenigen Tagen, hatte aber bisher nicht den Mut gefunden, die schöne, aber so überaus traurige Frau anzusprechen. Das sollte sich heute ändern, nahm er sich fest vor.

Wie konnten so wunderbare Augen nur so blicklos schauen, hätte er sich gefragt, wenn er es nicht besser gewusst hätte. Denn als Erstes war im vor Betreten des Ladens das Plakat mit dem Foto des vermissten Kindes im Schaufenster aufgefallen. Es musste immer wieder erneuert worden sein, denn die Farben wirkten frisch und wie neu, und als aufmerksamer Beobachter war ihm das Datum, das schon annähernd zehn Jahre zurücklag, nicht entgangen.

Paigam Kalzang war traditionell mit einem Salwar Kameez, einer Art Tunika mit Hose, bekleidet. Dazu trug er einen Pagri - Turban im gleichen satten Blau. Als er langsam auf Ananda zuging, begrüßte er sie mit dem „Namaste“-Gruß, den sie erwiderte. Dabei fiel ihm auf, dass sie das Kunststück vollbrachte, ihm als Kunden die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und gleichzeitig innerlich unbeteiligt zu bleiben, wie ihr Blick, der zwischendurch immer wieder wie in weite Ferne gerichtet schien, verriet.

»Womit kann ich behilflich sein?«, erklang ihre angenehme, aber leise Stimme.

»Viel lieber würde ich etwas für Sie tun, wenn sie erlauben.«

Ananda sah ihn irritiert an. »Was sollte das sein?«

»Sie müssen wissen, dass uns das Leid verbindet. Meine Töchter Kamika und Saira sind seit 2004 ebenfalls unauffindbar.«

Es war unmöglich festzustellen, was in Ananda vorging, als sie Paigam Kalzang in ein nur durch einen gerafften Vorhang abgetrennten Nebenraum bat und ihm Tee anbot. »In dem Jahr ist mein Irshalu erst geboren worden«, sagte sie mit unbewegtem Gesicht.

»Ich weiß, er war damals drei Jahre alt, genau wie meine Tochter Saira Sanjana, Kameka war zwei Jahre älter. Unsere Kinder könnten das gleiche Schicksal erlitten haben. Sie sind doch auch der Meinung, dass Ihr Sohn entführt worden ist?«

»Allerdings, nur glaubt mir niemand, und es gibt bis heute nicht die geringste Spur von ihm. Alles, was der Polizei einfiel, war, meinen Mann zu verdächtigen, weil wir seit einigen Jahren getrennt leben. Aber Bhavin würde mir das nie antun, seit …«

»Dieses Argument konnte man bei mir nicht anbringen, denn meine Frau hat sich nicht von mir getrennt. Sie ist an dem Leid, gleich unsere beiden Töchter verloren zu haben, buchstäblich zugrundegegangen. Nach langer Krankheit ist sie vor zwei Jahren verstorben.«

»Das tut mir leid. Seien Sie sich meines aufrichtigen Mitgefühls gewiss.«

»Danke. Damals haben wir noch in der Nachbarregion Himachal Pradish gelebt. Ich bin erst im vorigen Jahr nach Leh gezogen. Haben Sie zufällig die Meldungen über Himachal Pradish verfolgt? Man sprach von Spionagesatelliten, wie immer in solchen Fällen.«

Ananda Tsomo schüttelte den Kopf, was nicht zwangsläufig verneinend bewertet werden musste, denn in Indien verbat ein Gebot der Höflichkeit, eine Frage mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Deshalb nahm es Paigam Kalzang wohl auch als Zustimmung.

»Sie meinten, Sie könnten mir helfen«, sagte sie schließlich. »Wissen Sie etwas über den Verbleib von Irshalu?«

»Leider nicht, aber Sie sind nicht allein. Es gibt ein Betroffenengruppe, die einmal im Monat zusammenkommt.«

»Ja, ich weiß nicht, ob ich mich freimachen kann …«

»Die Flugzeit von Leh nach New Delhi beträgt nur knapp eineinhalb Stunden. Oder stellt der Flugpreis von etwa viertausendfünfhundert Indischen Rupien (knapp sechzig Euro) ein Problem dar?«

Ananda lachte ein seltsames, trockenes Lachen, wobei sich ihr Gesicht kaum veränderte. »Nein, gewiss nicht. Das Geschäft läuft sehr gut. Nur würde ich ja doch den ganzen Tag ausfallen. Meine Brüder müssten … Wann sagten Sie, ist das nächste Treffen?«

»In zwei Wochen. Wir können doch telefonisch in Kontakt bleiben. Ich gebe Ihnen meine Karte.«

»Danke, ich muss jetzt wieder nach vorne. Nicht dass man denkt, ich drücke mich vor der Arbeit. Vielen Dank für Ihren Besuch.«

»Es war mir eine Freude.«

Wenige Tage später kam ein indisches Ehepaar ins Geschäft, weil der etwa zehnjährige Junge in ihrer Begleitung draußen in der Auslage einen Oldtimer mit Spieluhr entdeckt hatte, die er unbedingt haben wollte. Während Ananda das Spielzeug in Seidenpapier einwickelte, musste sie den Jungen immer wieder ansehen. Sie stand mit zitternden Händen und weichen Knien hinter dem Ladentisch und fürchtete, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. In dem Kind erkannte sie Irshalu wieder. Sicher, sein Gesicht hatte sich etwas verändert, er war jetzt weniger pausbäckig, aber es war unzweifelhaft ihr Sohn, wie sie mit Mutterinstinkt festzustellen glaubte.

Der Kleine schenkte ihr kaum Beachtung. Es gab zuviel interessante Dinge im Laden zu sehen, und seine Eltern (?) suchten normalerweise keine Touristenshops auf. Deshalb war alles neu und reizvoll für ihn.

Nachdem das Paar gezahlt hatte und mit dem sich heftig sträubenden Kind nach draußen ging, löste sich Ananda aus ihrer Erstarrung und griff nach ihrem Autoschlüssel.

»Ich bin mal eben kurz weg«, rief sie ihren Brüdern zu, ohne eine Antwort abzuwarten. Vor dem Geschäft machte sie sich scheinbar auf dem schmalen Tisch, auf dem allerlei Nippes aufgebaut war, zu schaffen, sah aber aus den Augenwinkeln, wie das Paar mit dem Kind in einen silbergrauen Pkw der Marke Hyundai einstieg und auf dem Highway in Richtung Srinagar abfuhr. Ananda Tsomo stieg in ihren weißen Tata Nano und fuhr ihnen hinterher.

Die über vierhundert Kilometer lange Straße, im 17. und 18. Jahrhundert noch einspurig und hauptsächlich von Ponys genutzt, die vor allem Pashminawolle für die Kaschmirschal-Industrie transportierten, war im 19. Jahrhundert verbessert worden, so dass sie von da an auch Wohnwagen nutzen konnten. Heute war die Straße als moderner Highway entlang des Indus der historischen Handelsroute folgend zwar malerisch, weil sie Einblicke in historische und kulturell wertvolle Dörfer vermittelte, trotzdem nicht untückisch, da sie mitunter bei starkem Schneefall blockiert war. Deshalb blieb sie in der Regel nur von Anfang Juni bis Mitte November für den Verkehr geöffnet. Die anderen Monate war Leh von Srinagar abgeschnitten.

Ananda musste zwei Pässe überqueren. Zuerst den höheren Fotu-la mit 4.100 Metern, dann den in 3.719 Metern Höhe gelegenen Namika-la. Sie passierte die Dörfer Saspul, Lamayuru mit seinem Kloster, Saraks und den Ort Shagole, in dem es ebenfalls ein berühmtes Kloster gab. Unterwegs kamen ihr Zweifel, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, dem silbergrauen Hyundai zu folgen. Allein die Fahrt bis nach Kargil würde an die sieben Stunden dauern, und wenn die Familie womöglich in Srinagar wohnte …

Srinagar, das wie ein ländliches Venedig wirkte mit Einkaufsstraßen und Gemüsemarkt auf dem Wasser, war zwar äußerst reizvoll, denn dort waren Tradition und Moderne verknüpft, so konnte man Mönche mit Handys telefonieren sehen und Frauen, die zwar ein traditionelles Gewand, aber dazu Turnschuhe trugen, nur würden noch einmal sechs Stunden Fahrtzeit hinzukommen, was ohne Übernachtung in Kargil kaum zu bewältigen war. Unterwegs plagte sie der Durst, und so langsam musste sie auch etwas essen, aber sie reagierte wie eine Getriebene, die keine andere Wahl hatte.

Erleichtert stellte Ananda fest, dass der Hyundai in Kargil den Highway verließ und kein Hotel, sondern einen Bungalow in der Baroo Khanka Road ansteuerte, vor dem kurz darauf die Familie ausstieg, um hinein zu gehen.

Jetzt weiß ich also, wo Irshalu wohnt, dachte Ananda und beschloss, erst einmal etwas trinken zu gehen und eine Kleinigkeit zu essen.

Da es sich bei Kargil um eine konservative Muslim-Stadt handelte, gab es keine Bars. Tee konnte man in einem der Dhabas trinken, aber dort wollte sie als Frau alleine nicht einkehren. Es gab auch keine Souvenirläden, dafür konnte man reichlich Trockenobst und frisches Gemüse kaufen. In den Läden duftete es nach Aprikosen und Tandoori Naan.

In der Nähe des Hauptbazars fand Ananda schließlich ein tibetisches Restaurant im dritten Stock eines Gebäudes an der Hauptstraße gelegen, das relativ preiswerte tibetische Gerichte wie Momo und Thugpka anbot. Während sie aß, überlegte sie, ob sie in der Stadt übernachten oder gleich zurückfahren sollte.

Als wichtiger Verkehrsknotenpunkt von Ladakh, mit Straßen nach Leh, Srinagar und Padum in Zanskar und als inoffizielle Hauptstadt des muslimischen Ladakh sowie der Hauptstadt des Kargil Bezirks, war Kargil immer noch eine verhältnismäßig kleine Stadt mit knapp 150.000 Ein-wohnern, wobei nur zehn Personen auf den Quadratkilometer kamen. Da viele Reisende dort Zwischenstopp machten und übernachteten, gab es auch einige Hotels, die allerdings keinen guten Ruf genossen, wie Ananda wusste. So bekam man für den Preis eines schönen Doppelzimmers in Leh hier nur eine unsaubere, dunkle Box.

Aber sollte sie sich das wirklich antun, sofort wieder den langen Rückweg anzutreten, um morgen oder an einem der nächsten Tage wiederzukommen, dachte sie. Vielleicht fand sie ja doch eine halbwegs saubere Unterkunft. Der Inhaber des Restaurants empfahl ihr dann das Hotel Siachen, das kürzlich renoviert worden war.

Der dreistöckige Bau mit Laubengängen stellte sich weniger schlimm als erwartet heraus. Das Zimmer war einfach, zweckmäßig und relativ sauber. In der Anlage gab es sogar ein Geschäftszentrum mit Internetzugang und kostenlosem Highspeed-WLAN, und man konnte ohne zusätzliche Gebühr parken.

Als Erstes rief Ananda ihre Brüder an, die sich bestimmt schon Sorgen machten. Sie hoffte, Kumar Sangpo ans Telefon zu bekommen, da er leichter zu händeln war und alles so nahm wie es kam. Doch es meldete sich sein älterer Bruder Pouya Gönpo, der gelegentlich etwas oberlehrerhaft agierte.

»Na endlich, wo steckst du eigentlich?«, sagte er prompt.

»In Kargil, es ließ sich nicht vermeiden, aber ich habe gefunden, was ich suchte. Jetzt weiß ich, wo das Ehepaar wohnt, das vorgibt, die Eltern von Irshalu zu sein.«

»Hast du völlig den Verstand verloren? Da kommt ein fremdes Kind in den Laden, und du bildest dir ein, es wäre mein verschwundener Neffe. Inzwischen sind sieben Jahre vergangen. Kinder verändern sich in dieser Zeit gewaltig.«

»Ich weiß, aber es war Irshalu, glaube mir.«

»Und was willst du jetzt unternehmen?«

»Ich werde versuchen, ihn allein zu sprechen.«

»Weißt du, worauf du dich da einlässt? Die Stadt ist streng muslimisch. Es würde mich nicht wundern, wenn dort auf Kindesraub die Todesstrafe stünde.«

Ananda gab einen verächtlichen Ton von sich.

»Noch will ich ihn ja nicht mitnehmen. Ich muss ihn sprechen, sehen, ob er das Zeichen hat, und dann erst mit den Leuten reden. Jedenfalls werde ich nicht vor morgen Abend zurücksein. Die kleine Auszeit gönnt ihr mir doch, oder? Schließlich hatte ich in diesem Jahr noch keinen Urlaub.«

»Wir vielleicht?«, fragte Pouya trocken. »Wenn die Saison vorbei ist, haben wir genug Zeit dafür.«

»So lange kann ich aber nicht warten. Also, kommt ihr klar, oder nicht? Andernfalls müsste ich heute noch zurückfahren …«

»Blödsinn, dreizehn Stunden am Steuer hält der stärkste Ochse nicht aus. Viel Glück, und sei bitte vorsichtig.«

Am nächsten Morgen frühstückte Ananda Tsomo rechtzeitig, suchte dann im Internet eine Schule, die nahe der Baroo Khanka Road lag, und wurde sofort fündig. Es war die Munshi Habibullah Mission School, die sogar einen Schulbus unterhielt. Ananda war überrascht, dass der Unterricht erst um zehn Uhr begann. Sie konnte also in Ruhe auschecken und sich dann auf den Weg machen.

Mit klopfendem Herzen stand sie später vor dem Flachbau, in den nach und nach schwatzende und lachende Kinder gingen. Der Junge, den sie für ihren Sohn hielt, kam zu Fuß und in Begleitung eines Freundes oder Klassenkameraden.

»Assalamo aleikum! – Hallo«, sprach ihn Ananda auf Urdu an. »Du hast gestern bei mir im Laden ein schönes altes Automodell mit Spieluhr gekauft. Du magst wohl Autos, wie die meisten Jungen? Gefällt dir das Spielzeug immer noch so gut?«

»Ja, aber das war in Leh«, antwortete der hübsche, dunkelhaarige Junge. »Sind Sie uns etwa bis hierher gefolgt?«

»Ich geh dann schon mal vor«, sagte der etwas dickere Schulkamerad, der an der Unterhaltung nicht sonderlich interessiert zu sein schien.

»Warte doch, ich komme gleich mit«, aber der Junge war schon vorgelaufen, um dann stehen zu bleiben.

»Ist das dein Freund, Irshalu?«

»Warum sagst du Irshalu zu mir? Ich heiße Diyo Mani. Und Mani bedeutet “Das Wunschjuwel”.«

»Ich kann mir denken, dass die Leute, bei denen du jetzt lebst, sich immer einen Jungen wie dich gewünscht haben, aber in Wahrheit bin ich deine Mutter, und du heißt Irshalu.«

»Was ist denn jetzt?«, quengelte der andere Junge, der wieder näher gekommen war.

»Sie sagt, sie ist meine Mutter. Sie muss verrückt sein.«

»Dann sollten wir einen von den Lehrern holen oder gleich die Polizei«, sagte der Junge.

»Nein, ich bin nicht verrückt. Du hast doch einen kleinen, dunklen Fleck auf deinem Schulterblatt, ein Muttermal, nicht wahr?«

Diyo überlegte einen Moment und griff automatisch mit seiner kleinen Hand über die Schulter auf seinen Rücken.

»Ja, den habe ich. Maa sagt, das haben andere Kinder auch.«

»Siehst du, du benutzt den Begriff für Mutter in Hindi, im muslimischen Indien heißt es doch bestimmt anders …«

Diyo zuckte mit den Schultern. »Ich muss jetzt rein, damit ich nicht zu spät komme …«

»Kannst du dich denn gar nicht an mich erinnern? Oder an deinen Vater, Bhavin Gyatso, oder deine Onkel Kumar Sangpo und Pouya Gönpo?«

Diyo verneinte, und Ananda war den Tränen nahe.

»Du warst damals drei Jahre alt, als du plötzlich verschwunden bist. Ich habe dich überall gesucht und Plakate mit deinem Foto aufgehängt. Haben sie dich gefunden?«

»Ich muss jetzt wirklich gehen …«

»Bleib doch noch einen Moment. Ich hatte solche Sehnsucht nach dir. Du musst dich doch an unser schönes Haus in Leh erinnern. An dein Zimmer mit blauen Wänden und einer Lampe, die wie ein Mond aussieht.«

»Wir kennen Sie nicht. Lassen Sie uns in Ruhe, sonst holen wir wirklich einen Lehrer«, mischte sich der andere Junge erneut ein. »Da kann ja jeder kommen und behaupten, die Mutter eines Kindes zu sein, indem er eine abenteuerliche Geschichte auftischt. Also hauen Sie ab.«

»Ja, ich gehe, aber ich komme wieder, um dich von diesen Leuten wegzuholen«, sagte Ananda, ohne den anderen Jungen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Du gehörst doch zu mir. Ich habe nichts anderes, für das es sich zu leben lohnt.« Jetzt weinte sie wirklich.

»Komm, die spinnt. Die hat doch eine Schraube locker. Am besten beachtest du sie gar nicht.« Diyos Freund zog ihn mit sich, indem er Ananda noch einmal feindselig ansah und sie dann mit Verachtung zu strafen.

Diyo drehte sich jedoch in der Eingangstür der Schule um und warf Ananda einen unergründlichen Blick zu. Dann wurde er vom Strom der anderen Kinder mitgerissen.

Sie kommen nachts

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