Читать книгу Mondschein - J.D. David - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеDie hellen Strahlen der sommerlichen Mittagssonne wärmten die leicht gebräunte Haut des Mädchens, das an der Kaimauer des Hafens von Tjemin saß und seine Füße leicht im Wasser der Gronde baumeln ließ. Ihre Schuhe, ziemlich abgewetzte und zerrissene braune Lederstiefel, standen neben ihr auf der Mauer. Auch ihre sonstige Kleidung zeigte, dass sie zur armen Bevölkerung der Hauptstadt des Herzogtums Fendron gehörte. Eine bis zu den Waden reichende, einstmals helle Hose wurde von einer, ihr deutlich zu großen, dunkelroten Tunika überdeckt. Das Ganze wurde von einem schwarzen Ledergürtel zusammengehalten. Im Sommer war diese Kleidung angenehm kühl, für den Winter musste sich das Mädchen jedes Mal aufs Neues etwas ausdenken. Den Kopf hatte sie leicht in den Nacken gelegt. Ihr dunkelblondes, etwa schulterlanges Haar war als Zopf zusammengebunden, darauf trug sie zum Schutz gegen die pralle Sonne einen alten Schlapphut, der mit einer Gänsefeder verziert war. Die etwa Vierzehnjährige sah wirklich wie jemand aus, die einfach so in jeden Tag hinein lebte.
Das bunte Treiben des Hafens war dem Mädchen mehr als bekannt. Sie lebte nun schon mehrere Jahre in der großen Stadt, in der Waisenkinder auf der Straße noch die besten Chancen hatten, irgendwie durchzukommen. Tjemin war immerhin die drittgrößte Stadt des Reiches. Auf dem Land oder in kleineren Städten wäre das Mädchen wohl nicht so lange durchgekommen, doch hier in der Stadt gab es immer wieder reiche Kaufleute, großzügige Händler oder andere barmherzige Personen, die das Überleben von Menschen wie ihr sicherten. Und alles in allem war das ihre auch gar nicht so schlecht.
Sie schloss die Augen und ließ alle Sinneseindrücke auf sich wirken. Eine leichte Brise strich ihr durch die Haare und über das Gesicht und gewährte so eine angenehme Kühlung von der warmen Sonne. Sie nahm die Düfte des Hafens auf, wenn man den von Fisch dominierten Gestank Duft nennen konnte. Sie hörte das hektische Treiben, die Schiffe, die entladen wurden, Lasten, die umher getragen wurden und auch Händler, die ihre Waren anpriesen.
Sie hielt sich gerne im Hafen auf. Hier war immer etwas los, und durch die anliegenden Lagerhallen und Kontore war auch nicht nur die arme Bevölkerung hier anwesend, wie es zum Beispiel im Gerberviertel der Fall war.
Das Mädchen zog die Füße aus dem Wasser und stand auf. Sie zog ihre Schuhe wieder an und streckte sich kurz. Genug ausgeruht, dachte sie, denn langsam beschlich sie der Hunger. Also musste sie etwas zu essen besorgen. Sie wusste, dass es bei der Bäckerei des alten Xavers eigentlich immer ein bisschen altbackenes Brot gab, das dieser auch gerne an die gab, die es brauchten. Der alte Mann war eine wirklich gutmütige Seele, fast jedes Kind auf der Straße kannte und mochte ihn. Dazu hatte das Mädchen noch ein bisschen getrocknete Wurst vom Vortag, was das Ganze zu einer alles in allem guten Mahlzeit machte. Also lief sie los durch den Hafen, um dann in eine der vielen kleinen Gassen des Viertels einzubiegen.
Finn lief so schnell wie er konnte, auch wenn er in den vielen kleinen Gassen des hinteren Hafenviertels schon längst die Orientierung verloren hatte. Tjemin war wirklich ein heißes Pflaster, besonders wenn man sich von den großen Plätzen und Straßen entfernte, so musste er gerade schmerzhaft feststellen. Dass er selbst in solchen Ärger kommen würde, damit hatte der Zwölfjährige wirklich nicht gerechnet. Er hätte wohl hören und nicht nur seinem eigenen Willen nachgehen sollen. Aber dafür war es jetzt wirklich zu spät. Er sah kurz über die Schulter und sah seine Verfolger um die Ecke biegen. Vor ihm tat sich schon wieder eine Kreuzung auf. Links, Rechts oder geradeaus? Es war eigentlich völlig egal, er wusste sowieso nicht, was das Beste war. Ohne weiter nachzudenken bog er rechts ab. Er musste einfach nur möglichst viele Haken schlagen und hinter Ecken verschwinden. Dann würde er seine Verfolger schon irgendwie abhängen, wie ein Hase einen Fuchs, der ihn jagte. Finn lief weiter.
Das Mädchen kaute genüsslich an einem nicht allzu kleinen Stück Brot. Xaver war wirklich gut drauf gewesen, was bei so einem Wetter auch kein Wunder war. Sie war gerade wieder auf dem Weg zum Hafen als hinter einer Ecke ein Junge hervorgeschossen kam. Wortlos lief er an dem Mädchen vorbei ohne sie wirklich zu bemerken und bog in wenigen Schritten die nächste Abbiegung nach links. Das Mädchen zog sich sofort in einen Hauseingang zurück, um nicht gesehen zu werden. Wenn jemand so durch die Gassen raste, dann konnte das nur Ärger bedeuten. Und das war bestimmt Ärger, in den sie nicht hereingezogen werden wollte.
Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie drei Männer an die Kreuzung kommen sah. Alle sahen wie Gestalten aus, die man nicht gerade als vertrauenserweckend bezeichnen konnte. Ihre Kleidung war mindestens ebenso abgerissene wie ihre, sie hatten einen wirklich fiesen Blick und zudem trugen zwei von ihnen Holzknüppel. In ihrem Leben war es eine ihrer Hauptbeschäftigungen gewesen, solchen Gestalten auszuweichen.
Nach kurzer Absprache teilten sich die Gestalten auf, um dem Jungen zu folgen. Der Verfolgte tat dem Mädchen wirklich leid. Offensichtlich kannte er sich in den Gassen von Tjemin nicht aus. Immerhin war die Gasse, in die er gerade gelaufen war, eine Sackgasse. Und die Gestalten sahen nicht so aus, als würden sie den Jungen zum Essen abholen wollen. Dennoch war genau das die Art von Ärger, die sie eigentlich vermeiden wollte. Aber der Junge war maximal zwölf, dreizehn Jahre alt. Wie hatte er sich überhaupt solchen Ärger eingehandelt? Gewissensbisse plagten sie.
Dann entschied sie sich und ging los.
Finn schaute noch mal über die Schulter, bevor er in die nächste Gasse einbog. Sehr gut, dachte er. Seine Verfolger waren noch nicht um die Ecke. Das war vielleicht die Möglichkeit, diese Gestalten endlich abzuhängen. Seine freudig, hoffnungsvolle Stimmung verflog ziemlich plötzlich, als er wieder nach vorne schaute. Eine Mauer tat sich vor ihm auf, die Hinterwand eines Hauses.
Wer hatte das denn hierher gebaut? Wer war nur der verdammte Konstrukteur dieser verdammten Stadt? Finn hatte schon jetzt einen Hass auf Tjemin, obwohl er erst einige Stunden hier war. Trotzdem schaltete er schnell. Vielleicht konnte er noch entfliehen. Er drehte sich um, um weiter weg zu laufen. Da stockte ihm der Atem. Einer seiner Verfolger stand am Ausgang der Gasse. Er trug einen zerlumpten braunen Mantel, sein Gesicht wurde von einer Narbe geziert und in seiner Hand hatte er einen Holzknüppel mit einigen Nägeln am Kopf, den er drohend in seine andere Handfläche schlug.
„Da haben wir dich, Jungchen. Hey Jungs, ich habe ihn!“, rief er laut und ging langsam auf Finn zu. Dieser wankte weiter zurück. Er hatte noch nicht wirklich einen Plan, wie er hier wieder herauskommen konnte. Er hätte wirklich hören sollen, oder zumindest eine Waffe hätte er mitnehmen sollen. Tjemin muss doch sicher sein, das hatte er gedacht. Aber er hatte die Sicherheit der Stadt deutlich überschätzt. Wurde ihm das jetzt zum Verhängnis?
Finn hatte die Person hinter der finsteren Gestalt kaum wahrgenommen, da hörte er schon das dumpfe Geräusch von Holz, das jemand über den Kopf gezogen wurde. Der Mann ging sofort mit einer blutenden Platzwunde zu Boden. Dahinter stand ein Mädchen mit einem Holzbrett in der Hand, dass sie neben den Mann warf. Jetzt erst erkannte das Mädchen den Jungen genauer.
Er hatte relativ kurze, tiefschwarze Haare, die ordentlich geschnitten aussahen. Sein Gesicht war noch jungenhaft, deutete aber schon den Übergang zum Mann an. Seine tiefbraunen Augen schauten aufgeregt. Auch sonst wirkte er nicht wie jemand, der an einen solchen armen Ort gehörte. Der graue Wollmantel, der eigentlich viel zu warm für die Jahreszeit war, verdeckte jedoch den Reichtum des Jungen ganz gut. Der Mantel hatte offensichtlich auch schon einiges mitbekommen. Darunter trug der Junge einen wattierten Wappenrock, wie es sonst nur Stadtwachen oder andere Soldaten oder Söldner taten. Er war viergeteilt in weiß-grün. Auch seine Hose sah fein gewebt aus. Doch am deutlichsten stach der Gürtel hervor. Er schwarz, aus Leder, und wurde von einer silbernen Schnalle gehalten, neben der er mit goldenen und silbernen Zeichen beschlagen war. Zudem trug der Junge mehrere Gürteltaschen, nur ein Schwert fehlte noch, um das Bild eines jungen Adeligen zu vervollständigen. Immerhin würde es sich vielleicht lohnen, diesen Jungen zu retten, dachte sich das Mädchen noch, obwohl sie sich schon längst entschieden hatte, ihm zu helfen, egal wie viel Gold er im Beutel trug.
„Schnell, komm mit.“ sagte das Mädchen und packte den Jungen am Arm. Dieser lief, noch ziemlich verwirrt von seiner jähen Retterin, ohne weitere Widerworte mit. Das Mädchen hatte noch genau die anderen beiden Verfolger im Sinn, die nach dem Ruf ihres Kameraden bestimmt schon auf dem Weg waren. Sie zog den Jungen zur Mauer der Sackgasse. Diese war gut drei Schritt hoch, gerade so viel, dass man sie alleine nicht erklimmen konnte.
„Nimm deine Hände zusammen, dass ich sie als Trittbrett nehmen kann.“, befahl sie Finn und schwang sich dann mit dessen Hilfe die Mauer hoch, die sich als flaches Dach eines Gebäudes herausstellte. Dort oben angekommen beugte sie sich herunter um dem Jungen ebenfalls hoch zu helfen. Nach einer mehr schlechten als rechten Kletterei lagen die beiden etwas schwerer atmend oben auf dem Dach.
Das Mädchen schaute nach unten und sah die beiden Gestalten gerade in die Gasse einbiegen und ihren Kameraden finden. Sie zog den Jungen auch herunter, sodass sie nicht zu sehen waren. Trotzdem glaubte sie daran, dass diese Verfolgung bald weitergehen würde. Aber erstmal mussten sie kurz durchschnaufen.
„Hallo, übrigens.“, sagte das Mädchen lächelnd zu dem Jungen. „Mein Name ist Lora. Du solltest dir nicht in fremden Städten Ärger einhandeln, wo du nicht weißt, wie du entkommst.“
„Ja, äh, danke erstmal, für die Rettung.“, antwortete Finn, der aus seinem kurzzeitigen Schock wieder erwacht war. „Mein Name ist Finn. Und ich habe mir den Ärger nicht gesucht, er kam einfach auf mich zu. Weißt du, wie wir jetzt hier am besten heraus kommen?“
„Folg mir einfach. Es gibt hier einen kurzen Weg über die Dächer, dann kommen wir Richtung Hafenmarkt, von dort kann man gut untertauchen. Also los.“, sagte Lora und lugte vorsichtig über den Rand des Daches. Sie sah niemanden, und ging geduckt voran. Doch auf einmal hörte sie wieder Stimmen von unten.
Die Gestalten hatten sie wieder bemerkt und nahmen die Verfolgung sofort wieder auf. Lora sprang auf und rannte los. Finn lief ihr nach. Sie sprangen gemeinsam über einige Dächer, ihre Verfolger blieben in den Gassen. Einige Male dachten sie gerade, sie abgeschüttelt zu haben, als sie wieder auftauchten. Als sie über mehrere Häuser hinweg waren, erreichten sie ein größeres Lagerhaus. Lora sprang vor und kletterte das geziegelte Dach hoch bis zu einer Dachluke. Sie öffnete die Luke, um darin einen besseren Stand zu erlangen. Dann gab sie Finn die Hand und half ihm hoch zu der Luke. Sie spürte, dass er einen festen Händedruck hatte. Auch beim Laufen hatte sie bemerkte, dass der Junge gut trainiert, wendig und schnell war. Alles in allem bestätigte sich zumindest ihr Vorurteil über einen faulen, fetten, adeligen Jungen nicht, das sie bisher über die Angehörigen dieser Schicht hatte. Aber Ausnahmen bestätigten nun mal die Regel, dass sagte auch der alte Xaver immer.
Nachdem Finn bei ihr oben war kletterte Lora die Luke herunter, einfach davon ausgehend, dass dieser ihr folgen würde. In dieser Gegend kannte sie sich sehr gut aus, und diese Lagerhalle hatte sie schon oft benutzt. Die Luke führte zuerst zu einem Speicher, auf dem sich nichts wirklich Bedeutendes befand. Gerade im Winter war das hier oben ein ganz guter Schlafplatz. Außer ein paar kaputten Kisten, Truhen und Werkzeugen lag hier oben nichts, wenn man von der dicken Staubschicht einmal absah. Lora führte Finn quer durch den Speicher bis zu einer weiteren Luke, die nach unten führte.
„So, ab hier müssen wir jetzt ein bisschen vorsichtig sein“, warnte Lora den Jungen. „Unten werden wahrscheinlich ein paar Arbeiter sein. Halte dich einfach immer in Deckung, sei möglichst leise und folge mir. Wenn wir gesehen werden, dann lauf mir einfach nach, so schnell wie es geht. Danach kommen wir auf den Marktplatz. Dort wird um diese Uhrzeit ziemlich viel los sein, also pass auf, dass du mich nicht in der Menge verlierst. Wenn wir dort durch sind, sollten wir die Verfolger endgültig abgehängt haben.“
Finn nickte ruhig und atmete noch mal tief durch. Dann öffnete Lora die Luke nach unten.
Von der Luke führte eine Leiter herunter in die Lagerhalle. Diese bestand aus zwei Ebenen, wobei die obere Ebene nur ein Holzweg war, der einmal rund herum führte. In der Lagerhalle waren Kisten, Fässer und Truhen gestapelt. Drei Männer arbeiteten in einer Ecke der Halle, die nicht auf dem Weg der beiden Kinder lag. Die Halle hatte ein großes Ausgangstor, für Kutschen oder Karren, und daneben einen kleinen Ausgang für Personen, der offen stand. Licht wurde einerseits durch Fenster, die rundherum im Gebäude waren, andererseits durch einige Fackeln in die Halle gebracht.
Lora stieg so leise wie sie konnte die Leiter auf die obere Ebene herunter. Von dort führte eine weitere Leiter wenige Schritte weiter bis auf den Boden. Finn folgte ihr, nicht ganz so lautlos, aber dennoch so leise, dass sie nicht von den Arbeitern bemerkt wurden. Leise schlichen die Beiden durch die Halle. Sie hatten die Tür fast erreicht, als Finn gegen etwas stieß. Auf dem Boden war eine kleine Kiste, die er im schwachen Licht nicht gesehen hatte. Finn versuchte sich noch irgendwo festzuhalten, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Schmerzhaft spürte er sein Knie über den Grund rutschen und schrie vor Schmerz auf. Sofort erinnerte er sich an ihre aktuelle Lage und versuchte den Ruf zu unterdrücken, aber da war es schon zu spät. Die Männer drehten sich von dem Schrei aufmerksam gemacht um und kamen auf Lora und Finn zu.
„Hey, wer ist da?“ rief einer und leuchtete mit einer Fackel in die Richtung der Beiden. Lora reagierte schnell. Dieser Tollpatsch, fast wären sie draußen gewesen. Sie packte Finn am Arm und zog ihn hoch.
„Los, mir nach“, rief sie und rannte mit Finn im Schlepptau durch die Tür auf den Platz des Hafenmarktes.
Sofort kam ihnen wieder der Gestank von Fisch entgegen, eines der Haupthandelsgüter des Marktes. Sonst wurden Waren wie Netze, Seile und Taue aber auch Handelsgüter, die über die Gronde nach Tjemin gebracht wurden, hier feilgeboten. Auf dem Marktplatz war eine ziemlich große Menschenmenge unterwegs. Nur früh am Morgen war es noch voller, aber das reifte Lora und Finn jetzt zum Vorteil. Sofort tauchten die beiden in der Menge unter, die Arbeiter von der Lagerhalle hatten offensichtlich kein gesteigertes Interesse daran, den Beiden zu folgen. Von ihren anderen Verfolgern konnten sie nichts sehen. Lora wusste recht genau, wo sie hin wollte. Von dem Platz führten mehrere Straßen. Sie lief Richtung Westen, dort wo die Straßen in die obere Stadt führten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Finn eher dorthin gehörte als hier unten in den Hafen oder gar ins Gerberviertel.
Lora schaffte es ohne weitere Probleme Finn von dem Platz zu führen. Sie kamen in die größere Gasse, die vom Markt weg führte und Lora bog in die nächste kleinere Gasse ein. Dort blieb sie recht plötzlich stehen und drehte sich zu Finn um.
„So, und jetzt erzählst du mir mal erstens, wer du bist, zweitens, was du dort unten im Hafen gemacht hast, drittens, wie du dir solchen Ärger eingehandelt hast und viertens, wo du jetzt hingehörst.“
Lora hatte mittlerweile einen leicht zornigen Unterton. Sie mochte es nicht wirklich, quer durch das Hafenviertel von Tjemin vor irgendwelchen dunklen Gestalten davon zu laufen. Genauso wenig mochte sie es eigentlich, irgendwelchen Gestalten bekannt zu sein, die vielleicht noch öfter in dem Gebiet, in dem sie wohnte, herumliefen. Und was sie am allerwenigsten mochte war, irgendwelchen Fremden zu helfen, von denen sie nicht mal wusste, wer sie waren, was sie wollten und wieso sie Ärger hatten. Innerlich fragte sie sich noch immer, wieso sie das eigentlich getan hatte, aber glücklicherweise war ja alles gut gelaufen.
Finn wollte gerade ansetzten zu antworten als die beiden eine dunkle, gehässige Stimme hörten.
„Na ihr beiden Turteltäubchen, da haben wir euch endlich.“ Lora schaute die Straße entlang. Verdammt, sie hatte gerade so sehr auf Finn geachtet, dass sie ihre Verfolger gar nicht gesehen hatte. Einer war auf der einen Seite und die anderen beiden auf der anderen, wobei der eine immer noch ein bisschen wankte. Seine Haare waren durch das Blut verklebt. Er war deutlich schlecht gelaunt und hatte offensichtlich mit Lora noch ein Hühnchen zu rupfen.
„Irgendwelche Pläne?“, fragte Finn Lora, die ihre Umgebung möglichst genau musterte, aber ihre Situation war offensichtlich ziemlich mies. Die Wände der Häuser zwischen denen sie standen waren zu hoch, um hoch zu klettern. Zwischen ihnen und den Gestalten waren auch keine Türen mehr, in die man fliehen konnte. Die einzige Möglichkeit wäre zu versuchen an dem einzelnen Mann vorbei zu laufen. Aber sein Knüppel würde mindestens einen von ihnen erwischen.
„Sieht ziemlich schlecht aus“, antwortete sie nur. Verdammt, dachte sie sich wieder, wieso hatte sie sich auf diesen Mist eingelassen. Mehrere Jahre die Straßen von Tjemin überlebt. Würde das jetzt enden, nur weil sie einem kleinen adeligen Schnösel geholfen hatte? Das war wirklich nicht fair.
„Verschwindet, ihr Pack, wenn euch etwas an eurem Leben liegt“, hallte eine tiefe Stimme durch die Gasse. Die beiden Kerle drehten sich um und sahen einen Mann in der Straße stehen. Der offensichtliche Anführer wollte gerade dem Fremden entgegnen, als er diesen sah, was ihm die Stimme verschlug. Der Neuankömmling war etwa Anfang Dreißig, ein Schritt und Achtzig groß und wirklich furchteinflößend, besonders für solch dunkle Gestalten, die nicht wirklich auf der Seite von Recht und Gesetz standen. Eine hässliche Narbe zeichnete sein Gesicht, der obere Teil des linken Ohres war abgeschlagen. Seine Kleidung zeigte die edle Herkunft des Mannes. Ebenso wie Finn trug er einen wattierten Wappenrock und eine Hose, beide waren dunkelgrün. An den Füßen trug er schwere, braune Schnabelstiefel. Sein brauner Gürtel war nicht ganz so reich verziert wie der des Jungen. Auf den Schultern trug er eine weiß-grüne Kapuze. Auf dem Wappenrock war ein Wappen gezeichnet, was den des Mannes von Finns unterschied. Das Wappen war vertikal weiß-grün geteilt. In der Mitte war ein Baum, der auch mittig getrennt wurde und in der entsprechend anderen Farbe als der Hintergrund war. Darunter waren zwei Lilien in grün und weiß auf dem jeweils anderen Hintergrund. Doch am eindrucksvollsten war das Schwert, das der Mann am Gürtel trug. Die Waffe befand sich in einer silbernen Scheide, die mit grünen Edelsteinen verziert war, die ein Kenner als Diopside erkennen würde. Im Knauf des Schwertes war ebenso ein solcher Edelstein eingearbeitet. Solch verzierte Schwerter waren berühmt in Valorien, und auch wenn bei der einfachen Bevölkerung nicht alle bekannt waren, wusste man doch, dass es nur zehn Schwerter dieser Art gab. Und diese wurden von den Rittern Valoriens getragen. Ein ebensolcher stand in der Gasse und verhinderte, dass Lora und Finn von den Gestalten zu Brei geschlagen wurden.
Geron von Dämmertan ging langsam weiter in die Gasse auf seinen jungen Schützling zu. Um die finsteren Gestalten kümmerte er sich nicht weiter, sie waren es gar nicht wert die Waffe zu ziehen. Die drei Verfolger bemerkten auch schnell, dass hier jeglicher Widerstand hinfällig war. Die Ritter Valoriens galten zu Recht als die besten Kämpfer des Reiches, und mit zwei lausigen Holzknüppeln war hier nichts zu machen. Nachdem sie den Schock des Auftritts des Ritters verdaut hatten, drehten sie sich um und nahmen die Beine in die Hände. So plötzlich, wie sie in der Gasse erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.
„Nun, mein junger Knappe, ich glaube wir haben einige Worte zu reden, nicht wahr? Vielleicht kannst du mir mal erklären, was du hier machst, wieso du nicht an meiner Seite geblieben bist und wieso du keine Waffe trägst, wie es sich für dich als Knappe geziemt“, ging Geron auf Finn zu.
Er hatte sich noch keine entsprechende Strafe überlegt, irgendetwas würde ihm schon einfallen, da war er sich sicher. Er packte den Jungen an der Schulter und wollte mit ihm losgehen. Das kleine Bettlermädchen ignorierte er vollkommen.
„Wartet, Herr!“, wehrte sich Finn. „Mein Herr, darf ich Euch Lora vorstellen. Sie ist der Grund, wieso ich noch lebe. Sie hat mir geholfen, vor diesen Gestalten wegzurennen, und sie hat mich auch in einer Gasse gerettet. Ich meine, dafür sollte sie wenigstens belohnt werden, nicht wahr? Ihr habt mir doch immer beigebracht, dass Leistung belohnt werden muss, egal ob von einem Bauern oder einem Adeligen?“
Lora schaute etwas verwirrt zu dem Ritter, dann wieder zu Finn, dann wieder zu dem Ritter. Geron musterte das Mädchen und schien kurz zu überlegen.
„Halt, halt, halt“, unterbrach Lora die Gedanken von Geron. „Was geht hier eigentlich vor, wer seid Ihr, Euer Gnaden? Und wer bist du eigentlich, Finn?“
Geron blickte erneut ernst zu seinem Knappen. „Finn? Du nennst dich Finn? Ich verstehe es ja, wenn du nicht überall deine Herkunft mitteilen willst, so will ich das ja auch, aber du solltest dich trotzdem mit deinem richtigen Namen vorstellen. Und du solltest auch erwähnen, dass du mein Knappe bist. Wir haben wirklich ein Wörtchen miteinander zu reden.“
Finn schluckte schwer. Er senkte seinen Blick zum Boden. Dann wandte Geron seinen Blick zu Lora.
„Also, zu dir, junges Fräulein. Natürlich werde ich mir von meinem Knappen noch mal genau berichten lassen, was hier vorgefallen ist, aber anscheinend hast du dich wirklich verdient gemacht. Komm mit uns mit, dann möchte ich dir alles sagen und du wirst entsprechen belohnt werden. Und für jetzt, mein Name ist Geron von Dämmertan, Freiherr von Dämmertan und Ritter Valoriens.“
Dann packte Geron Finn wieder an der Schulter und lief in Richtung der besseren Viertel. Lora folgte den beiden wortlos.
Nach einigen Minuten Fußmarsch in den westlichen Teil der Stadt erreichten sie ein relativ gutes Gasthaus. Auf das Holzschild, das über der Tür hing, war ein Speichenrad aus Messing geschlagen. Darüber stand in ebensolchen Lettern der Name des Gasthauses „Zum goldenen Rad“. Das Fachwerkhaus hatte zwei Etagen und die drei passierten eine stabile Eichentür. Natürlich hätte der Herr von Dämmertan auch in der Residenz des Herzogs unterkommen können. Aber er bevorzugte es, in einem einfachen Gasthaus zu bleiben, um nicht so stark an die starren Protokolle eines Adelshofs gebunden zu sein. Außerdem sah er es auch als einen guten Teil der Ausbildung seines Knappens, ab und zu beim einfachen Volk zu sein, auch wenn die Gäste des „Goldenen Rads“ bestimmt nicht zum wirklich „einfachen“ Volk gehörten. In seinen vergangenen Reisen hatte Geron die Erfahrung gesammelt, dass man manchmal besser an einem dreckigen Wirtshaustisch als einer Adelstafel saß, um bestimmte Dinge in Erfahrung zu bringen oder zu erledigen.
Der Gastraum, den man betrat, war dem Haus entsprechend eingerichtet. Die Tische und Stühle waren offensichtlich von einem talentierten Schreiner angefertigt und hatten verschieden farbige Tischdecken. Der Gastraum bot einen Kamin mit einigen gemütlichen Sesseln davor, durch einen Durchgang sah man ein weiteres Kaminzimmer. Um diese Uhrzeit war fast nichts los, nur ein älteres Ehepaar, offensichtlich ehemals Kaufleute, saßen an einem Tisch und aßen Mittagessen. Der Wirt, der hinter dem Tresen stand, grüßte den Herrn mit seinen beiden Begleitern mit einer respektvollen Verbeugung. Geron ging ohne ihn weiter zu beachten die Treppe hoch und bis in den zweiten Stock. Am Ende des Treppenhauses waren nur zwei Türen. Der Ritter trat in den linken Raum. Er war geräumig eingerichtet und bot durch ein Fenster einen guten Blick über den Platz vor dem Gasthaus. Dazu gab es noch zwei Dachfenster. Zwischen den beiden Betten stand auf einem kleinen Tisch eine Waschschüssel. An einem Tisch am Fenster standen zwei normale Stühle und noch zwei Hocker.
„Setz dich, Lora!“, sagte Geron und zeigte auf einen der beiden Stühle. Nachdem sich das Mädchen niedergelassen hatte, setzte sich Geron gegenüber von ihr.
„Priovan“, rief er seinen Knappen her. „Geh herunter und lass dir vom Wirt einen Krug mit Wasser, einen Krug mit Milch und einen ordentliche Schüssel mit heißem Eintopf geben. Dann komm sofort wieder hoch.“ Der Knappe nickte kurz und zackig und war dann schon wieder aus der Tür verschwunden.
„Also, Lora, dann erzähl mir doch erstmal ein bisschen über dich und das, was vorhin vorgefallen ist. Danach werde ich dir gerne auch mehr Auskunft über mich und meinen Knappen geben.“
Lora hatte den Namen Priovan schon mal gehört, aber sie konnte ihn im Moment noch nicht wirklich zuordnen. Aber dem Ritter folgend würde sie es bestimmt bald erfahren.
„Nun, wie Ihr schon wisst, hoher Herr, ist mein Name Lora, genauer gesagt Eleonora. Über mich gibt es nicht wirklich viel zu erzählen. Ich wohne hier auf den Straßen von Tjemin. Meine Eltern sind schon lange tot, mein Vater kehrte aus dem Krieg nicht zurück, meine Mutter starb kurz darauf. Seitdem lebe ich eben in den Tag und versuche jeden Tag genug Essen zu bekommen, wenn es geht auch mal einen warmen Platz zum Schlafen.“ Der Ritter nickte und signalisierte Lora weiter zu erzählen.
„Heute war eigentlich ein ganz guter Tag und, hoher Herr, ich glaube, dass er gerade noch besser wird. Es war warm, ich hatte noch ein bisschen was zu Essen und der alte Xaver, ein örtlicher Bäcker, war auch nicht gerade knauserig, was ein bisschen Brot anging. Dann sah ich Euren Knappen, wie er durch die Gassen lief, verfolgt von diesen drei dunklen Gestalten, die Ihr ja auch noch gesehen habt.“
In diesem Moment kam Gerons Knappe gerade wieder durch die Tür. In der Hand hatte er ein Tablett mit den geforderten Sachen.
„Gut“, sagte Geron. „Dann iss erstmal etwas, danach kannst du weitererzählen.“
Priovan stellte die Schüssel mit der heißen Suppe vor Lora ab. Dann holte er aus einer Kiste zwei Kelche und stellte sie ebenfalls vor Lora und seinem Herrn ab. Loras Kelch schenkte er mit Milch voll, den seines Herrn mit Wasser. Lora schaute, ob sich Priovan setzen würde, aber er stellte sich ohne weitere Worte direkt hinter seinen Herren, der sich aber sofort wieder an ihn wandte:
„Priovan, nimm dir einen Hocker und repariere dein Kettenhemd weiter. Es war noch etwas kaputt. Denke dabei nach, was dir die Tugenden Gehorsam, Treue und Demut bedeuten und berichte mir das dann danach.“
Nachdem Lora bemerkte, dass sich Finn, beziehungsweise Priovan, nicht zu ihnen setzen würde, begann sie dann doch mit dem Essen. Geron nahm ruhig einen Schluck aus seinem Kelch.
Den ersten Löffel nahm Lora noch sehr zivilisiert, aber dann überkam sie ihr Hunger. Sie begann den Rest des Eintopfs geradezu in sich herein zu schaufeln. Es schmeckte wirklich köstlich. Sie hatte schon lange nichts mehr so schön Warmes gegessen und sie erinnerte sich nicht daran, jemals so etwas Köstliches gegessen zu haben. Im Eintopf waren nicht nur verschiedene Sorten von Gemüse, von frischem Gemüse, sondern auch wirklich große Brocken Fleisch. Dazu war der Eintopf mit verschiedenen Kräutern und Gewürzen verfeinert. Es schmeckte wirklich einfach köstlich. Als sie halb fertig gegessen hatte schaute sie zu Finn hinüber. Der Arme tat ihr ein bisschen leid. Während sie hier essen durfte, musste er sein Kettenhemd flicken, was offensichtlich eine recht anstrengende Arbeit war. Ihr kam gerade kurz der Gedanke, dass sie wohl lieber mit ihm zusammen essen wollte, aber dann überkam sie wieder der köstliche Geschmack dieser Suppe. Nicht nur das Essen war gut, sie hatte auch sonst ein gutes Gefühl in der Gesellschaft des Herrn Ritter und Finn. Dann nahm sie noch einen kräftigen Schluck Milch, ein Getränk, das sie bisher auch sehr selten genossen hatte. Es schmeckte auch sehr angenehm, leicht süßlich und dennoch schön frisch. Das Ganze war wirklich ein Festmahl.
Nachdem sie den letzten Löffel des Eintopfs gegessen hatte lehnte sie sich erstmal kurz zurück. Die Schüssel war wirklich größer gewesen, als sie eigentlich ausgesehen hatte. Lora war seit langem nicht mehr so schön satt gewesen.
„Vielen Dank, hoher Herr, für das Essen“, bedankte sich Lora höflich bei dem Ritter. „Soll ich weiter erzählen?“, fragte sie dann Geron, der dies mit einem Nicken bestätigte.
„Ja, bitte fahr fort, junges Fräulein.“
„Also gut, ich sah also Finn, äh, ich meine Priovan um die Ecke kommen und ein Mann folgte ihm. Zu dieser Zeit sah ich noch nicht, dass er offensichtlich von guter Herkunft war. Jedoch erkannte ich, wie Finn direkt in eine Sackgasse lief.“
Lora fiel es jetzt gar nicht mehr auf, dass sie immer noch den Namen nannte, mit dem sich Priovan ihr vorgestellt hatte.
„Ich überlegte kurz, ob ich mich in so was überhaupt hinein ziehen lassen sollte, entschied mich dann aber dafür, Finn zu helfen. Immerhin hätte ihn dieser Mann wohl sonst getötet. Ich zog dem finsteren Gesellen also eins mit einem Holzbrett über und half Finn dann bei der Flucht. Wir stiegen erstmal auf die Dächer und liefen dann Richtung Hafenmarkt. Dort gingen wir durch ein Lagerhaus, über den Markt und dann in die Gasse, in der Ihr uns dann gefunden habt. Von dort an kennt Ihr die Geschichte ja.“
Geron lächelte. „Vielen Dank. Priovan, kannst du diese Geschichte bestätigen?“, fragte er dann seinen Knappen, der von seiner Arbeit aufsah.
„Ja, Herr, es entspricht alles der Wahrheit.“
„Gut, Priovan, komm hierher“, sagte er dann weiter.
Dieser stand auf und stellte sich hinter seinen Herrn.
„Setz dich!“, befahl er seinem Knappen und zeigte auf einen Hocker. Dieser tat wie ihm befohlen wurde und setzte sich zu Lora und Geron an den Tisch. „Und nun, junger Knappe, berichte uns doch Mal, wie du in die Situation gekommen bist, dass dir überhaupt geholfen werden muss.“
Priovan schluckte.
„Nun, Herr, ich flüchtete, wie Ihr bereits bemerkt habt, heute Morgen aus dem Gasthof. Ich wollte einfach mal etwas erleben, wollte sehen, wie das wirklich einfache Volk lebte. Ihr betont doch immer, dass man seine Untergebenen auch verstehen muss, um sie zu beherrschen. Und indem ich immer nur bei Euch herumsitze oder von Adelshof zu Adelshof ziehe, werde ich das Volk bestimmt nicht verstehen. Also lief ich ein bisschen durch den Hafen herum, hörte mich hier und dort um. Und dann kam ich in diesen einen Hinterhof. Diese Drei hatten mich noch nicht bemerkt, als ich eine Unterredung hörte. Die Gestalten unterhielten sich über eine Aufgabe, die sie hatten. Sie wollten eine Kutsche überfallen, die von Tjemin nach Andtweil fahren soll. Diese soll in zwei Tagen losfahren. Als sie merkten, dass ich sie belauschte, versuchten sie mich zu töten. Ich floh durch die Gassen. Den Rest der Geschichte habt Ihr ja bereits gehört.“
Dann machte sich eine unangenehme Stille in dem Raum breit. Lora schaute zu dem Herrn von Dämmertan, ebenso wie Priovan. Beide warteten darauf, was der Ritter nun etwas sagen würde, aber er schwieg erstmal. Er nahm einen weiteren Schluck aus seinem Kelch. Und er schwieg. Er nahm noch einen Schluck Wasser. Und er schwieg immer noch. Dann leerte er den Kelch endgültig und hob ihn erneut hoch. Priovan stand auf und durchbrach so die Stille in dem Raum, als sein Hocker über den Boden rückte. Er nahm den Krug mit Wasser und schenkte den Becher erneut voll.
„Geh an deine Arbeit zurück!“, befahl Geron seinem Knappen. Sein Ton war nicht mehr ganz so zackig wie vor einigen Jahren, dafür hatte seine Stimme weiter an Tiefe gewonnen. Dann wandte sich der Ritter erneut an Lora.
„Also mein Mädchen, wie ich bereits gesagt habe wollte ich erstmal die Geschichte des heutigen Tages und ein bisschen über dich hören. Jetzt aber möchte ich dir erzählen, wen du da überhaupt gerettet hast. Wie ich bereits gesagt habe, bin ich ein Ritter Valoriens, zudem Freiherr von Dämmertan, sagt dir das etwas?“
Lora nickte. Sie kannte die Landschaft, die man Dämmertan nannte, auch wenn sie selbst noch nie dort gewesen war. Es war den Erzählungen nach eine düstere und verlassene Gegend, wo sich ein tiefer und dunkler Wald über eine große Fläche erstreckte. Dort lebten nicht viele Menschen, so viel wusste sie, und von jedem der dort einmal gewesen war hatte sie nur gehört, dass sie Dämmertan wenn möglich meiden sollte. Dämmertan lag, soweit sie es wusste, an der anderen Seite der Gronde, und gehörte somit schon zu dem Land der Krone, also zu keinem der drei Herzogtümer.
„Dies ist seit einigen Jahren mein Knappe. Sein Name ist Priovan Finneas, aus seinem zweiten Namen leitet er auch seinen Spitznamen Finn ab. Sein kompletter Name lautet Priovan I. Finneas von Valorien, König von Valorien. Du hast eben dem König von Valorien das Leben gerettet. Ich hoffe, dir ist bewusst, was du getan hast.“
Lora machte wirklich große Augen. Sie schaute überrascht zu Finn, der zu ihr aufschaute und nur nickte. Lora konnte es wirklich nicht fassen. Sie hatte den König von Valorien gerettet? Jetzt wusste sie natürlich auch wieder, woher sie den Namen Priovan kannte. Sie interessierte sich sonst nicht so für die Namen der hohen Adeligen, deswegen war ihr das noch nicht sofort aufgefallen. Aber jetzt kam es wieder. Natürlich hatte sie schon oft von dem König gehört, der selbst noch ein Kind war. Sein Vater war in dem letzten Krieg mit Kargat gefallen, und danach war er der einzige Erbe gewesen. Das sie aber diesem König selbst das Leben gerettet hatte, das wurde ihr langsam erst klar.
„Nun, das, äh, ist doch sehr erfreulich, oder?“ stammelte sie noch etwas unsicher, was Geron von Dämmertan zum Lachen brachte. Irgendwie sah der Ritter nicht wie jemand aus, der oft lachte, umso überraschter war Lora, als dies doch geschah. Auch Finn wirkte deutlich überrascht.
„Ja, das ist in der Tat wirklich erfreulich. Und du sollst auch entsprechend belohnt werden. Ich werde nachher mit Priovan zum Schloss gehen und dort Herzog Richard von Fendron sprechen. Du hast dem König das Leben gerettet, und das soll entsprechend belohnt werden. Priovan“, sagte er und Priovan stand auf und stellte sich neben seinen Herren.
„Was schlägst du als Belohnung vor?“ fragte Geron seinen Knappen.
„Nun, mein Herr, wieso lasst Ihr nicht Lora einfach selbst eine Belohnung auswählen. Gewährt ihr doch einen Wunsch für des Königs Leben.“
Geron nickte. „Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee. Also Lora, du hast es gehört. Äußere einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann, und glaub mir, ich kann vieles bewerkstelligen. Bedenke den Wunsch gut. Wenn du noch Zeit brauchst, können wir uns auch nachher wieder sehen.“
Lora dachte nach. Das Ganze hier überrumpelte sie doch ein bisschen. Es hatte alles damit angefangen, dass sie einfach nur nett und hilfsbereit sein wollte und auch nichts für finstere Gestalten übrig hatte, und jetzt hatte sie das Leben des Königs gerettet und sollte dafür einen Wunsch bekommen. Sie konnte endlich das klägliche Leben der Straßen von Tjemin hinter sich lassen. Sie könnte sich Gold wünschen. Viel Gold. Aber das war irgendwie zu einfach. Oder sie konnte sich ein großes Haus wünschen, in dem sie wohnen konnte. Aber irgendwie gefiel ihr das alles nicht. Immerhin hatte sie einen königlichen Wunsch frei. All diese Gedanken zauberten anstatt des überraschten Blickes ein breites Lächeln auf ihre Lippen. Dann hatte sie eine Idee. Eine wirklich gute Idee. Ein Idee, die bestimmt auch Gefahren bringen würde, aber sie würde ihr Leben für immer ändern, und Lora hatte sich schon oft danach gesehnt, Abenteuer zu erleben. Sie hatte oft davon geträumt, eine große Heldin zu sein, wie die Helden der Geschichten, die man sich in Valorien erzählte. Von einer Heldin hatte sie sowieso, soweit sie wusste, noch nichts gehört. Das war ja langsam wirklich Zeit. Es war bestimmt ein sonderbarer, ein waghalsiger Wunsch. Aber Loras Entscheidung stand fest.
„Nein, Herr von Dämmertan, Finn, ich brauche keine weitere Bedenkzeit. Ich habe mich bereits entschieden, was der eine Wunsch sein soll. Nehmt mich mit, auf Euren Reisen. Ich möchte mit euch Abenteuer erleben, ich möchte hohe Herren und Damen kennen lernen. Ich möchte die großen Städte Valoriens kennen lernen, und ich möchte einfach hier raus.“
Geron lehnte sich zurück. Er schaute zu Priovan, der über das ganze Gesicht lächelte. Irgendwie freute er sich schon auf die Gesellschaft von Lora. Der alte Herr von Dämmertan war teilweise doch etwas, nun ja, griesgrämig. Und da war so eine fröhliche Seele wie Lora wirklich eine gute Ergänzung.
„Nun, mein Herr, Wunsch ist Wunsch, nicht wahr?“, fragte Priovan seinen Herren, der nur nickte.
„In Ordnung, Eleonora, dann wirst du uns auf unserer Reise begleiten. Wir werden dir nachher etwas Ordentliches zum Anziehen besorgen und dann wirst du uns zu Herzog Richard begleiten. Aber merk dir eines, junges Fräulein, wenn du mit mir reist wirst du auf jeden meiner Befehle hören, ohne jegliche Nachfragen. Das ist vorerst das Wichtigste, alles Weitere wird sich dann schon klären. Ist das klar? Willst du immer noch mit?“
„Ja, mein Herr, dies ist mein Wunsch.“, antwortete Lora.
„Gut, dann soll es so sein. Dann sollst du, Eleonora, von nun an meinem Gefolge angehören.“