Читать книгу Sie kommen nachts - Jay Baldwyn - Страница 5

2.

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Ananda Tsomo konnte Tag und Nacht keine Ruhe finden. Sie quälte der Gedanke, ihr Kind bei fremden Leuten zu wissen, denn sie war sich sicher, dass Diyo in Wahrheit Irshalu war, auch wenn er scheinbar keine Erinnerung daran hatte. Ihre Brüder wollten es noch immer nicht glauben. Pouya Gönpo redete schlicht von Wunschdenken. Er sprach nicht aus, was er insgeheim dachte, dass sein Neffe Irshalu längst tot oder allenfalls von Entführern außer Landes gebracht war. Dass sie friedlich nur gut zweihundert Kilometer entfernt wohnen sollten, erschien ihm doch allzu wunderbar.

Doch Ananda wollte nichts unversucht lassen, ihren Sohn zurückzubekommen. In ihrer Not fiel ihr Paigam Kalzang ein. Vielleicht würde sie in der Selbsthilfegruppe Rat erhalten, was man in solch einem Fall tun konnte. Kurz entschlossen griff Ananda zum Telefon.

»Hallo, hier spricht Ananda Tsomo …«

»Ja, welch eine Freude, Sie zu hören. Haben Sie sich entschlossen, mit nach New Delhi zu kommen?«

»Doch, ich denke, ich möchte die Gruppe kennenlernen. Aber …«

»Aber?«

»Vorher möchte ich noch einmal nach Kargil fahren, um nichts unversucht zu lassen. Es hat sich nämlich etwas Unglaubliches ereignet.« Ananda erzählte kurz vom Besuch des Ehepaares und wie sie mit Irshalu Kontakt aufgenommen hatte.

»Sie sind eine sehr mutige Frau, sich so einfach in die Höhle des Löwen zu wagen, wenn ich das bemerken darf. Und Sie sind sich völlig sicher, dass es sich bei diesem Diyo um Ihren Sohn handelt?«

»Völlig, das Muttermal hat letzte Zweifel beseitigt. Ich muss versuchen, mit diesen Leuten vernünftig zu reden, und werde Babyfotos von Irshalu mitnehmen. Dann sollen sie mal ihre zeigen. Ich denke, sie werden keine haben.«

»Ich würde Sie gerne begleiten, denn ein Mann an Ihrer Seite kann bestimmt nichts schaden. Was halten Sie davon?«

»Das kann ich doch nicht annehmen. Wollen Sie wirklich sieben Stunden Fahrt, plus Übernachtung und Rückfahrt auf sich nehmen?«

»Gewiss, Sie können mein Angebot gerne annehmen. Und die Übernachtung können wir uns sparen, indem ich eine der beiden Fahrten übernehme. Oder lassen Sie keinen Mann ans Steuer Ihres Wagens?«

Ananda lachte. »Doch, doch, mein jüngerer Bruder leiht ihn sich mitunter auch aus. Dennoch …«

»Ja? Sie meinen, es schickt sich nicht, dass eine verheiratete Frau mit einem Witwer allein so eine lange Fahrt unternimmt. Ist es das?«

»Nein … Ich meine, es ist mir relativ gleichgültig, was die Leute reden. Aber ich möchte Ihnen das eigentlich nicht zumuten …«

»Muten Sie nur. Zu zweit sind wir stärker, und die Reise ist kurzweiliger. Wann soll es losgehen?«

»Am liebsten schon morgen …«

»Einverstanden, es ist kein Problem für mich, einen Tag freizumachen. Wann und wo soll ich Sie erwarten?«

»Ich hole Sie natürlich ab, das ist das Mindeste. Sagen wir um acht Uhr nach dem Frühstück? Dann könnten wir bis Mitternacht zurück sein.«

»Gut, dann bis morgen. Ich freue mich.«

Pünktlich um acht stand Ananda vor Paigams Haus. Diesmal war sie gut vorbereitet, denn in ihrem Wagen befanden sich Getränke wie warmer und kalter Tee und einige kleine Snacks. Schmunzelnd bemerkte sie, dass auch Paigam Kalzang Proviant dabei hatte.

»Da können wir ja unterwegs noch einen Anhalter mitnehmen«, sagte sie gutgelaunt. »Ich denke, wenn wir zusammenlegen, wird es für einen oder zwei ausgehungerte Mönche reichen.«

»Wenn sie nicht gerade fasten, ja. Doch ich hätte auch nichts dagegen, alles mit Ihnen allein zu verspeisen.«

Auf der Fahrt führten sie zunächst den üblichen Smalltalk, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Erst nach und nach gab man etwas mehr von sich preis.

»Der Name Tsomo steht ja für die weibliche Form von Ozean«, sagte Paigam unvermittelt. »In Ihrem Fall sehr treffend, denn mit dem Ozean verbindet man Weite, aber auch eine gewisse Unergründlichkeit.«

»Sagt der Mann, dessen erster Name die Botschaft oder Nachricht bedeutet, und der in meinen Laden schneit, um mir etwas von einer Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Entführungsopfern mitzuteilen«, antwortete Ananda lächelnd.

»Eins zu null für Sie. Geben Sie etwas auf die Bedeutung von Namen?«

»Wissen Sie, der zweite Name meines Mannes Gyatso bedeutet die männliche Form von Ozean, weshalb ich damals, als wir einander versprochen wurden, glaubte, dass wir besonders gut zusammenpassen. Bis er mich und unser Kind verließ, um woanders sein Glück zu suchen. Aber nicht umsonst bedeutet Bhavin der Gewinner.«

»Apropos Glück, das wir beide in unseren Namen tragen. Ananda steht für die weibliche Form von Glück, und Kalzang für Glück, gutes Schicksal. Nur scheint das dem Glück in unserem Fall nicht bekannt gewesen zu sein.«

»Sie sagten, Ihre ältere Tochter heißt Kamika, das steht für die Erwünschte, die Erhoffte, nicht wahr? Demnach ist sie ein Wunschkind.«

»Oh ja, das ist sie. Deshalb lautet ihr zweiter Name auch Khushali - Freude, Glück.«

»Und Ihre Frau, wie hieß die?«

»Akhila - die Komplette, nur ahnten ihre Eltern nicht, dass dazu auch der Krebs gehörte, der in ihr lauerte.«

»Welchen zweiten Namen hatte sie?«

»Dipa, also Lampe, die Leuchtende. Bis es Devi, Vishnu oder einem anderen Gott gefiel, dieses Licht auszulöschen.«

»Leider ist der Wille der Götter für uns oft nicht zu begreifen. Um ihren Plan zu verstehen, muss man wohl erleuchtet sein«, sagte Ananda tiefgründig.

»Jetzt aber genug von den trüben Gedanken. In welcher Weise haben Sie sich für die heutige Begegnung vorbereitet? Was wollen Sie den Leuten sagen?«

»Ich werde sie fragen, wo sie Irshalu gefunden haben. Denn es steht außer Frage, dass diese Frau ihn nicht geboren hat. Ich wette, sie hat kein einziges Babyfoto von ihm. Dafür habe ich ein ganzes Album dabei.«

»Falls sie es jemals zugeben werden, würde es mich nicht wundern, wenn sie behaupten, ihn am Highway gefunden zu haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Ananda irritiert.

»Nun, Kinder, besonders Jungen, werden doch von Autos magisch angezogen. Das macht es ja so gefährlich.«

Die Antwort klang logisch, doch Ananda spürte, dass noch etwas anderes dahinter steckte, was Paigam Kalzang noch zurückhielt.

»Wie kam es zum Verschwinden Ihrer Töchter?«, fragte sie gerade heraus. »Oder möchten Sie nicht darüber sprechen?«

»Doch, doch, ich bin es schon so oft gefragt worden. Kamika Khushali war damals fünf Jahre. Sie war ein aufgewecktes, lebhaftes Kind, das dennoch viel geweint hat und von Albträumen geplagt wurde, genau wie die kleine Saira Sanjana. Meine Frau und ich nahmen an, dass Kamika schlafwandelte, denn mehr als einmal haben wir sie nachts im Garten vorgefunden. Am nächsten Tag hatte sie aber keine Erinnerung daran.

In jener verhängnisvollen Nacht im Sommer 2004 machte ich Überstunden im Büro und kam erst sehr spät nach Hause. Als ich nach Kamika und Saira sehen wollte, waren ihre Zimmer leer, und Akhila Dipa befand sich in einer Art Bewusstlosigkeit, aus der ich sie nur schwer befreien konnte. Fortan litt meine Frau unter schwersten Selbstvorwürfen, nicht genügend auf unsere Töchter Acht gegeben zu haben.«

»Wie sich die Bilder gleichen«, rief Ananda aus. »Auch ich befand mich in einem tranceähnlichen Zustand, in dem ich mich wie gelähmt fühlte, als Irshalu verschwand. Zusätzlich spielte die Elektrizität im Haus verrückt, und ich meinte, ein weißes Licht vor dem Fenster gesehen zu haben. Nur niemand in der Nachbarschaft hat etwas bemerkt.«

»Ja, das passt«, sagte Paigam sybillisch.

»War es das erste Mal, dass Ihre Töchter unauffindbar waren?«, wollte Ananda wissen.

»Unseres Wissens, ja. Warum fragen Sie?«

»Bei Irshalu war es das dritte Mal. Vorher war er nach etwa einer Stunde immer wieder da. Deshalb wollte mir auch keiner glauben, dass es schon zwei Vorfälle zuvor gegeben hatte, auch mein Mann nicht.«

»Das muss schlimm für Sie gewesen sein, sich so ganz alleine zu fühlen. Hatte Ihr Sohn irgendwelche Ver-letzungen, nachdem er wieder auftauchte?«

»Mir ist nichts aufgefallen. Ich war so froh, ihn wiederzuhaben. Denken Sie, man hat ihn missbraucht?«

»Möglich, aber wahrscheinlich anders als Sie denken. Ich meine, nicht sexuell. Oder hat es Fälle von Kindesmissbrauch in Ihrer Umgebung gegeben?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Allerdings war das damals noch kein Thema.«

»Ja, leider. Und die Polizei war ebenso ratlos wie bei uns, nehme ich an?«

»Natürlich, deshalb habe ich doch alles mit den Plakaten beklebt. Die Hinweise, die daraufhin eingingen, sind allesamt im Sande verlaufen.«

»Wie bei uns. Meine Frau und ich haben wochenlang die Umgebung abgesucht, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Da habe ich allein weitergemacht, aber irgendwie spürte ich, dass Kamika und Saira nicht mehr in unserer Nähe waren. Damals ahnte ich noch nichts von … Nun, ich will nicht vorgreifen. Nähere Einzelheiten werden Sie bei unserem Treffen in New Delhi erfahren. Es bleibt doch dabei?«

»Ja, natürlich. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir heute nicht allzu viel erreichen werden. Aber ich würde es mir nie verzeihen, nichts unternommen zu haben.«

Als Ananda Tsomo und Paigam Kalzang endlich in Kargil vor dem Haus in der Baroo Khanka Road ankamen, bewahrheiteten sich Anandas Befürchtungen. Sämtliche Fenster des Bungalows wiesen heruntergelassene Jalousien auf, und das Haus machte einen verlassenen Eindruck.

Von den Nachbarn erfuhren sie dann, dass die Familie für mehrere Wochen in Urlaub gefahren war. Rückkehr ungewiss.

Ananda versagten die Beine, sodass Paigam sie auffangen musste.

»Alles umsonst«, stöhnte sie, »die ganze lange Fahrt. Das kann doch kein Zufall sein. Für mich sieht das wie eine Flucht aus.«

»Ja, falls sie den Urlaub nicht schon lange zuvor gebucht haben.«

»Ach was, es sind doch gar keine Schulferien …«

»Kommen Sie, wir trinken in einer der Dhabas einen Tee. Vielleicht möchten Sie auch eine warme Mahlzeit zu sich nehmen?«

»Nein, ich bekomme jetzt nichts herunter. Ein frischer Tee hingegen, der nicht aus der Thermoskanne kommt, kann nichts schaden.«

»Vielleicht ist es ganz gut so«, sagte Paigam später. »Wer weiß, wie das Treffen heute ausgegangen wäre. Offensichtlich hat der Junge von der Begegnung mit Ihnen erzählt. Nicht dass ich glaube, Sie hätten sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen, aber womöglich ist es besser, rechtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vielleicht sollten Sie das Haus nur in Begleitung eines Anwalts oder der Polizei betreten.«

»Ja sicher, wenn es hart auf hart kommt. Dennoch habe ich gehofft, mit den Leuten vernünftig reden zu können. Mir ist schon bewusst, dass sie Irshalu mehr als doppelt so lange wie ich bei sich haben. Da entsteht natürlich eine Bindung, aber ich bin und bleibe doch die Mutter. Und langfristig gehört Irshalu zu mir.«

»Ein Bluttest beziehungsweise eine DNA-Analyse wären sicher hilfreich«, meinte Paigam vorsichtig.

»Heißt das, Sie glauben mir nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt. Wir haben in den ersten Jahren auch in so manchen Kindern unsere Töchter wiederzuerkennen geglaubt, bis sich herausgestellt hat, dass wir uns irrten. Ein DNA-Test lässt keine Irrtümer zu.«

»Was soll ich denn tun, wenn die Leute das nicht zulassen? Ich kann doch den Kleinen nicht blutig schlagen, um die erwünschte Probe zu erhalten.«

»Nein, gewiss nicht, doch eine richterliche Anordnung kann Wunder wirken. Wenn Sie sich absolut sicher sind, sollten Sie sich unbemerkt ein Haar von dem Jungen beschaffen.«

»Natürlich, so etwas sieht man immer in Filmen. Warum habe ich nicht von selbst daran gedacht?«, sagte Ananda verärgert.

»Sie sollten sich nicht allzu sehr geißeln. Es war schon ein ganz außergewöhnlicher Moment, ihrem Sohn nach so langer Zeit gegenüberzustehen. Welcher Mutter wäre da eingefallen, sich ein Haar zu verschaffen?«

»Es tut unglaublich gut, Sie in meiner Nähe zu haben …«

»Oh, dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben. Und es wird Ihnen noch besser tun, sich auf der Rückfahrt nicht auf die Straße konzentrieren zu müssen. Deshalb war es eine weise Entscheidung, mich mitzunehmen. Wir Leidensgenossen müssen schließlich zusammenhalten.«

Durch den sicheren und dennoch zügigen Fahrstil von Paigam Kalzang sparten sie auf der Rückfahrt eine halbe Stunde ein. Oder lag es nur daran, dass zu später Stunde weniger Autos auf der Straße waren? Trotzdem ging es schon auf Mitternacht zu, als Ananda zu Hause ankam, nachdem sie Paigam vor seiner Tür abgesetzt hatte. Todmüde fiel sie ins Bett, konnte aber lange nicht einschlafen, weil ihr so viel durch den Kopf ging.

Am nächsten Morgen fühlte sich Ananda, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Ein Glück, dass Kumar erst am Mittag kommt, dachte sie. Sonst würde er sie wieder aufziehen, indem er behauptete, so viel Make-up gäbe es gar nicht, um ihr Gesicht frischer zu machen.

Prompt ließ er dann später einen frechen Spruch ab. »Du hast auch schon einmal besser ausgesehen, altes Mädchen. Dass die Mission nicht erfolgreich war, gehr dir wohl tüchtig an die Nieren?«

»Ja, was denkst du denn? Insgesamt vierzehn Stunden Fahrt, um vor einem verlassenen Haus zu stehen …«

»Wer war denn der nette Herr, der bei dir im Auto saß? Ich habe euch vorbeifahren gesehen.«

»Paigam Kalzang, er hat seine beiden Töchter ebenfalls unter ungeklärten Umständen verloren. Und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich begleitet hat. In ein paar Tagen fliegen wir zusammen nach New Delhi, um weitere Betroffene zu treffen.«

»Pouya wird begeistert sein …«

»Das Thema hatten wir doch schon. Wenn ich mir als Geschäftsfrau nicht einmal hin und wieder frei nehmen kann, wozu dann überhaupt selbständig sein?«

»Mir musst du das nicht sagen. Ich bin auf deiner Seite, zumindest was die freien Tage betrifft. Auch für deine verzweifelte Hoffnung, Irshalu irgendwann wieder in die Arme schließen zu können, habe ich Verständnis, wenn ich auch glaube, deine Hoffnung ist trügerisch.«

»Na hör mal, so nah dran wie im Moment war ich die ganzen Jahre nicht.«

»Trotzdem glaube ich, dass es besser ist, gestern niemanden angetroffen zu haben …«

»Das hat Paigam Kalzang auch gesagt. Aber nicht, weil er mir nicht glaubt, sondern weil er meint, ich müsse besser vorbereitet sein und in Begleitung eines Anwalts erscheinen. Sag mal, weißt du, wo man als Privatperson eine DNA-Analyse durchführen lassen kann?«

»Du bist dir so sicher. Was ist, wenn du dich irrst?«, fragte Kumar behutsam.

»Dann werde ich damit leben müssen. Schlimmer als jetzt kann es kaum werden.«

»Ich habe eine Idee, um Pouya zu besänftigen. Du kennst doch Sonali Jamyang, die würde gerne öfter mal im Laden aushelfen.«

»Ist die Dame nicht etwas zu alt für dich?«

»Och, die paar Jahre … Jüngere Frauen geben mir nichts.«

Na, denn frag mal die Goldene mit der sanften, zarten Stimme, die fast wie eine Melodie klingt.« Womit Ananda auf die Bedeutung der beiden Namen anspielte.

»Ich will sie ja nicht heiraten. Sie soll dich nur vertreten.«

»Vorerst, alles andere wird sich finden.«

Am darauffolgenden Donnerstag flogen Ananda Tsomo und Paigam Kalzang mit der Fluggesellschaft Go Air um 10:20 Uhr in die indische Hauptstadt. Während der Flugzeit von einer Stunde und zwanzig Minuten überlegte Paigam, ob er Ananda entsprechend auf das Treffen vorbereiten sollte, entschied sich aber dagegen. Es würde besser sein, wenn sie im Kreise Gleichgesinnter etwas erfahren würde, was sich für sie womöglich als etwas schwer verdaulich herausstellen konnte.

Die Zusammenkunft war an Tag eins erst für 14:30 Uhr angesetzt – am zweiten Tag sollte es schon früh losgehen und bis zum späten Nachmittag dauern – sodass den beiden nach dem Einchecken im The LaLiT New Delhi Hotel noch Zeit für einen kleinen Ausflug blieb. Paigam hatte erfahren, dass Ananda nie zuvor in der Hauptstadt gewesen war, und wollte ihr wenigstens etwas von den Sehenswürdigkeiten zeigen.

Das 5-Sterne-Hotel mit Außenpool, Wellnessbereich und Fitnessstudio, den Tagungsräumen, Restaurants, Cafés und Bars war für Ananda ein echtes Erlebnis. Und erst die klimatisierten Zimmer mit Safe, iPod-Dockingstation, Highspeed-Internetzugang, Satellitenempfang für den LCD-Fernseher mit integriertem DVD-Player ... Selbst Kühlschrank, Minibar und Wasserkocher gab es, und Ananda hatte noch nie vorher eine Regendusche in einem Badezimmer gesehen. Bei dem flauschigen Bademantel glaubte sie, dass er vergessen worden war, wurde dann aber von Paigam über ihren Irrtum aufgeklärt.

Neu-Delhi als Hauptstadt Indiens, Sitz der indischen Regierung, des Parlaments und der obersten Gerichte, war am Anfang des 20. Jahrhunderts südlich der Altstadt von Delhi angelegt worden, um die traditionelle Hauptstadt Kalkutta abzulösen. Der neue Stadtteil erhielt dann im Jahre 1927 den Namen Neu-Delhi.

Der Connaught Place, ganz in der Nähe des The LaLiT galt als eines der größten kommerziellen und finanziellen Zentren im nördlichen Indien. Der Platz beherbergte ein klassisches Einkaufszentrum, und in den Gebäuden mit aufwändigen Fassaden, klassischen Säulen und Arkadengängen waren zahlreiche Büros, Geschäfte und Restaurants untergebracht.

Unweit des Connaught Platzes konnte man die Sternwarte „Jantar Mantar“ aufsuchen, ein Freiluft-Observatorium, das Jai Singh II., der Herrscher von Jaipur, 1725 errichten ließ, und das bis heute kaum verändert wurde. Zwischen Palmen und Blumenrabatten standen riesige Steingebilde in tiefem Rot und Weiß. Zeugen der umfassenden astronomischen Kenntnisse in Indien Anfang des 18. Jahrhunderts. Mithilfe dieser gigantischen Sonnenuhren bestimmte man damals die genaue Zeit, Sonnen- und Mondkalender und astrologische Beweg-ungen.

Ananda bestaunte die verschiedenen Bauanlagen von immenser Größe, mit denen die Messungen durchgeführt werden konnten. »Jantar Mantar leitet sich aus dem Sanskrit ab und bedeutet magisches Gerät, oder täusche ich mich?«

»Nein, ganz und gar nicht. Und diese überdimensionale Sonnenuhr heißt Samrat Yantra, was das „höchste Instrument“ bedeutet«, erklärte Paigam Kalzang. »Anhand der Schatten auf den Treppenstufen konnten unsere Vorfahren, sofern sie das nötige Knowhow besaßen, ablesen, wann die Regenzeit begann oder die beste Zeit zum Aussäen war. Toll, nicht?«, meinte Paigam, woraufhin er die Gelegenheit nutzte, das Gespräch auf die unerforschten Weiten des Alls zu bringen. »Interessieren Sie sich für Astronomie und ferne Himmelskörper, die womöglich der Erde gleichen?«

»Ehrlich gesagt, weniger. Ich finde, man sollte zuerst die Probleme auf der Erde lösen, bevor man auf die Suche nach fernen Welten geht, egal ob bewohnt oder unbewohnt.«

»Verstehe, und wenn man uns besucht? Eine Außerirdische Intelligenz könnte über ganz andere technische Möglichkeiten verfügen als wir. Es gibt Autoren, die meinen, wir hätten schon in grauer Vorzeit Besuch erhalten. Andere gehen sogar so weit, zu behaupten, der Mensch wäre genetisch verändert worden, um zu dem zu werden, was er heute ist.«

»Meines Erachtens verlagert man damit nur die Schöpfung an einen anderen Ort«, sagte Ananda. »Wenn der Mensch nicht auf der Erde erschaffen wurde, sondern man uns evolutionsmäßig erst auf die Sprünge helfen musste, woher kamen dann die uns überlegenen Wesen?«

»Das ist die Frage«, antwortete Paigam lächelnd.

»Und um es gleich vorwegzunehmen, ich halte diese Berichte über Ufos für ausgemachten Blödsinn.«

Nun, vielleicht änderst du heute noch deine Meinung, dachte Paigam, schwieg aber beharrlich.

Nachdem sie in einem der Restaurants im Hotel zu Mittag gegessen hatten, suchten sie den Tagungsraum auf, der bereits von einigen Teilnehmern bevölkert war, die Paigam Kalzang freundlich begrüßten.

»Darf ich Ihnen Ananda Tsomo aus Leh vorstellen?«, sagte Paigam zu einer älteren Dame mit kostbarem Sari. »Ihr Sohn wird seit 2007 vermisst. Das ist Camaka Lanee. Fragen Sie mich lieber nicht nach der Bedeutung ihres Namens.«

»Willkommen, mein Kind. Der tiefere Sinn meiner beiden Namen ist ganz einfach. Für Camaka gibt es keinen, und Lanee heißt reiche Tante, was unser Paigam Kalzang natürlich genau weiß, aber in seiner vornehmen Zurückhaltung für sich behält. Die reiche Tante stimmt übrigens, ich verfüge zum Glück über ein beachtliches Vermögen.«

Alle lachten, und das Eis war fürs Erste gebrochen.

„Darf ich fragen, ob sie auch einen geliebten Menschen vermissen?«, fragte Ananda.

»Natürlich, sonst wäre ich nicht hier. Meine damals siebzehnjährige Tochter ist vor zehn Jahren verschwunden, und bis heute gibt es keine Spur.«

»Aus welcher Gegend kommen Sie?«

»Aus derselben wie unser Paigam, Himachal Pradish. Ich wohne in der Hauptstadt Mandi, während Paigam in Shimla lebte, bis er zu Ihnen nach Leh gezogen ist. Obwohl wir in derselben Region lebten, sind wir uns erst hier begegnet.«

In diesem Moment gab ein elegant gekleideter Herr Paigam ein Zeichen, ihre Plätze einzunehmen. Als ihn alle erwartungsvoll ansahen, hielt er eine kleine Rede.

»Ich begrüße Sie alle herzlich zu unserem Treffen«, begann er. Sein Sherwani - ein langes Jackett mit Stehkragen, schon mehr ein Mantel, das Herren in Indien zu festlichen Anlässen trugen, war aus kostbarem Stoff. Dazu trug er die typische Pyjama Hose - Dhoti aus dem gleichen Stoff. Seinen Kopf zierte kein Turban, aber sein kurzer Haarschnitt war äußerst korrekt, und über der Schulter lag der unverzichtbare Dupatta - Schal.

»Für diejenigen, die mich noch nicht kennen – mein Name ist Dhiren Tinle, und meine beiden Kinder sind schon mehrmals entführt worden«, sprach er weiter. »Da wir heute drei neue Teilnehmer haben, möchte ich Sie bitten, sich kurz vorzustellen und in wenigen Worten Ihre Geschichte zu erzählen.« Er nickte einem jüngeren Mann zu seiner Linken zu, der ein weißes Gewand, bestehend aus einer Art Nachthemd und einer Pyjamahose, trug – die sogenannte Kurta Pajama Kleidung.

»Ich heiße Ranjan Nolo, komme aus Janakpur in der Provinz Tarai, und mein Sohn ist schon zweimal verschwunden. Wenn er wiederkommt, hat er kleine Narben, die vollständig verheilt sind, aber vorher nicht da waren.«

»Mein Name ist Samudra Sanjay«, sagte der Nächste, der fast gleich wie Paigam gekleidet war, nur in Dunkelgrün. »Ich lebe in Kadmahā, ebenfalls Tarai, und mein Junge wird seit sechs Jahren vermisst.«

Dann kam ein Ehepaar an die Reihe. Er in Sherwani und Dhoti, sie in reich besticktem Sari. »Ich bin Daljit Jaspal, und das ist meine Frau Lalita Nimra. Wir kommen aus Anantnag in der Region Jammu und Kashmir. Meine Frau und ich leiden seit Jahren an Albträumen. Unter Hypnose haben wir von Erlebnissen berichtet, die wir in einem Raumschiff hatten.«

Ananda warf einen irritierten Blick zu Paigam, der tat aber, als bemerkte er nichts.

Jetzt kam Camaka Lanee an die Reihe, deren viele Armreifen bei jeder Bewegung klirrten und zusammen mit den Ketten und Ringen ihr ein Aussehen wie ein geschmückter Weihnachtsbaum verliehen, der in diesem Kulturkreis freilich weniger bekannt war. Nur die großen Hotels stellten ihren Gästen mit christlichem Glauben zu Ehren im Dezember überladene Exemplare aus Kunststoff auf.

»Ja, ich heiße Camaka Lanee, wohne in Mandi, der Hauptstadt der Region Himachal Pradish, und vermisse meine Tochter seit zehn Jahren.«

»Darf ich eine Zwischenfrage stellen?«, meldete sich ein europäisch gekleideter, jüngerer Mann zu Wort. »Ich bin Suman Passang, lebe in Paris, habe aber indische Wurzeln und besuche gerade meine Eltern hier in New Delhi. Mich würde brennend interessieren, was das Ehepaar in dem Raumschiff genau erlebt hat.«

»Nachdem wir uns alle vorgestellt haben, wird genügend Zeit für Diskussionen und neueste Erlebnisberichte sein«, sagte Dhiren Tinle, »deshalb würde ich es begrüßen, in der Reihenfolge weiterzumachen.«

Suman Passang machte eine abwehrende Geste, was heißen sollte, dass er sich geschlagen gab.

Als Nächstes stellte sich eine junge Frau in einem weinroten Salwar Kameez vor, die nur sehr wenig Schmuck, doch eine auffällige Verzierung auf der Stirn trug, den sogenannten Bindi, was sie in Nordindien als verheiratete Frau auswies.

Der rote Punkt, sollte alten Hindu-Sagen nach das Nervensystem kühlen und den Geist ruhig und klar werden lassen. Denn der Punkt auf der Stirn, genau zwischen den Augen, sollte das Hauptnervenzentrum des menschlichen Körpers sein und wurde auch Ajna Chakra, Geistiges Auge oder Drittes Auge genannt. Außerdem vertausendfache sich die Schönheit einer Frau beim Tragen eines Bindi sagte ein Hindu-Sprichwort.

Zwar hatte der Sage nach im alten Indien ein Bräutigam seiner Braut einen Punkt aus seinem Blut auf die Stirn gemalt, aber der Bindi musste nicht zwangsläufig rot sein und hatte keine Standardform. Bindu bedeutete im Sanskrit zwar „Tropfen“, doch Hindu-Gläubige trugen stattdessen ein rotes, gelbes oder safranfarbenes „U“ als Anhänger des Gottes Vishnu; wer hingegen Gott Shiva verehrte, trug drei horizontale Linien aus Asche - Bhasma auf. Bei Männern war es ein längliches Mal – tilaka. Anderen Sagen zufolge schützte das Zeichen vor dem bösen Blick.

»Mein Name ist Savera Namgang«, sagte die junge Frau mit dem Bindi. »Ich komme aus Bīrendranagar in der Provinz Tarai, weiß aber nicht, ob ich hier richtig bin. Mein Kind ist zwar auch entführt worden, aber ich glaube eigentlich nicht an Ufos und Außerirdische.« Damit sprach sie offen Anandas Gedanken aus, die die junge Frau für ihre Ehrlichkeit bewunderte.

»Auch damit sind Sie nicht alleine«, sagte Dhiren Tinle lächelnd. »Einigen unserer Teilnehmer ging es anfangs ebenso, aber inzwischen hat sich das geändert, oder?« Dhiren Tinle blickte in die Runde und erhielt ein mehrfaches zustimmendes Nicken. »Unser Gast aus den USA wird uns morgen noch Spannendes darüber zu berichten haben.«

Nachdem Paigam sich vorgestellt hatte, kam Ananda als Letzte an die Reihe. Ihrer Geschichte wurde besonders interessiert gelauscht. Einmal, weil sie neu war, zum anderen gab es typische Merkmale, die schon Paigam hatten aufhorchen lassen. Deshalb ging man übergangslos zur Diskussion und Fragerunde über.

»Sie sagten, Ihr Sohn war schon zuvor zweimal verschwunden. Gab es besondere Umstände, als er endgültig verschwand, zum Beispiel Lähmungserscheinungen bei Ihnen und/oder ein gleißendes Licht?«, wollte Daljit Jaspal wissen.

»Ja, ich konnte mich eine zeitlang nicht bewegen«, antwortete Ananda wahrheitsgemäß. »Auch spielten die Technik und das Lampenlicht verrückt. Dabei nahm ich vor dem Fenster ein gleißend weißes Licht wahr.«

»Und trotzdem ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass da eine unbekannte Energiequelle im Spiel war?«

»Doch, schon, aber niemand, außer mir, hatte etwas bemerkt. Ich meine, so etwas wie ein Ufo hätte doch großes Aufsehen erregt …«

»Nur, wenn es von diesen Wesen erwünscht wird. Andernfalls kann Suggestion einiges bewirken. Wer es schafft, Tausende von Lichtjahren zurückzulegen und nur mit einer Art Laserstrahl Menschen aus ihren Wohnungen in ihr Gefährt zu ziehen, kann auch bewirken, dass sich hinterher niemand mehr daran erinnert.«

»Das gibt mir Gelegenheit, Sie erneut zu fragen, was Sie in dem Raumschiff erlebt haben«, sagte Suman Passang zu Daljit Jaspal.

»Meine Frau und ich fanden uns in einem hell erleuchteten Raum wieder, der irgendwie klinisch und steril wirkte. Wir wurden auf einem Tisch fixiert und sehr schmerzhaften Untersuchungen unterzogen. Während man mir Blut und Gewebeproben entnommen hat und Sonden in alle möglichen Körperöffnungen einführte, war ich bei vollem Bewusstsein und habe Todesängste um meine Frau ausgestanden, mit der man nur wenige Schritte entfernt dasselbe gemacht hat. Du hast es doch auch als sehr unangenehm empfunden, Lalita Nimra?«

Daljit Jaspals Ehefrau nickte. »Man hat nicht einmal vor den Geschlechtsteilen Halt gemacht. Noch heute wache ich schweißgebadet auf. Seltsamer Weise konnten mein Mann und ich uns kurz danach nicht daran erinnern. Auch wussten wir nicht, wie wir zurückgekommen sind. Erst in der Hypnose …«

»Das veranlasst Kritiker dieser Berichte zu behaupten, es handle sich um psychische Illusionen ähnlich den optischen Täuschungen«, sagte Suman Passang. »Halten Sie es für möglich, dass es sich nur um eine Vision oder Halluzination gehandelt haben könnte?«

»Nein, ich habe noch nie davon gehört, dass zwei Menschen gleichzeitig dieselbe Vision hatten. Und dass wir uns im Wachzustand nicht erinnern konnten, ist für mich der Beweis, dass man uns eine Art Vergessenszauber auferlegt hat. Ähnlich dem Umfeld von Ananda Tsomo.«

»Wie sahen die Wesen aus, die Ihnen das angetan haben?«, hakte Suman Passang nach.

»Sie waren kleiner als wir, stark behaart, hatten spitze Ohren und Augen wie Insekten. Dann gab es noch Wesen, die viel größer als wir waren, bestimmt über zwei Meter. Und einer, der als eine Art Aufpasser fungierte, ähnelte uns Menschen und trug eine Atemmaske. Nur seine Augen waren riesig und sehr dunkel.«

»Seltsamer Weise wird immer von diesen schwarzen, mandelförmigen Augen ohne Pupille berichtet. Für die Gestalten in Science-Fiction-Filmen hat man diese Darstellung zum Teil übernommen«, hörte Suman Passang nicht auf zu bohren. »Und die angebliche Alienleiche in der Area 51, die eindeutig eine Puppe war, musste dann auch diese Augen haben.«

»Eine Gegenfrage: Warum sind Sie eigentlich hier? Ein Betroffener sind Sie doch wohl nicht.« Camaka Lanees Armreifen klingelten noch mehr und ihre Haltung nahm etwas Bedrohliches an. »Sind Sie ein Reporter, der ein bisschen spionieren will?«

Suman Passang lachte. »Nein, ich sagte doch, dass ich meine Eltern besuche und zufällig auf diese Veranstaltung aufmerksam geworden bin. Ich interessiere mich seit Jahren für das Ufo-Phänomen und gehöre sogar einem Interessiertenkreis in Paris an. Bei aller Euphorie haben wir uns eine gewisse Skepsis bewahrt. Schließlich hat sich die Vorhersage, dass die Außerirdischen 2012 landen werden mal wieder nicht bewahrheitet.«

»Wir wollen doch nicht alles durcheinander werfen«, ereiferte sich Daljit Jaspal, »uns geht es nicht darum, ob irgendwelche Raumschiffe auf der Erde landen, um womöglich die Weltherrschaft zu übernehmen, sondern dass wir auch ohne Landung gequält und für Experimente missbraucht werden. Ganz zu schweigen von den Unglücklichen unter uns, die ihre Kinder vermissen. Denen ist es herzlich egal, ob die Außerirdischen landen. Dadurch bekommen sie ihre Kinder auch nicht zurück. So sieht es aus.«

»Damit wir uns wieder etwas beruhigen, schlage ich eine Teepause vor«, rief Dhiren Tinle in die Runde. Tee und Gebäck stehen für Sie bereit. In einer halben Stunde sehen wir uns wieder.«

Paigam sah, dass Ananda die Pause nutzte, um hinauszugehen, und hoffte, sie würde nur die Toilette aufsuchen und sich nicht in ihr Zimmer zurückziehen. Sie kam dann tatsächlich wieder. Wenn sie also überlegt hatte, der restlichen Veranstaltung fernzubleiben, musste sie sich dagegen entschieden haben.

Nach der Pause sprach Dhiren Tinle Savera Namgang direkt an. »Sie sagten, Ihr Kind sei auch entführt worden. Möchten Sie uns Näheres dazu erzählen?«

Die junge Frau räusperte sich und schien nach Worten zu suchen.

»Mein kleiner Vinod ist 2004 mitten in der Nacht aus dem Haus seiner Großeltern verschwunden. Niemand will etwas bemerkt haben. Eine großangelegte Suchaktion blieb erfolglos. Zwei Monate zuvor war er nur für eine Stunde unauffindbar gewesen, um dann plötzlich wieder im Haus aufzutauchen. An die vergangene Zeit hatte er keinerlei Erinnerung. Aber von den Erscheinungen, von denen hier berichtet wird, habe ich nichts bemerkt.«

»Aber Sie haben doch sicher die Meldungen über die Ereignisse rund um Tarai verfolgt, die sich in jenem Jahr häuften? Es war eindeutig von UFO-Sichtungen die Rede«, sagte Dhiren Tinle.

»Nein, ich interessiere mich für diese Thematik weniger.«

»Ich habe darüber gelesen«, sagte Ranjan Nolo, »ich komme ja auch aus dieser Gegend. Jugendliche berichteten von senkrecht aufsteigenden Flugobjekten, die gänzlich ohne Geräusch über ihnen schwebten, um anschließend wieder zu verschwinden.«

»Eigentlich ist es allgemein bekannt, dass die Sichtungen von UFOs in unserer Gegend seit 1998 zugenommen haben«, gab ihm Samudra Sanjay zunächst Recht. »Aber ich habe diese Angelegenheit nicht mit dem Verschwinden meines Jungen in Verbindung gebracht. Es hieß ja auch in der Bevölkerung, die Sichtungen hingen mit den indischen nuklearen Tests zusammen. Wissenschaftler des indischen Geo-Instituts meinten, die UFOs kontrollierten schon eine Weile die Provinz Himachal Pradish.«

»Ja, man behauptete, dass eine außerirdische Macht unterirdische Landeplätze im Himalaja baut«, stimmte ihm Camaka Lanee zu. »Ich fand das anfangs lächerlich, doch dann wurden militärische Aktionen im Norden an der Grenze zu China beobachtet. In China hingegen, dicht an der Grenze zu Indien, legte man einen großen künstlichen See an, der über Nacht plötzlich verschwand. Und jeder fragte sich, wo wohl das Wasser geblieben sei.«

»Aber was hat das mit den Entführungen zu tun?«, fragte Daljit Jaspal.

»Also für mich ist das kein Widerspruch«, meinte Ranjan Nolo. »Das beweist doch nur, dass sie da waren. Es kann doch kein Zufall sein, dass sich vor zehn Jahren die Vorfälle häuften.«

»Sie machen mir Angst«, rief Savera Namgang aus. »Bisher war es schlimm genug für mich, zu glauben, mein Kind sei von fremden Menschen entführt worden. Ich bin auch nur gekommen, um Erfahrungen auszutauschen oder eventuell Hilfe zu bekommen. Der Gedanke, dass es Aliens gewesen sein könnten, die mein Kind in ihre Gewalt gebracht haben, ist für mich unerträglich.«

»Ich kann Sie gut verstehen«, sagte Ananda Tsomo. »Mir geht es ebenso. Ich hatte auch keine Ahnung, worum es hier bei dieser Zusammenkunft geht, doch ehrlich gesagt, bin ich inzwischen nachdenklich geworden.«

Paigam Kalzang fiel eine Zentnerlast von der Brust, aber er freute sich zu früh, denn Ananda machte ihm beim Abendessen heftige Vorwürfe.

»Jetzt verstehe ich, warum Sie mich das alles gefragt haben. Finden Sie es richtig, mich unter falschen Voraussetzungen hierher zu locken?«

»Verzeihen Sie, ich dachte, es wäre leichter für Sie, inmitten von Betroffenen die Wahrheit zu erfahren. Mir hätten Sie vielleicht nicht geglaubt.«

»Ob Ihre Wahrheit die meine ist, wird sich bald herausstellen, wenn Irshalu, den man jetzt Diyo nennt, wieder in meiner Obhut ist. Wenn diese Leute ihn entführt haben, hat sein Verschwinden ganz irdische Ursachen.«

»Überlegen Sie doch mal. Warum wurde wohl ihr Sohn an einem Highway gefunden, fern ab von menschlicher Zivilisation? Weil man ihn dort abgesetzt hat. Er wäre nicht der Erste, den man an einen ganz anderen Ort gebracht hat.«

»Noch steht ja nicht fest, ob er am Highway gefunden wurde. Wenn ich auch zugeben muss, dass es plausibel klingt. Denn diese Leute, die sich als seine Eltern ausgeben, waren bestimmt nicht in meinem Haus, und es kann kein Zufall sein, dass man ihren Bungalow nur über den Highway erreichen kann.«

»Richtig, und von Entführern, die extra helles Licht und starke Energiequellen bei ihrer Schandtat einsetzen, habe ich auch noch nichts gehört. Es sei denn, es handelt sich um Außerirdische. Ich kann ja verstehen, dass der Gedanke für Sie neu und befremdlich ist.«

»Ach, ich bin hin und hergerissen«, seufzte Ananda. »Ja, ich gebe zu, dass es ein Erlebnis ist, all diese Leute hier kennengelernt zu haben. Aber im Moment würde mich ein tüchtiger Anwalt wahrscheinlich weiterbringen.«

»Für den Fall, dass es sich bei Diyo wirklich um Irshalu handelt, was ich sehr für Sie hoffe.«

»Danke. Wäre es sehr vermessen von mir, zu fragen, ob Sie mich nach unserer Rückkehr ein weiteres Mal nach Kargil begleiten? Ich muss schließlich DNA-Material besorgen.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich hätte es Ihnen ohnehin angeboten. Schließlich habe ich etwas gutzumachen. Aber vielleicht sollten wir uns vorher in der Schule erkundigen, ob Diyo aus dem Urlaub zurück ist.«

Sie kommen nachts

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