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Totensonntag Totensonntag
ОглавлениеEisige Polarluft kam unruhig wirbelnd aus Nordwest und versorgte die Leipziger Tieflandsbucht mit klirrender Kälte weit unter dem Gefrierpunkt. Die niedrig stehende, weißgelb glühende Novembersonne sendete bereits unverdrossen ihr glanzvolles Licht vom klaren, blauen Himmel auf die Welt zu ihren Füßen und verwandelte den morgendlichen Frost, der wie eine zweite Haut auf sämtlichen Oberflächen haftete, in ein fein glitzerndes Meer aus abermilliarden kleinster Eiskristalle. Die Landschaft - wie verzaubert. Ein märchenhafter, vorwinterlicher Traum! Eine sonntägliche Morgenidylle, schwerlich zu überbieten. In weiter Ferne glitten flache Nebelschwaden geisterhaft über die brach liegenden Felder dahin. Friedlich, in fast himmlische Ruhe gebettet, schlummerten die hübschen Einfamilienhäuser und prachtvollen Villen, in modernen Baustilen errichtet, der achten Stunde des neuen Tages entgegen. Vereinzelt quollen helle Rauchwolken aus den Schornsteinen, die sich schnell tanzend mit dem lebhaften Wind vereinten und kurz darauf für immer verschwanden. Die sauber und exakt angelegten Straßen und Wege waren leer gefegt vom bunten Treiben der Menschen und Tiere. Der kleine, künstlich angelegte Bach jenseits der Fahrbahn, dessen klares Wasser in den wärmeren Monaten berauschend dahin sprudelte, zeigte eine stille, unregelmäßig gefrorene Natur. Ein Genuss für morgendliche Spaziergänger und begeisterte Hobbyfotografen. Inmitten dieser stillen und malerischen Vorstadt-Pracht rollte gemächlich eine dunkelblaue Limousine mit ringsum getönten Scheiben von einer Hausnummer zur nächsten. Unter den breiten Reifen knirschte es mit leiser und angenehmer Kontinuität. Der Auspuff röhrte dunkel und sanft, als wolle er den Fahrer in den Schlaf wiegen.
„18 … 20, 22 … 24. Dort ist es! Am neuen Grund 24. Das gelbe Eingeschossige mit dem dunklen Dach und der gleichartigen Garage“, informierte Constanze ihren Chauffeur pro forma, der gleich darauf und ohne Widerspruch einzulegen auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite zwischen zwei mit Frost überzogenen Fahrzeugen problemlos, den linken Handballen gegen das Lenkrad gepresst, rückwärts einparkte. Und auch das eingebaute Navigationsgerät meinte überdeutlich, dass sie ihren Bestimmungsort erreicht hätten. Der Fahrer nahm den Gang raus, den rechten Fuß vom Brems- und den linken Fuß vom Kupplungspedal. Die Handbremse ratschte mit einem kräftigen Zug nach oben. Der Verbrennungsmotor schaltete sich damit automatisch ab und das Motorengeräusch des modernen Benziners erstarb. Die Scheinwerfer erloschen. Mit einem leichten Touch auf das Multifunktionsdisplay des Radio-Navigationssystems in der Mittelkonsole, welches unter anderem wichtige Funktionen des Wagens in einer Übersicht darstellte, nahm die Standheizung ihre Arbeit auf. Auf diese Weise konnte die angenehm wohlige Wärme im Innenraum des Fahrzeuges beibehalten werden. Zudem verhinderte sie das Beschlagen der Scheiben, denn die Insassen benötigten unbedingt freie Sicht auf das umliegende, bebaute Gelände. Nichts sollte ihre Blicke behindern. Absolut gar nichts!
„Da haben wir unsere Mandantin schneller gefunden, als es ihr lieb sein wird. Die Arme! Was für ein ausgesprochenes Glück für uns. So sollte es uns wirklich öfter ergehen.“
Seine Beifahrerin holte zügig eine Pistole aus dem Schulterholster unter ihrer hellbraunen Wildlederjacke hervor, um sie zum zweiten Mal auf Funktionalität zu überprüfen. Dabei achtete sie darauf, dies unterhalb der Seiten- und Frontscheibe zu tun, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen, falls zufällig Passanten vorbeischlenderten. Man konnte ja nie wissen. Manche Menschen störte die Kälte absolut nicht. „Hoffentlich macht sie uns keine Probleme. Darauf kann ich heute – zum Sonntag – wirklich ungemein gerne verzichten“, meinte sie mit geschäftsmäßigem, kühlem Ton, seufzte missgelaunt und schob das mit 13 Patronen gefüllte Stangenmagazin mit der Handkante zurück in den faserverstärkten Kunststoffgriff. „Das ausgerechnet uns immer die unliebsamen Aufträge aufgehalst werden, scheint ja von Anfang an unser Schicksal gewesen zu sein. Wofür hält er uns eigentlich? Allmählich habe ich von diesen Sondereinsätzen die Nase voll. Hast du eigentlich schon mal deine Mehr- und Überstunden zusammen-gerechnet? Zum Monatsende werden es bei mir …“
Michael hörte nur mit einem Ohr hin – mal abgesehen davon, dass ihre Stimme wie das sanfte Plätschern eines Waldbaches im Sommer klang, dass ihn jedes Mal berauschte, egal, über welches Thema sie sprach und völlig unabhängig von ihrer emotionalen Tonlage. Stattdessen schaute er seine Beifahrerin mit den blond gefärbten, kurzen Haaren mehr als interessiert an. Seine kastanienbraunen Augen saugten jeden Zentimeter und jede Bewegung ihres Körpers auf wie zwei ausgetrocknete Schwämme, die sich, nach einer viel zu langen Trockenperiode, nach Wasser sehnten. Ein Moment von unschätzbarem Wert, wie ihm bewusst wurde. „Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich es liebe, wenn du mit Waffen hantierst?“ durchbrach er ihren Redeschwall mit samtener und zugleich machtvoller Stimme. Wie ein süßer Glockenschlag um Mitternacht. Es lag ihm im Blut.
Seine Äußerung verfehlte ihr Ziel nicht. Um keinen Millimeter. Constanze wurde von der unerwarteten Formulierung in ihrem Wortfluss abrupt gebremst. „Äh, was? Was hast du gesagt?“ Sie erinnerte sie kurzfristig. „Du liebst es, wenn ich an meiner Waffe hantiere?“ Constanzes Verdutztheit spiegelte sich einwandfrei in ihrer Mimik wider. Ihre scharf funkelnden, blaugrauen Augen schienen ihm förmlich entgegen zu springen, ihr Puls beschleunigte sich von selbst und ein zartes Rosarot legte sich wie ein hauchdünner Schleier über ihre Wangen. Für einen Moment hielt sie die Luft an, um seinen Satz gedanklich zu verarbeiten. Dann steckte sie mehr als eilig die Dienstwaffe zurück an ihren Platz. Mit fast sachlicher Kühle, aus dem der Spott förmlich schrie, erwiderte sie: „Ist ja höchst interessant, aus welchem Blickwinkel du mich heute betrachtest.“ Die Situation war ihr irgendwie unangenehm. Vielleicht auch deswegen, weil sie diese Aussage – dieses Kompliment – niemals erwartet hatte? Seine Lobgesänge zielten eher auf ihr Erscheinungsbild und ihr Auftreten. Ihre Intelligenz. Ihr … ihr bezauberndes Wesen, wie er es häufig nannte. Es war ihr Job, täglich mit einer Waffe zu arbeiten. Sie war ihr ständiger Begleiter. Normalität eben. Aber bei Michael musste man jeden Tag auf alles gefasst sein. Sonst wäre er kein halber Italiener. Heißes, italienisches Blut. Mütterlicherseits. Die heutige Bemerkung galt unbestreitbar als bisheriger Höhepunkt seiner Kommentare ihr gegenüber. Sollte sie darauf vielleicht sogar stolz sein? Gemischte Gefühle füllten unsicher ihr Innerstes.
„Was ist? Mit der Waffe in der Hand siehst du unglaublich sexy aus. Hat dir das, außer mir, noch keiner gesagt?“ Er spielte den Entsetzten, obwohl die Worte wie ein schmeichelnder Fluss über seine Lippen glitten.
„Ach, Michael, hör auf damit! Du machst mich ganz verrückt!“ ermahnte sie ihn verhalten vorwurfsvoll und gab ihrem Partner mit der südländischen Ausstrahlung mit der rechten Faust einen freundschaftlichen Puff in den Oberarm. „Und schau mich dabei nicht wieder wie eines dieser süßen Hundewelpen an, denen ich sowieso nicht widerstehen kann.“ Zugegeben, sie hatte das eine oder andere Mal in heißen Dessous – die sie sich extra dafür gekauft hatte – und ihrer Pistole inklusive Waffengurt vor dem breiten Spiegel ihres Kleiderschrankes posiert, um zu sehen, ob dieser Anblick auf Männer möglicherweise tatsächlich anziehend wirkt, was sie auch subjektiv und wohlwollend bestätigte. Ein Kick für ihr Ego. Vor allem ihre fein geformten Muskeln, die sie regelmäßig im Fitnessstudio und beim Qwan Ki Do trainierte, rundeten die sexuell erregende Erscheinung hervorragend ab. Sie besaß in der Tat einen sehr sportlich geformten Körper mit einer angemessenen Oberweite. Einfach ideal! Andere Frauen würden bei ihren wohlgeformten Linien womöglich vor Neid platzen. Pah, nicht ihr Problem. Mit der Zeit gefiel es ihr so gut, dass sie darüber nachdachte, in einem professionellen Fotostudio ein paar aufregende Aufnahmen von sich machen zu lassen. Dafür stand ein Termin im Dezember fest. Aber Michael musste ja nicht alles wissen. Ein paar Geheimnisse sollte Frau schließlich für sich behalten. Entweder bis zum Lebensende – was in diesem Fall äußerst schade wäre – oder um den geliebten Partner eines schönen Tages außerordentlich zu überraschen. Hmm …
„Wau wau.“ Er setzte die betörendste Mimik auf, die er als Mann im Repertoire hatte und legte den Kopf etwas schief. Einfach unwiderstehlich.
Ihr Herzmuskel pumpte noch schneller das mit aufgeputschten Reizen angefüllte Blut in ihren Körper. Die liebliche Röte auf ihren Wangen verschwand nicht. Unmöglich, dass diese Reaktion von der Wärme im Wagen stammte. „Michael, du treibst mich in den Wahnsinn damit. Hör auf!“ ermahnte sie ihn mit einem schmalen Schmunzeln, das sie kaum zu unterdrücken vermochte. Hach …. Sie konnte diesem Mann einfach nicht widerstehen. Das konnte sie, wenn sie all die Jahre zurückdachte, noch nie. Er war einfach zum Anbeißen. Wie ein süßer Mann aus Vollmilchschokolade. Sie hingegen bestand nur noch aus dahinschmelzender Sahne. Eine perfekte Kombination. Seine Anziehungskraft schien in ihren Augen um ein Mehrfaches stärker als das Magnetfeld der Erde.
„In den Liebeswahnsinn, Schätzchen. Das ist ja auch der Sinn der ganzen Sache …“ Spitzbübisch schmunzelnd, mit unergründlich dunklen, nach liebevoller Zweisamkeit fiebernden Augen, rutschte er ein Stück zu ihr hin. Wenn nur nicht die breite Mittelkonsole mit der Armlehne im Weg wäre … „Warum sollte ich mir sonst solche Mühe geben?“ Charmant zog er den rechten Mundwinkel und die rechte Augenbraue nach oben.
Constanze wurde noch unruhiger. Ihr Puls raste ungestüm als außer Kontrolle geratener Tornado durch ihre elastischen Adern. Ihre Haut prickelte an jeder erdenklichen Stelle. Michael verstand es perfekt, sie zu verführen. Dann griff sie urplötzlich zu. Kräftig packte sie ihn an seiner schwarzen, textilen Winterjacke und zog ihn so dicht an sich ran, dass sich ihre Nasen fast berührten. „Los, küss mich, ehe ich den Verstand vollständig verliere!“ forderte sie sehr dominant, keine Widerrede duldend. Die Lust, den stoppelbärtigen Michael zu vernaschen, durchströmte schon die ganze Zeit kribbelnd ihren gesamten Körper. Als würde feinkörniger Sand durch sie hindurch rieseln. Tauchte jede Zelle in eine alles verbrennende Glut. Auch deswegen, weil er eine unüberschaubare Anzahl an wohlduftenden Pheromonen ausschüttete, die sie hingebungsvoll, mit geschlossenen Augen inhalierte, als wäre es lebenserhaltende Medizin. Doch ehe sich ihre Lippen trafen, flüsterte Michael mit gewolltem Ernst: „Constanze, wenn uns jemand sieht. Vergiss nicht, wir haben einen Job zu erledigen!“ Connys Gesichtszüge erstarrten. Für zwei Sekunden hielt sie die Luft an, um den Schock zu verdauen. Und der Kuss? Der erstickte sofort im Keim. Ihre Blutgefäße schienen sich mit einem Mal allesamt zusammen zu ziehen. Die Nerven, die eben noch unter einer gefährlichen Hochspannung standen, erschlafften, als wären diese aus weichem Gummi oder so. „Spielverderber!“ flüsterte sie grimmig, mit halb zusammengekniffenen, wütenden Augen, und ließ seine Jacke beleidigt los. „Ich hasse es, wenn du das tust!“ Frustriert kreierte sie mit ihren von Natur aus eindrucksvoll schön geformten Lippen einen Schmollmund. „Und ich hasse es, wenn du recht hast.“ Die angestauten Hochgefühle zerstreuten sich umgehend in alle Richtungen. Sie fühlte, wie die Hitze rasant aus ihrem Kopf wich und der alltäglichen Einstellung Platz machte.
„Ich weiß“, grinste Michael, ohne ein Bedauern in seiner Stimme erkennen zu lassen. Lässig lehnte er sich auf seinem Sitz zurück. Nach einer kurzen Pause fügte er ziemlich sachlich hinzu. „Lass uns an die Arbeit gehen. Je eher wir die Sache hinter uns gebracht haben, desto besser. Meine Eltern werden es hassen, wenn ich heute Abend – wieder einmal – zu spät zu ihrem abendlichen Dinner käme. Oder gar nicht erst auftauche. Du weißt ja, wie sie sind.“ Er schweifte unbeabsichtigt von der eigentlichen Sache – ihrem Job – ab.
„Ja“, seufzte seine Partnerin und kuschelte sich mit vor der Brust verschränkten Armen in ihren Sitz, während ihre Augen akribisch die vor ihnen liegende Straße mit den daran aufgereihten Häusern genaustens inspizierten. „Sie zeigen nicht unbedingt viel Verständnis für deinen zeitaufwendigen und gefährlichen Job.“
„Weil sie es lieber sähen, wenn ich eines Tages die Firma übernehmen würde. Mein Vater wird im Januar nächsten Jahres 69 Jahre. Er will sich endlich zur Ruhe setzen und seine Weltreisepläne per Schiff in die Tat umsetzen, so lange er noch fit dafür ist. Und meine Mutter schafft es krankheitsbedingt nicht, die Leitung zu übernehmen. Es tut mir ja leid für meine Eltern, dass ich nicht in ihre Fußstapfen trete. Ich liebe meinen jetzigen Beruf zu sehr, um ihn aufzugeben. Schon als Kind wollte ich immer nur Polizist werden. Meine Eltern konnten diese Neigung damals wie heute nicht verstehen. Ich habe nun mal nicht das Verlangen täglich mit Schlips und Kragen stocksteif hinterm Schreibtisch zu hocken und mit irgendwelchen in- und ausländischen Geschäftsleuten ellenlange Verhandlungen und Diskussionen zu führen, bis mir der Kopf raucht. Ich denke nicht, dass ich dazu geschaffen bin. Und ich habe auch nicht die Absicht, mich überzeugen zu lassen. Auch nicht mit einem sechsstelligen Jahresverdienst. Das kannst du mir glauben.“
„Stattdessen bringst du unliebsame Leute zur Strecke. Was bist du nur für ein Sohn. Deinen Eltern solche Sorgen zu bereiten.“ Sie spielte natürlich nur die Entrüstete.
„Ich liebe halt die täglichen Überraschungen, die die Polizeiarbeit eines Kriminalkommissars mit sich bringt“, versicherte er mit einem zufriedenen Lächeln.
„Und ich puzzle gern an kriminellen Stories.“
Beide mussten schmunzeln, obwohl Constanzes Gedanken unwillkürlich zu ihren Eltern sprangen, die väterlicherseits nun gar kein Verständnis für ihren Traumberuf zeigten. Seitdem sie ihren Eltern damals nach dem Abitur verkündet hatte, dass sie sich (heimlich) bei der Polizeischule angemeldet habe, sprach ihr Vater kein einziges Wort mehr mit ihr. Sie kam sich einerseits vor wie eine Verräterin an der Familie und andererseits total gedemütigt und missverstanden. Ihr Vater verstand es einfach nicht, den Wunsch der Tochter zu akzeptieren. Er wollte immer, dass sie einen wichtigen kaufmännischen Beruf, Managerin oder so erlernte, um viel Geld zu verdienen, was ihr Vater nie hatte. Einst in einem angesehenen Betrieb gearbeitet, wurde er entlassen und bekam nur noch einen Job als Reinigungskraft in seinem Alter. Die Wut an anderen auszulassen, war aber auch nicht gerade die beste Variante, aber wahrscheinlich die einfachste. Jedenfalls, kurz darauf zog sie in ihre eigenen vier Wände, um die non-verbale Aggressivität ihres Erzeugers nicht länger ertragen zu müssen, die sie sonst womöglich in ein depressives Elend gestürzt hätte. Warum er so reagierte, hatte sie bis heute nicht wirklich in Erfahrung bringen können. Ihre Mutter hingegen akzeptierte die Entscheidung Polizistin zu werden, auch wenn sie den Job für eine Frau viel zu gefährlich hielt. Sie sprachen oft über die Ausbildung und den Beruf im Eiscafé, auf der Parkbank oder bei einem gemütlichen Spaziergang, und Constanze beschwichtigte ihre Mutter häufig, dass für die ganz gefährlichen Einsätze immer noch das SEK und andere Spezialeinheiten zur Verfügung standen. Bis zum heutigen Tag führten sie eine angenehme Mutter-Tochter-Beziehung, bei der sie sich gegenseitig Respekt zollten, gleichermaßen über spontane, witzige Aussagen herzlich lachen konnten und hin und wieder, wenn beide die Zeit dazu hatten, vergnügliche Shopping-Touren in der Stadt unternahmen.
„Und du willst mich wirklich nicht begleiten?“ fragte Michael hoffnungsvoll. Er setzte noch einmal sein Welpengesicht auf, um seine Liebste zu überreden. Mit Constanze an seiner Seite gaben sich die Abende bei seinen Eltern immer etwas angenehmer und nicht allzu steif und prüde. Die Frau erfüllte die Herzen Michaels Eltern durch ihre pure Anwesenheit mit einem Hauch von Wärme. Das ließ auch sein Herz dahin schmelzen wie ein Klumpen Eis in der Sahara.
„Sorry, aber ich kann nicht. Ich habe meiner Tochter bereits seit drei Wochen versprochen, mit ihr heute Nachmittag ins Fitnessstudio zu gehen, damit wir uns wenigstens einmal im Monat sehen. Als Flugbegleiterin ist sie doch ständig unterwegs. In ein paar Stunden kommt sie aus Singapore zurück und morgen Abend fliegt sie schon wieder weiter nach Hong Kong. Die Gelegenheiten, eine anständige Mutter-Tochter-Beziehung zu führen sind echt rar. Deshalb muss ich jede Chance nutzen. - Eigentlich weißt du doch, wie es in meiner Familie ausschaut. Also löchere mich nicht mit unnötigen Fragen, klar!“
„Jaaa, schoon.“ Er dehnte die beiden Worte unnatürlich in die Länge. „Es ist trotzdem schade. Irgendwie gehöre ich doch auch zu deiner Familie, auch wenn es inoffiziell ist. Ich hatte so gehofft, dass du deine Meinung noch änderst.“ Er bettelte sie an, wie ein kleines Kind.
„Beim nächsten Mal. Versprochen. Ich kann den Termin mit meiner Tochter nicht absagen! Sie wäre unendlich traurig. Und ich würde mir deswegen tagelang Vorwürfe machen und Schuldgefühle einreden. Du hast mich jeden Tag an deiner Seite.“ Sie hasste es, privat Prioritäten setzen zu müssen. Aber dieses Mal hatte ihre Tochter aus erster und sehr kurzer Ehe – ihr Ehemann starb zwei Jahre nach der Geburt ihres Kindes an einem bösartigen Krebsleiden – absoluten Vorrang. Sie seufzte. Natürlich war ihr letzter, gemeinter Satz nicht mit der polizeilichen Partnerschaft zu vergleichen. Körperlich mussten Michael und Constanze einen gewissen Abstand wahren, sachlich bleiben, keine zu verliebten Blicke austauschen, um bei den Kollegen nicht als Pärchen aufzufallen. Professionell bleiben. Geistig und seelisch verband die beiden jedoch ein unzerreißbares Band der Liebe. Und das seit vielen Jahren.
Michael verstand die Angelegenheit auf sachlicher Ebene natürlich, wenn auch gefühlsmäßig mit echtem, tiefgehendem Widerwillen. Dennoch guckte er sie hartnäckig sehnsuchtsvoll bettelnd an, obwohl er wusste, dass sie ihm keine Chance mehr geben würde, weil sie einfach nur Recht hatte.
„Hör auf, Michael!“ Sie seufzte fast wehleidig und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die herrlich unrasierte Wange. „Komm!“ Sie schniefte vernehmbar. „Lass uns anfangen, ehe wir noch völlig vom Thema abweichen oder gar vergessen, warum wir überhaupt hier sind!“ Jedes ihrer Worte unterstrich sie mit einer guten Prise Autorität. Schließlich war sie die Dienstältere und zugleich Leiterin ihres Zweier-Teams.
„Ja, Chefin!“ knurrte ihr Partner.
Polizeikommissarin Constanze Müller griff in das große Fach der Seitentür und holte aus einer schwarzen Mappe eine sandfarbene Akte hervor, die sie auf ihrem Schoß ausbreitete. Polizeiakten verließen in der Regel niemals die Dienststelle, da die Verlustgefahr zu groß war. Doch ihr Chef hatte dieses Mal ein Einsehen, da die Zeit für die Vorbereitung auf den neuen Fall sehr knapp bemessen war, und weil es sich nicht wirklich um eine Polizeiakte handelte, denn die Person, über die der Bericht Auskunft gab, hatte in ihrem Leben noch keine Straftat begangen und war auch niemals Opfer einer solchen geworden. Es handelte sich also eher um eine ganz normale Informationssammlung, die in aller Eile zusammengestellt worden war. Die erste Seite füllte das A4-große Farbfoto einer attraktiven Frau im grauen Hosenanzug und einer unglaublich schönen, braunen Löwenmähne, die hastig über die Straße irgendeiner amerikanischen Großstadt zu ihrem Auto – einem feuerroten Porsche – eilte. Einige Kopien von Zeitungsartikeln in deutscher und englischer Sprache folgten. „Doktor Madeleine Kurz, 42 Jahre, ledig. Keine Kinder, keine Geschwister oder sonstige Angehörige. Und offensichtlich auch keine Freunde. Ihre Eltern – beides Wissenschaftler auf den Gebieten der historischen Anthropologie, Archäologie und Paläontologie – verschwanden vor zwölf Jahren bei einer Expedition in den peruanischen Anden. Sie kamen nie zurück“, begann sie und ihre Stimme klang jetzt rundherum sachlich. „Geboren und aufgewachsen ist sie in Leipzig, wo sie ebenfalls studierte und anschließend für zweieinhalb Jahre mit großem Erfolg für einen aufstrebenden, privaten Pharmaziekonzern namens M.O.R.E. – Neopharm in Sachsen tätig war. Von Beruf ist Doktor Kurz Biologin mit großen Ambitionen zur Biochemie, Mikrobiologie und Biogenetik. Sie wurde vor einigen Jahren zusammen mit zwei russischen Wissenschaftlern für den Nobelpreis in Medizin nominiert. Im letzten Jahr brachte sie sogar ein wissenschaftliches Buch mit dem Namen Discovery DNA heraus. Es ist in über zwanzig Ländern erschienen. Im Laufe ihrer Karriere außerhalb Deutschlands arbeitete sie bei verschiedenen Firmen, unter anderem in Russland und Japan; und zuletzt in den USA bei der international agierenden Messerschmidt-Hancock Unternehmensgruppe mit insgesamt rund 738.000 Mitarbeitern und einem gigantischen Jahresumsatz von 550 Milliarden US-Dollar, wenn man alle Tochtergesellschaften und Beteiligungen berücksichtigt. Von Babyspielzeug bis Hightech stellen die praktisch alles her. Wow, die Summe muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Oh man, da können wir mit unseren Mini-Ost-Gehältern nicht mithalten.“
„Steht in den Unterlagen, welcher Art von Aufgaben sie in den Vereinigten Staaten nachgeht? Also dort, bei dieser Unternehmensgruppe, die du gerade erwähntest.“
Constanze blätterte mit geschultem Blick die Dokumente durch. Ein nachdenklicher Summton begleitete ihr Tun, bis sie antwortete. „Nein, hier sind keine Angaben darüber zu finden.“
„Keine Angaben!“ Er legte flüchtig und unwillkürlich die Stirn in Falten. „Will uns jemand auf den Arm nehmen oder werden uns absichtlich Informationen vorenthalten?“ bemängelte Hofer die fehlenden Daten mit einer aufgebrachten Geste seiner Hände.
„Wir werden der Sache auf jeden Fall nachgehen, so viel steht fest! Die Deutsche Nationalbibliothek wird uns sicher weiterhelfen.“ Sie blätterte zurück. „Ihre vorherigen Arbeitgeber in Russland und Japan waren ausschließlich bekannte Pharmakonzerne.“ Sie überflog einige Zeilen mit dem Zeigefinger. „Und auch Universitäten, wo sie unter anderem als Dozentin für Biologie unterrichtete und dort auch vorübergehend einen Professorentitel erwarb.“ Sie hob ihren Blick von den Unterlagen. „Anzunehmen ist, dass sie in den USA vorrangig oder vielleicht sogar ausschließlich im pharmazeutischen Bereich arbeitet. Es sei denn, sie findet Gefallen daran, zukünftige Wissenschaftler täglich von Montag bis Freitag ganztags zu unterrichten.“
„Als Lehrerin? Die mit einem echt teuren Porsche zur Arbeit fährt? Das ist purer Luxus. Finde ich persönlich viel zu auffällig. Auch wenn sie sich's vom Geldbeutel und ihrem Bekanntheitsgrad sicher leisten könnte.“
„Hm, ich stimme dir zu. Der Aufwand unsererseits wäre sicher umsonst, lehrte sie nur an der Universität. Dahingehend kann ich mir einfach keine Ungereimtheiten oder einen illegalen Tatbestand vorstellen. Außerdem glaube ich nicht recht daran, dass Messerschmidt-Hancock Enterprises Dozenten für Universitäten bereitstellt, nachdem was ich in unserer Info-Akte gelesen habe. Bleiben wir also bei der Theorie mit der Pharmaindustrie.
Ihr Kollege nickte still.
Sekunden des Schweigens vergingen. Beide überlegten angestrengt, den Blick nach draußen gerichtet, wo der unsichtbare, eisige Wind unablässig die erstarrte Landschaft eines ausklingenden Novembers durchrüttelte. Was sollten sie von diesem Fall halten? Was war so überaus bedeutsam an dieser Frau, dass die Kriminalpolizei eingeschaltet werden musste? Zum Sonntag. In aller Eile. Sozusagen überstürzt. Höchst ungewöhnlich.
„Ist anzunehmen, aber wahrscheinlich nicht relevant“, konsternierte ihr Partner nach einer Weile gedankenvoll. „Das wäre auch zu einfach.“
Seine Kollegin hob neugierig und fragend die Augenbrauen, während sie ihm wieder das Gesicht zuwandte. „Worauf willst du hinaus?“
„Sie schrieb doch dieses wissenschaftliche Buch über unser Erbgut.“
„Ja, und? Drück dich mal etwas präziser aus. Ich steh' gerade auf dem Schlauch.“
„Mensch, Constanze, dahinter steckt jahrelange intensive Forschung. Manchmal ein Leben lang.“
Einen Moment durchdachte sie die Angelegenheit und kam mit einem sich aufhellenden Gesicht zu dem Schluss: „Hey, du hast wahrscheinlich recht! Hätte sie tatsächlich nach neuen Medikamenten geforscht und oder unterrichtet, wäre sie niemals imstande gewesen, Zeit für andere Arbeiten aufzubringen. Man schreibt nicht einfach so über Nacht ein Buch über ein derart kompliziertes und komplexes Thema. Es erfordert zeitintensive und wahrscheinlich auch höchst kostspielige Recherchen. Demzufolge muss ihr Aufgabengebiet ein anderes sein.“
„Mit höchster Wahrscheinlichkeit hat es mit Genetik zu tun und ihr Sponsor heißt Messerschmidt-Hancock – Enterprises. Volltreffer!“
„Genetik …“, sinnierte Conny. „Gentechnologie.“ Sie dachte wehmütig an die vielen unschuldigen Versuchstiere, die in Labors dahinvegetierten. Für die Wissenschaft. Für den guten Zweck. Grausam. Sie verdrängte die zahlreichen Bilder von verstümmelten und gequälten Kleintieren aus Internet und Fernsehen, die sich vor ihr geistiges Auge schoben. Sie konnte eh nix dagegen tun, außer sie zu bemitleiden. Um sich selbst Haustiere anzuschaffen, dafür fehlte ihr leider die Zeit. Sie mochte Katzen so sehr.
„Was?“
„Ach, nichts.“
Michael zuckte gleichgültig mit den Schultern. Offensichtlich war Connys Gemurmle nicht so wichtig. „Also, wenn dem wirklich so ist, dann steht uns der Kontakt mit einer erstklassischen Wissenschaftlerin bevor“, meinte er ein wenig euphorisch. „Das kann interessant werden. Hoffentlich gerät sie nicht gleich in Panik, wenn wir uns als Kripo-Beamte zu erkennen geben.“ Nach einer kurzen Atempause fügte er hinzu: „Und ich wette, nach all den uns vorliegenden Informationen – und das meine ich im negativen Sinne – steckt hinter ihrer Fassade mehr, als uns die Akte weismachen will. Irgendetwas stimmt da nicht. Irgendein Geheimnis liegt da im Wald begraben. Mein Spürsinn“, er tippte sich an die Nase, „hat mich noch nie betrogen. Auch wenn mein Verstand mir in Bezug auf unseren Fall etwas anderes sagen will.“
„Nicht umsonst hat uns der Chef den Auftrag ans Herz gelegt.“
„Warum sollen wir die Frau überhaupt beschatten? Und woher, bitte schön, kriegen wir zum Sonntag, eine richterliche Erlaubnis für eine Observation her? Das gab es doch noch nie.“
„Über die Genehmigung musst du dir nun wirklich keine Sorgen machen. Die hat unser Chef bereits an Richter Vogelsang gefaxt. Der hat doch eh einen Narren an uns gefressen, weil wir so hochprozentig gut arbeiten und immer zur Stelle sind, wenn's brennt. Seine Unterschrift ist uns sicher. Zu deiner ersten Frage. Sie soll angeblich in illegale Machenschaften innerhalb des Messerschmidt-Hancock Konzerns verwickelt sein.“
„Aha! Da liegt also der Hase im Pfeffer begraben. Was für Machenschaften sind das?“
Sie überflog die Zeilen erneut. „Darüber liegen uns keine Informationen vor.“
„Wird sie von denen vielleicht erpresst? Ist sie im Besitz von brisanten Informationen? Experimentiert sie mit illegalen Substanzen oder vielleicht sogar gesetzeswidrig an Menschen herum? Welchen Grund könnte es sonst geben?“
„Ich habe keine Ahnung. Normalerweise bräuchten wir ja gar keine Ermittlungen führen“, lenkte seine Kollegin ab.
„In diesem Punkt stimme ich dir zu. Ohne Hinweise auf einen ausreichenden Tatverdacht brauchen wir nicht ermitteln. Das erscheint mir alles zu vage.“
„Und doch hat uns der Chef angerufen und uns eindringlich um die Übernahme des Falles gebeten. Die Sache scheint mir ebenfalls ziemlich undurchsichtig. Ich befürchte, dass noch ungeahnte Probleme auf uns zukommen.“
„Berufliche Intuition sage ich da nur noch mal.“
„So ist es. Also gut, fahren wir fort!“
„Was bleibt uns denn anderes übrig.“ Ich wüsste wirklich einen besseren Zeitvertreib zum Sonntag. Schwimmbad. Bowling. Kino. Das nächste Mal sollte nicht zu lange auf sich warten lassen.
„So“, sagte sie langgezogen, „wo waren wir stehen geblieben …?“ Die Kommissarin suchte nach der passenden Stelle im Text. „Ja, hier steht es. Das FBI wurde vor fünf Wochen rein zufällig auf sie aufmerksam. Der ermittelnde Beamte verlor den Kontakt aber vor etwa einer Woche wieder. Warum steht hier nicht. Vor zwei Tage saß Dr. Kurz dann im Flieger nach Deutschland. Seit heute Morgen 0:33 Uhr ist sie aus New York zurück.“
„Hm … Und? Sollte ihre Abreise aus den Staaten ein Zufall sein oder eher eine geplante Flucht? Was meinst du?“
Die Kommissarin wägte das Für und Wider wenige Sekunden ab, kam jedoch zu keinem eindeutigen Resultat. „Schwer einzuschätzen. Doktor Kurz soll“, sie betonte das Wort soll extra, „in illegale Machenschaften verstrickt sein. Beweise dafür gibt es keine. Zumindest halten wir bis jetzt keine in den Händen. Der Flug nach Deutschland könnte ebenso gut Zufall sein. Schließlich hat sie hier ihren Hauptwohnsitz. Daran wiederum will ich nicht ganz so leicht glauben, da die Biologin zuvor ins Fadenkreuz der hiesigen US-Behörden genommen wurde. Unsere Schlussfolgerungen bauen sich erst einmal nur auf Theorien auf.“ Sie gab einen merkwürdig grantigen Laut von sich, der ihren Unwillen in Töne umsetzte. „So kommen wir überhaupt nicht vorwärts. Warum hat uns FBI nur derart unzureichende Informationen übermittelt“, beklagte sich Constanze enttäuscht, während sie weitere Seiten der Akte durchging. „Die wenigen Fakten ihres Lebenslaufes ergeben noch nicht einmal ansatzweise ein Bild. Entweder verheimlichen die Amis uns was oder die wissen selbst nicht mehr.“
„Ein Puzzle, in dem die wichtigsten Teile fehlen. Typisch. Ich wette mit dir um ein romantisches Abendessen, dass unsere Kollegen in Übersee viel mehr wissen, als sie zugeben wollen. Die Amis haben sich schon oft genug in Geheimnisse gehüllt, um dann – im entscheidenden Moment – als Sieger den Applaus zu kassieren. Warum sollte es jetzt anders sein?“
„Das ist wieder einmal eine typische Schnittstellenproblematik, wie ich sie liebe.“ Das letzte Wort sprach sie mit einer extra Portion Zynismus aus.
„Wie lautet denn konkret unser Befehl?“
„Kurze Beschattung und schnellstmögliche Kontaktaufnahme. Wir sollen herausfinden, in was sie tatsächlich verwickelt ist. Hintergründe, Auswirkungen, Kontaktleute. Das übliche Prozedere. Hoffen wir, dass sie gesprächig und geständig genug ist, sonst haben wir ein Problem. - Ich will mich heute wirklich nicht damit herumärgern müssen.“
„Welcher Zeitraum steht uns für die Ermittlungen zur Verfügung?“
„Das Präsidium sowie die Staatsanwaltschaft wünschen, dass wir den Fall so schnell wie irgend möglich abhaken.“
„Das klingt ja tatsächlich nach einer äußerst unangenehmen Sache, die der Chef von Jetzt auf Heute aus dem Weg geräumt haben will. Außerdem drängt sich der Gedanke auf, dass unser Boss wiederum mehr weiß als wir zwei.“
„Aber immer noch weniger als die Amis. Eine logische Schlussfolgerung, mein lieber Michael. Und wenn der Fall nicht solche Eile hätte, dann säßen wir an diesem kalten Sonntagmorgen …“
„Unserem ursprünglich freien Sonntagmorgen“, betonte ihr Kollege.
„Du sagst es. Dann säßen wir an unserem ursprünglich freien Sonntagmorgen auch nicht in unserem Dienstwagen.“
„Ganz recht. Können die Kriminellen ihre Aktivitäten denn nicht auf werktags verlegen? Warum, verdammt nochmal, ziehen eigentlich immer wir die Arschkarte?“
„Du weißt doch, wir sind nun mal die besten Ermittler, die die Leipziger Polizei zu bieten hat.“ Sie konnte sich den ironischen Unterton in ihrer Stimme nicht verkneifen. Sie grinste erst neckisch, bevor sich ihre Mundwinkel langsam wieder nach unten bewegten. „Ich bin froh, wenn unsere unfreiwillige Wochenendbereitschaft für diesen Monat gegessen ist. Ich habe schon genug Mehr- und Überstunden. Ich könnte einen ganzen Monat frei nehmen. Herrgott nochmal“, fuhr sie jetzt wütender fort, „hat denn dieser Fall nicht bis Montag Zeit?“
Am liebsten hätte er sich jetzt auf sie gestürzt. Er mochte es, wenn Conny wütend wurde und ihre blaugrauen Augen wild zu funkeln begannen. Er war förmlich wie berauscht, wenn sie erst einmal wie ein Wasserfall zu sprechen begann und die Worte nur so aus ihrem verführerischen Mund sprudelten. „Du sprichst mir aus der Seele“, säuselte er. Im ernsteren Ton fuhr er fort. „Ich liebe meinen Beruf, aber keiner von diesen Bürohengsten und Sesselfurzern will einsehen, dass mir meine freien Tage auch wichtig sind!“
Constanze musste kichern, als Michael ihre Vorgesetzten im Präsidium mit diesen zwei lustigen Worten betitelte.
„Was ist? Warum lachst du?“ fragte ihr Kollege ernst. „Das sind nun mal Bürohengste und Sesselfurzer, die sich tagtäglich ihren Hintern breit sitzen. Und ich soll, ginge es nach meinen Eltern, auch so einer werden? Nein danke!“
Sie musste lachen. Es klang so lustig, wie er die witzigen Synonyme aussprach. Und dabei sah sein Gesicht mürrisch und todernst aus. Aber schon im nächsten Moment zogen sich seine Mundwinkel langsam nach oben, seine Augen erstrahlten und Michael fiel feixend mit ein. Nach etwa einer halben Minute verebbte der herrliche Lachanfall und die Kriminalbeamten konzentrierten sich erneut auf ihren Job. Sie überprüften die Umgebung und das Haus der Zielperson für etliche Sekunden mit Argusaugen. Als nichts Ereignisvolles geschah, widmeten sie sich erneut der Akte.
„Okay, meine Lieblingskollegin, was wissen wir noch über diese Frau Kurz?“
„Moment!“ Die Angesprochene blätterte eine Seite zurück. „Hm, sie verfügt über eine eigene Homepage. Die könnte durchaus interessant sein. Allerdings müssen wir uns diese im Büro vornehmen.“
„Wieso? Hast du dein Notebook schon wieder mal vergessen?“
Conny verzog das Gesicht zu einer Entschuldigung. „Leider. Aber die Spiegelreflexkamera und die Objektive befinden sich unter dem Beifahrersitz, wo sie auch hingehören.“
„Wenigstens etwas. Hol die Kamera doch gleich mal vor. Die werden wir auf jeden Fall brauchen.“
Conny reichte ihrem Kollegen die Mappe, der die innen liegenden Informationen weiter durchlas, während sie die Spiegelreflex zügig mit flinken Fingern vorbereitete, als würde sie jeden Tag nichts anderes tun.
„Hier steht, dass sie seit ihrem 6. Lebensjahr Diabetes mellitus hat, muss sich seitdem Insulin spritzen.“ Michael schaute zweifelnd zu seiner Kollegin auf dem Beifahrersitz. „Hä, ich dachte die Krankheit bekommen nur alte Menschen?“
Constanze schüttelte den Kopf, während sie die Augen empört über so viel Unwissenheit und seiner mittelalterlichen Weltanschauung verdrehte. „Sag mal, wo lebst du eigentlich? Hinterm Mond?“
„Na, entschuldige mal, ein Mensch kann doch nicht alles wissen.“
„Ja, tut mir leid, Michael, aber ich dachte wirklich, dass gehört auch zu deinem Allgemeinwissen, dass ein Mensch, unabhängig von seinem Lebensalter, Diabetes bekommen kann.“
„Ab jetzt ja.“ Er tippte sich an die Schläfe und zog gleichzeitig die Augenbrauen hoch. „Ist abgespeichert.“
„Ausgezeichnet!“ lobte seine Kollegin sachlich und schielte auf die Akte. „Hast du noch ein paar Infos gefunden, die unser Wissen über Frau Doktor Kurz erweitern können?“
„Es sind nur noch die Zeitungsartikel übrig.“
„Okay, zeig mal her.“
Gemeinsam gingen die Kommissare die Kopien der Zeitungsausschnitte durch. Der aktuellste von ihnen war auf Mai letzten Jahres datiert. Hauptsächlich handelten die Artikel von Veranstaltungen und Auszeichnungen, an denen die Wissenschaftlerin international und erfolgreich teilgenommen hatte und geehrt wurde. Über ihre Arbeit fiel kein einziges Wort. Absichtlich? Wollte oder sollte sie darüber nicht sprechen? Die Frage nach zeitnahen Projekten ist doch jedem Reporter bekannt und höchst interessant. Also, warum findet in keinem der Artikel diese Sache absolut keine Erwähnung? Geht es um eine Forschung, die nicht erwähnt werden darf, weil sie zu viel Aufsehen erregen würde, weil sie illegal ist oder weil sie einfach nicht interessant genug ist, um der Öffentlichkeit diese mitzuteilen? Bei einer weltweit angesehenen Wissenschaftlerin wie Doktor Madeleine Kurz scheint dies äußerst zweifelhaft. Das waren weitaus mehr Fragen, wie Antworten. Aber das war für die beiden Polizeikommissare das übliche Problem.
Michael Hofer schlug die Akte zu und reichte sie seiner Kollegin, die sie in der Seitentür verstaute. „Da liegt wieder einmal ein unüberschaubarer Berg an Arbeit vor uns. Wir haben praktisch keinen Anhaltspunkt und der Chef möchte am liebsten, dass wir den Fall schon gestern abgeschlossen haben.“
„Hah“, machte seine Kollegin, während sie mehrere Fotos von der Wohnanschrift der Zielperson knipste. „Das Haus verfügt aus unserer Sicht über keine sichtbare Alarmanlage“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Ohne tatsächlichen Verdacht auf eine Straftat. Echt Klasse!“ beendete er seinen Gedanken.
„So ist das eben, mein Lieber“, erwiderte sie seufzend und legte die Kamera auf ihrem Schoss ab. „Besprechen wir die Vorgehensweise.“
„In Ordnung. Wie wollen wir vorgehen?“ fragte er seine dienstältere Kollegin.
Constanze lächelte Michael wissend an. Ihr Wimpernschlag sah verführerisch aus, dass sich im Partner sofort die Erregung aufbäumte, wie ein feuriger Mustang. „Du riechst unheimlich gut! Ich verliere den Verstand, wenn du mich jetzt nicht augenblicklich küsst!“ forderte sie erneut und zog ihn abermals kräftig zu sich heran. Michael ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Er grinste verschmitzt und gefährlich zugleich. Leger beugte er sich nun über die Mittelarmlehne zu seiner Kollegin hinüber, die ihm von selbst entgegenkam, und meinte cool, mit einem Zucken der rechten Augenbraue „Okay, Süße, du hast es nicht anders gewollt. Nun musst du die Konsequenzen tragen!“
„Was immer du willst!“ hauchte Constanze erregt und ergeben zugleich, und beide vergaßen dabei vollkommen ihre Umwelt. Beide wussten nur zu gut, dass intime Beziehungen zwischen Polizeibeamten während der Dienstzeit, auch wenn sie miteinander liiert waren, einen schweren Verstoß gegen die Dienstvorschriften darstellte. Doch der Moment zeigte sich von einer unglaublich günstigen Seite, dass sie sich leichtsinnig hinreißen ließen, sich ihren Gefühlen hinzugeben und ihren sprudelnden Hormonen freien Lauf zu lassen. Keiner ihrer Kollegen und Vorgesetzten wussten von ihrer jahrelangen Liaison, und das war auch gut so, sonst würde man sie auf der Stelle trennen und anderen Partner zuteilen. Womöglich würde einer von beiden sogar in eine andere Stadt versetzt werden. Zu Beginn ihrer Partnerschaft waren sie einfach nur Kollegen gewesen, die als gutes und effizientes Team ihre Arbeit verrichteten. Das daraus innerhalb von ein paar Monaten eine überaus enge Freundschaft entstand, hatten beide nicht annähernd eingeplant. Seit diesem Zeitpunkt wurden sie auch von ihrem damaligen Chef und den Kollegen ständig misstrauisch und abschätzend beobachtet, denn sie alle befürchteten, dass es noch schlimmer kommen und sich die beiden Kommissare nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren würden. Doch Michael Hofer und Constanze Müller waren cleverer als ihr Vorgesetzter und die Kollegen. Sie vermieden es peinlichst sich gefühlvoll am Arbeitsplatz zu benehmen. Stattdessen herrschte wieder absolute Sachlichkeit und natürlich Professionalität. Zwangsläufig verbrachten die beiden öfter ihre Freizeit gemeinsam … und verliebten sich ineinander. Ein überaus gefährliches Spiel begann. Jedenfalls, an diesem ungemütlichen und eiskalten Novembersonntag würde es, denkbar, um diese Zeit keiner oder zumindest kaum einer wagen, einen Schritt vor die Tür zu setzen. Bei solchen Temperaturen jagte man keinen Hund vor die Tür. Außerdem kannte sie hier keiner. Sie sahen einfach nur wie ein verliebtes Pärchen aus, dass sich nach einer himmlisch schönen Nacht nicht voneinander lösen konnte. Mehr nicht. Auch ihr Einsatzfahrzeug verriet äußerlich nichts, was auf die Polizei hinwies. Selbst das Nummernschild war ein ganz normales. Hoffentlich irrten sie sich nicht … Der Grat, auf dem sie sich befanden, war äußerst schmal. Die Lippen verschmolzen schmatzend, verschlangen sich gierig gegenseitig. Die feuchten Zungenmuskel bahnten sich hemmungslos ihren Weg in den warmen Mund des anderen. Speichel wurde ausgetauscht. Die Hände suchten wild geworden verführerischen Kontakt zum Körper des Partners, fuhren suchend unter die mehrlagige Bekleidung und konnten es nicht erwarten, die erogenen Zonen des anderen zu berühren. Mit einem Ruck trennten sich beide wieder.
„Wir sollten uns jetzt wirklich auf unseren Job konzentrieren!“ besann sich Michael schnaufend und wischte sich über den Mund. Er meinte es dieses Mal wirklich ernst.
Constanze hechelte und rang ebenfalls nach Luft. Ihre Wangen zeigten einen Hauch von Röte „Ja, du hast recht“, nickte sie mit dem Kopf als Zeichen ihres Einverständnisses. „Fatal, unterliefe uns ein Fehler in Bezug auf unseren Fall. Das dürfen wir uns nicht leisten“, meinte sie energisch und rückte ihre Bekleidung zurecht.
„Verlegen wir unsere Beziehung in die Freizeit. So, wie wir es immer gehandhabt hatten.“ Es klang fast ein wenig kühl, wie er es sagte. Hofer bedauerte es zunehmend, dass sie wegen der polizeilichen Vorschriften offiziell kein Paar sein durften. Sie wohnten sogar in verschiedenen Wohnungen, damit ihre Liaison nicht bemerkt wurde. Oft genug musste er sich in der Vergangenheit zurückhalten, um beispielsweise bei Observationen nicht über Constanze herzufallen wie ein Liebeshungriger. Er liebte diese Frau so sehr! Er konnte sich nicht vorstellen, jemals eine andere außer Conny zu lieben. Und eigentlich wäre alles ganz einfach. Er brauchte nur in der Firma seines Vaters arbeiten. Seine Liebste hätte sicher keine Einwände ihre Adresse in sein großzügiges Penthouse zu verlegen. Und was für ihn am wichtigsten war, sie könnten endlich, endlich eine Familie gründen.
„Ja, wie wir es immer gehandhabt hatten“, wiederholte Constanze mit einem Anflug von Bedauern. Wie sehr hatte sie sich in letzter Zeit gewünscht, das Geheimnis um ihre enge Beziehung einfach preiszugeben. Diese Geheimnistuerei lastete wie ein Stein auf ihrem Herzen und bedrückte oft genug ihre Seele. Hach, wie sie diesen Mann liebte! Für sie gab es keinen anderen! Und alles wäre so einfach, wenn Michael sich überwinden würde, doch in der Firma seines Vaters zu arbeiten. Dann könnten sie endlich zusammenziehen und – was ihr größter Herzenswunsch war – endlich, endlich eine Familie gründen. Die beiden gönnten sich eine kleine Verschnaufpause, in der sich die erhitzten Gemüter abkühlten, sich die Atmung normalisierte und der Puls zu seiner normalen Frequenz zurückkehrte.
„Beginnen wir mit der Observation des Hauses!“ schlug Kommissar Hofer vor. „Währenddessen können wir in Ruhe frühstücken. Wenn sie, sagen wir, nach drei Stunden – und ich gehe davon aus, dass sie bis dahin ausgeschlafen hat – nicht aus dem Haus gekommen ist, werden wir ihr einen Besuch abstatten.“
„Ausgezeichnete Idee. Wo hast du den Kaffee?“
„Im Kofferraum. Außerdem habe ich noch ein paar Salamibrötchen und zwei frische Spritzkuchen vom Bäckers Eck mit. Die magst du doch so gerne.“
„Hey, klasse! Holst du die Leckereien bitte nach vorn!“
„Hm, ist ziemlich kalt da draußen. Aber ich glaube, für dich kann ich es wagen“, meinte er schmunzelnd. Hofer wollte aus dem angenehm warmen Dienstwagen aussteigen, um der Aufforderung seiner Kollegin nachzukommen, als sein Blick automatisch auf dem gegenüberliegenden Fußweg haften blieb. Automatisch ließ er seine linke Hand vom inneren Türöffner sinken. „Ich glaube, unser Frühstück werden wir verschieben müssen. Da kommt jemand und er steuert genau auf unser Haus zu.“ Gott sei Dank, dass wir rechtzeitig mit der Schmusestunde aufgehört haben. Das hätte ins Auge gehen können. Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben.
Der Ärger über das verschobene Frühstück verflog schnell. Mit Interesse und hochkonzentriert beobachteten die beiden Kommissare den gemächlich gehenden Passanten vis a vis ihrer Position. Unauffällig schoss Conny einige Bilder.
„Wer kann das denn sein?“
„Ihre Mutter jedenfalls nicht.“
„Ha ha, sehr witzig. Ist vielleicht doch 'ne Freundin? Oder die Putzfrau? Schließlich muss ja jemand das Haus verwalten und in Ordnung halten, während die Besitzerin fort ist.“
„Zum Sonntag?“
„Witzbold.“
Die Kommissare beobachteten aufmerksam die offensichtlich ältere Dame – eingehüllt in einen dunkelgrünen Wollmantel und braunen, zotteligen Pelzstiefeln – wie diese ganz selbstverständlich das weiße Gartentor passierte, die vom Frost erstarrten Beete und kahlen Bäume hinter sich ließ und auf die Haustür zu schritt. Mit einem Schlüssel aus ihrer kleinen, hellbraunen Handtasche aus Wildleder öffnete sie den Eingang, um gleich darauf dahinter zu verschwinden. Die Neugierde in den Kommissaren nahm beachtlich zu. Beide wünschten sich auf der Stelle ein Richtmikrophon mit großer Parabolantenne und eines dieser ultra aktuellen und unermesslich teuren mobilen Präsenzscanner, mit denen man neuerdings durch Wände von Gebäuden von einfacher Struktur, wie Beton und Holz, sehr dünnen Blechen und anderen Feststoffen mit geringer Dichte sowie verschiedenen Flüssigkeiten, sehen konnte, um Personen zu orten und zu kategorisieren. Bisher wurde diese Technologie allerdings nur vom Militär und diversen Geheimorganisationen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus genutzt. Für die Kommissare Hofer und Müller blieben diese Ausrüstungsgegenstände ein Wunschtraum. Sie waren erstens keine Spezialeinheit und zweitens würde das Budget ihrer Dienststelle maßlos und für Jahrzehnte überschritten werden.
Sekundenlang geschah nichts und wahrscheinlich würde dieser Zustand noch viel zu viele Minuten, vielleicht sogar Stunden, anhalten. Wie müßig. Die Siedlung lag wie in einer zeitlosen Erstarrung. Die gelangweilten Kommissare beschlossen, das Thema Frühstück wieder aufzunehmen. Ein sinnvoller Zeitvertreib, um die besagte Zeit tot zu schlagen. Doch nur wenige Augenblicke später gellte ein entsetzlicher, panischer Schrei auf. Trotz der geschlossenen Autoscheiben vernahmen sie ihn klar und deutlich.
„Hey, das kam doch aus dem Haus?“ Constanze legte vorsorglich die Kamera auf der Mittelkonsole ab.
„Verdammt nochmal, was ist da los?“
Von außen war keine Veränderung zu erkennen.
Ohne einer mündlichen Absprache rissen Hofer und Müller gleichzeitig die Türen ihres Fahrzeuges auf und sprangen hinaus, ignorierten die eisige Kälte von gefühlten - 20°C, die ihnen ins Gesicht schlug und rannten hinüber zum Grundstück Am neuen Grund 24, während sie ihre ledernen Handschuhe überstreiften und die Ordonnanzwaffen von der Marke HK P2000 aus den Schulterholstern zogen, jedoch noch nicht entsicherten. Kein anderer Passant kreuzte ihren Weg. Die Menschen verkrochen sich an diesem bitterkalten Tag in ihren warmen Häusern, kuschelten wahrscheinlich noch im Bett mit ihrem Partner oder tranken gemütlich und genüsslich einen heißen Kaffee oder Tee in der Küche bei einer sanft dahinplätschernden Radiomusik. So gut wie lautlos und umsichtig pirschten sich die Kriminalkommissare durch den vereisten Garten an die Haustür heran, die überraschend einen Spalt weit offenstand. Auch entdeckten sie auf dem Zuweg Schuh- und teilweise Schleifspuren. Sie prägten sich jedes Detail genau ein, wobei sie ihre Sicherheit nicht missachteten.
„Hey, schau mal!“ flüsterte Michael seiner Kollegin zu und wies mit einer Bewegung seines Kopfes auf den gepflasterten Boden.
„Ameisen? Wo kommen die denn her? Die halten doch um diese Jahreszeit Winterruhe. Im Haus muss sich ein Nest befinden.“ Sie wischte sich mit dem Ärmel eine Träne von der Wange. Schuld war der eisige Wind, der ihr Auge unwillkürlich zum tränen brachte.
Die Kripo-Beamten entsicherten ihre Dienstwaffen, um sich gegebenenfalls oder umgehend verteidigen zu können, falls ein Angriff auf sie stattfinden sollte. Die Hand umfasste dabei fest den Griff, der Zeigefinger ruhte einsatzbereit neben Abzug und Abzugbügel.
„Hm, wahrscheinlich. - Wir gehen rein. Achtung! Drei, zwei, eins“, zählte Kommissar Hofer kaum hörbar und stieß die Haustür weit auf, dass diese innen vernehmbar an die Wand knallte. „Hier ist die Polizei!“ brüllte er mit autoritärer Stimme und presste sich dabei, genau wie seine Kollegin, an die gelbe, kalte Außenfassade. Niemand antwortete. Nur irgendein Hund bellte in der Nachbarschaft, verstummte jedoch schnell wieder. Was war geschehen, seitdem die Frau das Haus betreten hatte? Wie viele Personen befanden sich tatsächlich im Haus. Waren Waffen im Spiel? Gab es eine Geiselnahme? Es war so ruhig. Viel zu ruhig. Ein Hinterhalt? Die Beamten waren auf alles gefasst. Ihre Konzentration und ihre Sinne standen auf dem absoluten Maximum. Doch ihre Nerven drohten deswegen nicht zu zerreißen. Sie waren für solche Einsätze körperlich und psychisch trainiert. Müller nickte ihrem Kollegen zu, der nur eine Sekunde später die Initiative ergriff, kurz durch die geöffnete Tür schaute, niemanden sah und im nächsten Moment das Haus betrat. Conny gab ihm, sich umschauend und die Haustür leise schließend, Rückendeckung. Mit den Waffen an den ausgestreckten Armen und beidhändigem Anschlag zielten die Kommissare in den menschenleeren Raum, der von vielen Fenstern erhellt wurde. Eine ungewöhnliche Stille lag in der Luft. Erdrückend. Ungewöhnlich schwer. Kaum zu durchdringen. Man bräuchte eine Kettensäge, um sie zu durchtrennen. Niemand war zu hören oder zu sehen. Außer den Ameisen, die eindeutig aus einem der hinten gelegenen Räume des Erdgeschosses kamen und eher ziellos und oft schleppend auf dem hellbraunen Laminatfußboden herumkrabbelten und eine farblose, gelb-orangene bis rote Flüssigkeit von schleimiger Konsistenz hinter sich herzogen. Einige der kleinen Insekten schienen bereits tot zu sein.
Verdammt, was ist das? Das ist doch nicht normal!
Daneben führten nasse und bereits getrocknete Schuhspuren unterschiedlicher Größen und Profile nach hinten und wieder zurück. Und – wie es den Anschein hatte – Schleifspuren von schmalen Schuhen. Ein knallroter Koffer, mit den üblichen Klebebändern vom Flughafen versehen, stand verlassen und offensichtlich noch nicht ausgepackt an der in einem sehr hellen Gelb gehaltenen Wand. Constanze gab ihrem Partner lautlos Handzeichen. Michael nickte verstehend. Sie waren ein eingespieltes Team. Auf leisen Sohlen schlichen die Beamten durch das eingeschossige Haus gehobener Ausstattung und vermieden dabei sorgfältig, die fremden Spuren nicht zu verwischen. Rechts lag ein großer, offengehaltener Wohnraum, ebenfalls in helle, freundliche Farben getaucht und sehr modern eingerichtet (die Glastür zur Terrasse war geschlossen und auf der Couch lag eine Tasche sowie eine großzügige Menge an Damenartikeln, die offensichtlich ausgeschüttet worden war), links befand sich ein ziemlich edles Esszimmer. Die Eindringlinge gingen achtgebend und geräuscharm weiter … und erschraken. In der gleich daneben liegenden Küche bot sich den beiden Polizisten ein makabres Bild. Die ältere Dame im dunkelgrünen Wollmantel stand stumm und heftig zitternd im Eingang der Küche und starrte geschockt und bleich wie weiße Tafelkreide auf die, nur mit einem BH, einem Slip und einem offenen, seidenen Morgenmantel bekleideten Frau am Boden. Aus zahlreichen großflächig geröteten und blutenden Wunden sowie natürlichen Öffnungen des offensichtlich toten, femininen Körpers wanderten Ameisen emsig ein und aus. Neben der Frau lagen ein Handy und die Visitenkarte eines Institutes für Plastische Chirurgie in der Gemeinde Unterhaching – Landkreis München. Die Kommissare steckten, noch immer entsetzt von dem unerwarteten Anblick, ihre bereits gesicherten Pistolen zurück in die Schulterholster. Während ihrer vielen Dienstjahre bei der Leipziger Polizei sahen sie viele Tote, verstümmelte Leichen, manchmal bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Was ihnen der heutige Totensonntag bot, übertraf jedoch alle vorangegangenen Fälle. Die Szene ging ihnen unter die Haut und erinnerte beide an einen Horrorfilm. Absolut abartig. Was, um Gottes Willen, war hier geschehen? Wer, um Himmels Willen hatte dieser attraktiven und international bedeutenden Wissenschaftlerin – sie hatte sie sogleich als diese identifiziert – dieser unglaubliche Gräuel angetan? Und vor allem, warum? Warum tat jemand so etwas Schreckliches? Das war die mit Abstand interessanteste Frage von allen. Ein besonders degoutanter Anblick. Jetzt hatten die Kommissare einen überaus stichhaltigen Beweis, die Angelegenheit um Doktor Madeleine Kurz als Fall zu behandeln. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr daran. Es gab eine Tote. Die ältere Frau in dem grünen Wollmantel hatte mit der Sache offensichtlich nichts zu tun. Ihre gesamte Körpersprache wies auf einen heftigen Schockzustand hin. Unter Umständen ein lebensbedrohlicher Zustand. Es würde notwendig werden, einen Rettungswagen für sie zu bestellen. Sicher brauchte sie auch psychologischen Beistand, um das Gesehene zu verarbeiten. Kommissar Hofer ging in die Hocke, wobei er sich einen seiner Lederhandschuhe auszog und einen blauen Nitrilhandschuh, den er aus einer der Innentaschen seiner Jacke nahm, überstreifte. Dabei achtete er darauf, dass keine Ameisen an seinen Beinen hinauf krabbelten. Eine Weile glitt sein Blick über den entstellten Leib der Frau mit der samtweichen, braunen Löwenmähne und den halb geöffneten Augenlidern. Er hob eines an. Die Hornhaut sah noch klar aus. Das noch vorhandene Make-up schien von ehemals geflossenen Tränen verwischt. Unumstritten eine wahre Schönheit und viel zu jung für das Jenseits. Der Geruch von Blut und eigenartigerweise einer Mischung von Honig und Parfüm lag direkt über dem Körper wie eine unsichtbare Aura. Überall kamen diese kleinen, nur wenige Millimeter großen Insekten mit den prallen Hinterleibern, hervorgekrochen, um in einem anderen natürlichen oder künstlich geschaffenen Körpereingang wieder zu verschwinden. Selbst aus und in die Augen fanden sie, wenn auch etwas mühsam, einen Weg. Ein schauriger Anblick. Geradezu widerlich, dass sich dem Betrachter sämtliche Haare sträubten. Der Brustkorb hob und senkte sich nicht. An der Arteria carotis – diesen fachchinesischen Ausdruck für die Halsschlagader hatte er sich von Erste-Hilfe-Lehrgängen komischerweise gemerkt – prüfte er den Puls. Kein Puls. An einer Stelle ihres Körpers – der linken Taille – wo gerade keine dieser widerwärtigen Ameisen herumwanderten, legte er die geschützte Hand auf. Der Körper fühlte sich nicht mehr warm an. Er sah grau und blass aus und die Adern traten bereits deutlich hervor. Hofer hob vorsichtig einen Arm der Leiche an. Er war noch beweglich, die Totenstarre war noch nicht eingetreten, aber an dem Teil des Oberarm, der zuvor am Boden lag, zeigte sich ein blauer bis violette marmorierter Totenfleck. Der entsteht, wenn das Blut aufhört zu zirkulieren. Dann sinkt die Lebensflüssigkeit durch die Schwerkraft nach unten und sammelt sich dort. Ihr Tod musste sich demzufolge vor gut einer Stunde zugetragen haben. Der Gerichtsmediziner würde es natürlich genau abklären. Verdammt! Wären sie beide nur eine Stunde eher vor Ort gewesen. Oder wenigstens dreißig Minuten. Gut Zwanzig Minuten verschwendeten sie mit dem Studium der Akte, der Observation und ihrem Liebesspiel, anstatt gleich auf ihre Zielperson zuzugehen. Aber wer konnte denn ahnen, was sich im Inneren des Hauses abspielte? Welcher gefährlichen und tödlichen Situation die Wissenschaftlerin ausgesetzt war? Bestand vor einer guten Stunde noch die Chance das Leben von Doktor Kurz zu retten? Schwer zu sagen. Wie gesagt, der technische Röntgenblick stand der Leipziger Kripo noch nicht zur Verfügung. Bedauerlicherweise. Die Kommissare hielten sich – mit ein paar Abstrichen zugegeben – einfach nur an die Vorgehensweise. Nicht mehr und nicht weniger. Sich im Nachhinein Vorwürfe zu machen – hätte und wäre – brachte ihnen die Lösung des Falls auch nicht näher. Das war das Leben nun einmal: ziemlich ungerecht und viel zu oft unberechenbar. Hofer legte den Arm des weiblichen Leichnams erschrocken wieder ab. Eine Ameise hatte sich auf seine Hand gestohlen. Angewidert schnipste er diese fort. Ameisen. Überall Ameisen! Ungewollt jagte ein eisiger Schauer über seinen Rücken. Also, woher, zum Teufel, kamen denn nun die ganzen Ameisen? Auf den ersten Blick schienen sie aus dem Körper des Leichnams zu krabbeln, denn nirgends in der Küche befand sich eine Ameisenstraße, die zu einem Erdnest führte. Das verunsicherte den Kommissar und veranlasste ihn sporadisch zu so manchen skurrilen Theorien, die er letzten Endes alle wieder verwarf. Er war ein Mann der Fakten und nicht von Fiktionen. Anzeichen für äußere Gewalteinwirkung erkannte er so erst einmal nicht. Die Autopsie würde bei dieser Toten mit Sicherheit sehr interessant werden. Vor allem die Ursache für das Ableben der bekannten Wissenschaftlerin interessierte ihn brennend. Vorsichtshalber steckte er die neben der Leiche liegende Visitenkarte unauffällig ein. Die konnte noch von Nutzen sein.
„Hast du etwas entdeckt?“ erkundigte sich seine Kollegin mit zusammengezogener Stirn.
Hofer schüttelte verneinend den Kopf, stand auf, streifte den Nitrilhandschuh links herum ab und warf ihn auf die nahegelegene Küchentheke, auf dem sich neben einem benutzten Longdrinkglas und einem langstieligen Löffel eine halbvolle Dose Traubenzuckerpulver befand. Und ein beachtlicher Haufen aufgerissener und leerer Schokoladenverpackungen. „Ich werde die Zentrale informieren und alle nötigen Einsatzkräfte anfordern“, erklärte er sachlich und bestimmt.
„Okay, Michael, ich kümmere mich so lange um die ältere Dame hier.“ Der Leichnam läuft ja nicht weg. Und von den Ameisen werden wir später noch welche erwischen. Den Chef benachrichtigen wir morgen früh. Ich glaube, der war doch heute mit seiner Frau und den beiden Enkelkindern ins Tropical Island gefahren? Der hat's echt gut. Ein bitteres, unhörbares Knurren folgte ihren Gedanken. Mit dieser Ankündigung trat Constanze Müller ein oder zwei Sekunden darauf auf die noch völlig schockierte Person zu und dirigierte sie mit Nachdruck – denn sie schien förmlich wie angewurzelt oder in Beton gegossen – von der Leiche weg und in das großzügige, in hellen Farben gehaltene Wohnzimmer und zu der weißen Couchlandschaft aus Leder, während ihr Kollege über sein Diensthandy die 112 und die Einsatzzentrale informierte sowie die Spurensicherung und weitere Beamte zur Tatortabsicherung anforderte. Somit hatte die erst vor viereinhalb Jahren entstandene Siedlung ihr erstes Todesopfer zu beklagen. Das wird eine schöne Schlagzeile im Leipziger L.E.Kurier geben!
„Legen Sie sich hin! Sie stehen unter Schock“, erklärte Kommissarin Müller, zog ihre Handschuhe geschwind aus und half der älteren, etwa 60jährigen Frau dabei, die in den zotteligen, wadenhohen Stiefeln steckenden Beine, hoch zu legen. Dazu nutzte sie die einzige Armlehne der Couch. Das Leder knarzte geräuschvoll. Etwas nasser Schmutz tropfte auf das helle, edle Leder. Das war jetzt allerdings egal. Es ging um die Gesundheit eines lebendigen Menschen. „Brauchen Sie ein Kopfkissen oder eine Decke? Ist Ihnen kalt? Möchten Sie etwas zu trinken?“ erkundigte sich die Beamtin fürsorglich. Irgendwo in diesem Haus würde sie die von ihr aufgeführten Dinge schon finden. Hinter ihren ge-sprochenen Worten stapelten sich allerdings bereits zahlreiche Fragen für das bevorstehende Verhör der gesundheitlich angeschlagenen, älteren Frau. Die Kripo-Beamtin gierte danach zu erfahren, was die Dame im Haus der Zielperson zu suchen hatte.
„Ein … ein Kopfkissen … bitte“, stammelte die Angesprochene leise und unsicher. Ihre Augen rollten nervös hin und her, als hätten diese ein Eigenleben entwickelt. Der Rest ihres Körpers zitterte immer noch unberechenbar unter der warmen Winterbekleidung.
Constanze griff sich eines der pastellgrünen Seidenkissen von einem der Sessel in der Nähe und legte es der Frau mit den nachgezogenen Augenbrauen, den viel zu rot getuschten Lippen und den grauen, krausen Haaren behutsam unter den Kopf. „Gut so?“ Ein warmes Lächeln begleitete ihre Frage.
„Ja“, meinte sie, kraftlos und heißer klingend. Es klang eher wie das verzweifelte Krächzen eines Raben.
Die Kommissarin wartete eine Weile stehend und geduldig, während sie die ältere Frau möglichst unaufdringlich beobachtete. Diese hielt die unruhigen Augen nun geschlossen und versuchte sich, so gut es ihr in Anbetracht der Situation möglich war, zu entspannen. Immer wieder zuckte sie dabei ruckartig zusammen. Vermutlich ging ihr das Bild der Toten nicht aus dem Kopf. Verständlich. Ein Anblick, wie der in der Küche, brannte sich sofort ins Gedächtnis ein. Sah man nicht alle Tage. Selbst ein Mensch, der auf natürliche Art und Weise verstarb, versetzte den ersten Besucher in einen kürzer oder länger anhaltenden, traumatischen Zustand.
Allmählich zeigte die Schocklagerung ihre positive Wirkung. Die Blässe verschwand aus ihrem Gesicht und ein leichter hautfarbener Teint zeigte sich.
Müller organisierte sich flink einen Stuhl aus dem eleganten Esszimmer und setzte sich damit neben die liegende Frau, die unruhig und zitternd wartete, bis irgendetwas geschah. Ihre kleine Handtasche hielt sie dabei fest mit ihren kostbar beringten Fingern umklammert, als hüte sie darin einen unersetzlichen Schatz. Drogen? Einen Damenrevolver? Vielleicht brauchte sie einfach nur etwas, an das sie sich krallen konnte, um nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Constanze berührte die Liegende beinah zärtlich an der Hand. Sie fühlte sich kühl an, als wäre immer noch kein warmes, tröstendes Leben in sie zurückgekehrt. „Hey!“
Die Dame öffnete sofort die Augen, die einen vollständig verwirrten Eindruck machten.
Die Beamtin warf ihr ein freundliches Lächeln zu und sagte dann behutsam: „Mein Name ist Constanze Müller. Ich bin Kommissarin bei der Leipziger Kriminalpolizei.“ Sie zeigte geduldig ihre Marke und ihren Ausweis. Ob die ältere Dame beides erkannte, wusste sie nicht zu deuten. „Darf ich erfahren, wie Sie heißen und was Sie in diesem Haus tun?“ Die zweite Frage sollte auf gar keinen Fall wie ein Vorwurf klingen. Während sie sprach nahm sie einen kleinen Block und einen Kugelschreiber aus der Innentasche ihrer Wildlederjacke, um sich wichtige Informationen zu notieren, die sie später in ihrem Bericht verarbeiten wollte.
„Polizei?“ krächzte die Frau unsicher. Nervös zwinkerte sie mit den Augen, als wolle sie sofort in Tränen ausbrechen.
„Haben Sie keine Angst!“ Beruhigend legte die Kommissarin für einen Moment eine Hand auf den ihr nahe liegenden Unterarm der Frau, die dies argwöhnisch, jedoch ohne Einwand geschehen ließ. „Ich brauche nur ein paar Antworten auf ein paar einfache Fragen. Werden Sie mir dabei helfen?“ Sie stellte ihre Fragen so ruhig wie möglich, um die Nerven der älteren Frau nicht noch mehr zu strapazieren. Oder ihr einen weiteren Schock zu versetzen.
Die Frau nickte leicht, schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter und begann: „Mein Name ist Gisela Schmidt. Ich wohne mit meinem Mann bei unserem einzigen Sohn und seiner Familie Am neuen Grund Nummer 34.“ Ihre Stimme klang jetzt einen Deut kräftiger. Das Zittern ließ allmählich nach und ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich langsam aber stetig. Sie schien durch die begonnene Kommunikation etwas abgelenkt. „Ich bin die Haushälterin von …“ Ihr kamen automatisch die Tränen, als sie vor ihrem geistigen Auge ihre tote, schrecklich zugerichtete Auftraggeberin sah. „... von Frau Kurz. Oh Gott!“ Die letzten Worte klangen schrill und voller Entsetzen. Sie hielt sich die wieder stärker zitternde Hand vor den Mund, als wolle sie sich selbst am Schreien hindern. Schnell reichte ihr die Polizistin ein Papiertaschentuch aus der bunten Spenderbox vom Couchtisch. Frau Schmidt nahm es bereitwillig an sich und tupfte sich damit die Tränen vom Gesicht. Nach ein paar Atemzügen wurde sie wieder etwas ruhiger. „Ich schaue jeden Mittwoch und Sonntag nach dem rechten und bringe bei Bedarf den Haushalt in Ordnung.“ Ihr Kinn bebte unkontrolliert. Die Zähne klapperten leise, aber hörbar. Die Augen flackerten unruhig wie Kerzenlicht.
„Wussten Sie, dass die Besitzerin dieses Hauses wieder in Deutschland ist?“
„Nein!“ Ihre Antwort klang wie ein Verteidigungsstoß. „In der Regel ruft sie zwei bis drei Tage vorher an, damit ich den Einkauf für sie erledigen kann. Dieses Mal hatte sie es wohl …“ sie schluckte schwer und atmete ruckartig die Luft ein und aus, „vergessen.“
„Wie oft im Jahr kam Frau Kurz denn nach Leipzig?“
„Im Quartal einmal für etwa vierzehn Tage.“
„Ihr jetziger Urlaub – Aufenthalt – in Deutschland war also nicht geplant?“
„Ich glaube nicht. Frau Kurz wollte erst im Dezember, kurz vor Weihnachten, wieder nach Leipzig kommen. Wie gesagt, sie rief stets zwei bis drei Tage vorher bei mir an.“ Sie schniefte und blickte der Polizistin ängstlich in deren Augen. Körperliche Anspannung baute sich erneut in ihr auf. „Ist … ist Frau Kurz wirklich tot? Es sah schrecklich aus, wie sie da in der Küche auf den nackten Fliesen lag. Die roten Flecken und die ganzen Ameisen auf ihrem Körper! Wo kommen die nur her? Wer … wer tut denn so etwas? Sie war eine so liebenswürdige Frau. So nett und intelligent. Sie war wie eine Tochter für mich.“
Die Stimme der Kommissarin nahm einen bedauernden Ton an. „Es ist leider so, wie Sie vermuten, Frau Schmidt. Frau Kurz ist tot. Es tut mir sehr leid! Es ist ein großer Verlust für die internationale, wissenschaftliche Welt und für die Menschen, die ihr nahestanden.“ Es klang fast wie die Rede auf einer Beerdigung.
„Oh Gott, wie schrecklich!“ brachte sie noch heraus, ehe sie wieder heftiger zu weinen und noch mehr zu zittern begann. Ihr Körper schien außer Kontrolle zu geraten. Frau Schmidt nahm emotional viel zu sehr Anteil an Doktor Kurz' Tod. Als wäre sie tatsächlich ihre eigene Tochter oder so etwas in der Richtung.
Krankenwagensirenen heulten mit einem erbärmlichen Ton in der Ferne auf. Sie durchbrachen mit ihrem ohrenbetäubenden Kreischen die eigentlich behagliche Vorstadtstille. Spätestens jetzt mussten alle in den umliegenden Häusern wach sein und neugierig aus ihren Fenstern schauen. In der Nachbarschaft bellten nun mehrere Hunde um die Wette. Irgendjemand schimpfte lautstark über die morgendliche Ruhestörung mit äußerst derben Worten. Worte, die so gar nicht in dieses vornehme Viertel gehörten.
„Frau Schmidt!“ sprach Kommissarin Müller die ältere Frau nochmals an, die nun wohl völlig mit den Nerven am Ende schien, denn sie schluchzte und zitterte ununterbrochen. Typische Überreaktion. Ihre Nerven lagen blank. Die Haut sah wieder blasser aus und neuerdings auch schweißig. Unerwartet veränderte sich ihre Atmung. Sie wurde schwerer. Die Augen von Frau Schmidt wurden dabei vor Angst immer größer. Sprangen beinah aus ihren Höhlen. Für einen Moment zeichnete sich Entsetzen auf Connys Gesicht ab, dann handelte sie instinktiv. Die Polizeibeamtin steckte rasch Kugelschreiber und Notizblock in ihre Jackentasche und griff dann sofort nach den Beinen von Frau Schmidt, um diese Richtung Boden zu drehen. Anschließend richtete sie langsam den Oberkörper der Haushälterin auf und entfernte umständlich, weil die ältere Dame nicht recht mit machte, den dicken, eklig grünen und obendrein kratzigen Wollmantel von ihrem Körper. Außerdem löste sie das farbenfrohe Seidentuch von ihrem Hals, das sicher zusätzlich beengend wirkte. Ihre Handtasche wollte sie allerdings unter keinen Umständen hergeben. Fast verzweifelt krallten sich ihre Finger darum. Was steckte wohl Besonderes darin? Oder brauchte sie einfach nur etwas, woran sie sich festhalten konnte? Na ja, ältere Leute galten sowieso als eigensinnig. „Leiden Sie unter Atemnot?“
Die ältere Dame schüttelte den Kopf.
„Sind Sie Asthmatikerin? Haben Sie ein Notfallspray bei sich?“
Wieder ein Kopfschütteln.
Na prima! „Der Krankenwagen wird gleich da sein!“
Gisela Schmidt glotzte geistesabwesend nach vorn. Die Symptome wollten einfach nicht weniger werden. Fingernägel und Lippen begannen, eine leichte Blaufärbung zu zeigen.
O-ohhh, das ist nicht gut. Warum muss ausgerechnet mir das passieren? „Frau Schmidt!“ sagte die Kommissarin lauter, „der Notarzt wird gleich da sein! Haben Sie mich verstanden? Frau Schmidt? Halten Sie noch ein paar Minuten durch.“ Sie befürchtete das schlimmste, nämlich dass die ältere Dame bewusstlos zusammensinken würde.
Die Augen von Frau Schmidt schwenkten nur für einen Moment zu der jungen Beamtin. Wie aus weiter Ferne drangen die Worte der jungen Frau an ihr Ohr.
Constanze glaubte beinah nicht daran, dass sie sie verstanden hatte. „Der Krankenwagen wird gleich da sein und Ihnen wird geholfen.“
Keine Reaktion mehr.
Na klasse, wenn das Pech mir hold ist, haben wir noch 'ne Tote am Hals. Und das zum Sonntag. Verdammt nochmal! „Soll ich Ihrem Mann und Ihrem Sohn Bescheid sagen?“
Die Frau reagierte nicht so, wie es sich die Beamtin erhoffte, nämlich gar nicht.
Die Zeit der Warterei dehnte sich scheinbar ins Unermessliche. Nur zwei Minuten später betraten, in Begleitung von Kommissar Hofer, drei junge Sanitäter – zwei Männer und eine junge Frau – vom Deutschen Roten Kreuz, unter strikter Beachtung der fremden, bereits getrockneten Fußspuren das Wohnzimmer, nachdem sie sich argwöhnisch nach den Ameisen umgeschaut hatten. Sie trugen bereits dunkelblaue Nitrilhandschuhe und führten mehrere Gepäckstücke mit sich, die laut Vorschrift und DIN für den Notfalleinsatz vorgesehen waren.
„Morgen!“ grüßte die Beamtin. Das ist Frau Schmidt, Gisela. Sie hat einen Schock erlitten. Ihre Auftraggeberin liegt tot in der Küche und sie hat sie als Erste gefunden.“
Die Rettungssanitäter verzogen keine Miene. „Moin!“
„Außerdem leidet sie seit ein paar Minuten unter erschwerter Atmung. Ihre Fingernägel und ihre Lippen weisen eine leichte Blaufärbung auf“, informierte die Kommissarin rasch die Sanitäter, die aussahen, als hätten diese gerade eine anstrengende Nachtschicht hinter sich.
„Okay, wir kümmern uns um sie. Der Notarzt wird auch gleich da sein“, meinte der eine träge, während sein Kollege bereits die Gerätschaften zur Blutdruck- und Blutzuckermessung und Kontrolle der Sauerstoffsättigung geschäftsmäßig vor der Patientin ausbreitete. Wortlos steckte er das viereckige Ende des Pulsoximeter an den zitternden Zeigefinger der Frau, die alles mit sich geschehen ließ, und das Gerät begann unterschiedlich schnell zu piepen. „Sauerstoffsättigung 92 Prozent. Wir brauchen das EKG!“ meinte er zu seinem Kollegen, der bereits mit einem kleinen Tropfen Blut aus dem Ohr der älteren Patientin den Blutzuckerwert bestimmt hatte. „Blutzucker bei 7,5 mmol/l“, gab der Kollege bekannt und bereitete das 12-Kanal-EKG, an dem sich auch ein Defibrillator befand, vor. „Haben Sie einen Herzschrittmacher?“
„Nein“, hauchte Frau Schmidt zwischen den Atemstößen, die nun wieder mehr von ihrer Umwelt registrierte.
„Ich werde Ihre Bluse etwas öffnen, um die Flächenelektroden für das EKG aufzukleben“, informierte er die Dame, die zitternd nickte. „Versuchen Sie sich zu beruhigen! Wir helfen Ihnen!“ Inzwischen griff sich der andere die 2 Liter Sauerstoffflasche mit Schlauch und Maske aus dem roten, mit gelben Reflektierbändern versehenen, großen Notfallrucksack, der bereits geöffnet auf dem Couchtisch lag, um die Patientin mit Sauerstoff zu versorgen. Der Blutdruck lag niedrig bei 99/55. Dafür raste der Puls unregelmäßig bei um die 130 Schläge pro Minute. Und er schien nicht gewillt, langsamer zu werden. Auf dem Display des Elektrokardiogrammes zeichnete sich ein unregelmäßig, zackiges Gebirge ab. Die Rettungssanitäter wussten genau, was sie im Notfall zu tun hatten. Alles weitere musste der Notarzt entscheiden. „Hatten Sie schon mal so einen Anfall?“
Frau Schmidt schüttelte den Kopf.
„Wie sieht es mit Erkrankungen aus? Haben Sie Krankheiten, von denen wir wissen müssten?“
„Der Blutdruck. Seit über zwanzig Jahren.“
„Okay. Haben Sie Kopfschmerzen?“
Frau Schmidt verneinte.
„Ist Ihnen übel?“
Die ältere Dame nickte. „Et-was.“
Haben Sie sonst irgendwelche Beschwerden?“
Die Angesprochene schüttelte den Kopf.
"Haben Sie einen Betreuer, eine Patientenverfügung oder so was?"
"Patientenverfügung. Bei mir zu Hause."
Die junge Frau, die mit den Sanitätern kam, hielt sich etwas im Hintergrund, schaute jedoch wissbegierig zu. Nebenbei notierte sie alle Angaben ihrer Kollegen auf dem Notfall-Formular. Nach der Versichertenkarte würde sie nachher fragen. Sie wollte die Sanitäter jetzt nicht bei ihrer lebensrettenden Arbeit stören. Wahrscheinlich befand sich die Chipkarte der Krankenkasse in der kleinen Tasche, die die Patientin in den Händen hielt. Hm, sie wusste nicht einmal, ob die ältere Dame hier überhaupt wohnte. Am Klingelschild stand ein ganz anderer Name. Ihre altmodische Kleidung passte auch gar nicht zu dem schönen, modernen Inventar. Echt schönes Haus.
Kommissarin Constanze Müller schaute den Sanitätern ebenso interessiert und alle Informationen aufsaugend zu. Es konnte nicht schaden, von den Sanis etwas zu lernen. Außerdem war Michael noch nicht zurück, die Tote konnte, wie gesagt, nicht weglaufen und sonst gab es im Moment nichts bedeutendes zu tun? Wenig später erschienen sechs Streifenpolizisten, die den Tatort außer- und innerhalb des Grundstückes mit weiß-roten Plastikbändern, auf dem POLIZEIABSPERRUNG stand, und mit persönlichem Körpereinsatz absicherten, um unwillkürlich auftauchende Schaulustige auf Abstand zu halten. Außerdem schufen sie auf Anweisung der Kripo-Beamten sogenannte Trampelpfade für die Rettungskräfte und den anderen am Tatort Beschäftigten, die sich um die Spuren des Verbrechens schlängelten. Mit ihnen erreichte der gerufene Notarzt – eine Notärztin mittleren Alters, leicht untersetzt wirkend, mit dunklen Augenringen und scheinbar ungekämmten Locken und Notarzt-Montur, namens Doktor Isolde Baumann – das Haus, die sich sofort den Zustand der Patientin erklären ließ, um weitere Schritte einleiten zu können. Zwei Beamte der Spurensicherung, mit drei unterschiedlich großen Metallkoffern ausgerüstet, folgten. Sie trugen dünne, lila farbige Handschuhe, weiße Schutzanzüge – Tyvek-Anzüge – und weiße, einmalig verwendbare Überschuhe, und begannen, nach einer kurzen Einweisung durch Kommissar Hofer, gezielt kriminalistisch relevante Spuren im ganzen Haus zu sichern, in dem sie unter anderem aus mehreren Sichtweisen den Tatort fotografierten, die einzelnen Spuren ausnummerierten sowie Proben des Ameisenschleims und einige lebende wie tote Ameisen in separaten Reagenzgläsern sammelten. Außerdem fanden die Beamten im Bad ein mit eingetrockneten Bluttropfen getränktes Handtuch und eine mit Blut befleckte Duschbürste vor, welche sie ebenfalls mitnahmen. Genauso wie einige Haare und ein abgerissener Fingernagel. Auch die getragene Kleidung der Toten, die im Bad hing, sollte auf Spuren untersucht werden. Da der Gerichtsmediziner nicht rechtzeitig vor Ort sein konnte, wurde unverzüglich nach der Spurensicherstellung das städtische Bestattungswesen angerufen, um den Leichnam von Doktor Madeleine Kurz mitsamt ihrer anhänglichen Ameisen in einem Leichensack in die Leipziger Gerichtsmedizin in der Johannisallee zu befördern, wo er umgehend – nach Eingang des staatsanwaltschaftlichen Beschlusses – obduziert werden sollte. Die Todesursache war so undurchsichtig wie ein schwarzer Leichensack. Wie auch das Notarztteam und die Kollegen von der Polizei verließen die Kripo-Beamten Müller und Hofer den Tatort, entfernten sich jedoch nicht weiter, als bis zum Zaun des Grundstückes. Leider konnte Michael die Kollegen von der Spurensicherung nicht davon überzeugen, den Schlüsselbund der verstorbenen Frau Kurz bis morgen behalten zu dürfen. Schließlich konnten sich wertvolle Fingerabdrücke darauf befinden. Verdammtes Pech! Allerdings steckte ein Stein aus dem Vorgarten zwischen Tür und Rahmen, damit die Kriminalbeamten noch freien Zugang zum Haus bekamen. Draußen wurden sie auf einige Schaulustige aufmerksam, die sich trotz der sibirischen Kälte ins Freie gewagt hatten. Vereinzelte inhalierten zügig und tief den Rauch ihrer Zigarette, um sich auf diese Art und Weise aufzuwärmen, bis es nichts mehr zu sehen gab. Andere wiederum waren bis zur Unkenntlichkeit in dicke Wintersachen eingepackt. Auch einige Reporter und ein Kamerateam vom Leipzig Fernsehen befanden sich unter den Anwesenden.
„Herrgott nochmal, wer hat die denn informiert!“ stöhnte Conny entrüstet. „Schau sie dir nur an, wie sie danach gieren, ein paar exklusive Fotos und Stories zu erhaschen.“
„Vor denen sind die Opfer nicht einmal am Ende der Welt sicher. Vermutlich würden wir aber auch so reagieren, wenn wir den ihren Job hätten.“
„Da hast du wohl recht.“
Sie sogen noch einmal die kalte Novemberluft in die Lungen und gingen zurück ins warme Haus, um noch einmal alle Details durchzugehen, die ihnen bei der Aufklärung dieses Falls helfen sollten. Bereitgelegte, weiße Überschuhe streiften sie über, um keine zusätzlichen Spuren zu hinterlassen. Nachdenklich standen sie im Wohnzimmer des schmucken und nun verwaisten Bungalows. Ob ihn irgendjemand kaufen würde, nachdem was hier geschah? Die meisten Leute gruselten sich davor, ein Haus oder eine Wohnung zu beziehen, in dem jemand gestorben oder gar ermordet wurde. Das drückte den Preis für dieses Haus, wenn es in einigen Wochen zum Verkauf stand, ungemein. Falls der Kaufinteressent von den Geschehnissen Wind bekam und der Makler es ihm mehr oder weniger bereitwillig erzählte. Egal. Das war nicht ihr Bier.
„Also“, meinte Constanze und zückte Notizblock und Kugelschreiber. „Tragen wir alle Fakten zusammen, die wir bisher gesammelt haben.“ Sie notierte mit schneller und doch gut leserlicher Schrift Namen, Datum und Uhrzeit. „Wir haben eine international anerkannte Biologie-Wissenschaftlerin, die heute morgen, offensichtlich unerwartet, da selbst ihre Haushälterin nicht von ihrem Besuch informiert worden war, mit dem Flugzeug aus New York in Leipzig ankam und zwar gegen 0.33 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Stunden später – gegen 8.15 Uhr – fanden wir Doktor Kurz tot auf. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits etwa eine Stunde tot.“ Während sie sprach, vermerkte sie weitere Notizen, um sicherzugehen, dass sie nichts von Bedeutung vergaß. „Unerklärlicherweise tummelten sich Dutzende von Ameisen auf ihrem Körper.“
„Und in ihrem Körper“, fügte Michael hinzu und schauderte erneut bei diesem Gedanken.
Ihre Kollegin nickte angewidert von dem Gedanken und der Vorstellung. Wie auf Kommando durchlief ein Frösteln ihren eigenen Körper. „Also, da stellt sich als erstes die Frage, mit welchem Fahrzeug Frau Kurz nach Hause fuhr.“
„Schauen wir in der Garage nach. Obwohl ich meine, dass sie sich eher ein Taxi vom Airport genommen hat. Vor der Garage gab es keine Reifenspuren. Außerdem glaube ich kaum, dass jemand so blöd ist und freiwillig für mehrere Monate überteuerte Standgebühren für das Parkhaus auf dem Flughafengelände bezahlt.“
Wieder traten sie hinaus in die frostklirrende Kälte. Ihnen war zumute, als liefen sie gegen eine Wand aus prickelndem Eis. Der Wind trieb ihnen augenblicklich die Tränen in die Augen und fegte sie mit der nächsten Böe hinweg. Die Sonne verbarg sich hin und wieder hinter dahinziehenden Fetzen aus grauen Dunstschleiern, die das satte, klare Bild eines eisblauen Himmels störten. Wirbelnde Wölkchen entstanden vor ihren Gesichtern, die ebenso schnell davongetragen wurden. Eine scheiß Kälte!Und beide trugen keine Mützen bei sich. Zu dumm. Dafür setzten die Kommissare ihre Kapuzen auf und schnürten diese fest, dass sie ihnen nicht von den Köpfen flogen. Die Überschuhe steckten sie in die Jackentaschen. Vielleicht brauchten sie diese noch einmal. Einzelne Zuschauer beobachteten noch immer voller Neugier den Tatort, obwohl es nichts mehr zu sehen gab. Sämtliche Einsatzkräfte, die Kollegen von der Spurensicherung sowie das Fahrzeug vom Bestattungswesen waren schon seit Minuten verschwunden. Ebenso wie die aufdringliche Presse und das Fernsehen. Sie alle hatten, was sie wollten. Was, also, hielt diese Gaffer noch hier? War es denn so hochinteressant, zwei Kommissaren zuzuschauen, die sich meterweise im Garten bewegten und dabei so leise berieten, dass sie eh keiner verstand? Die Kripobeamten konzentrierten sich auf ihre Aufgabe und ignorierten die paar lästigen Besucher, die sich noch immer hinter der Polizeiabsperrung die Beine in den Bauch standen und kleine, weiße Rauchwolken aus Nasen und Münder in den Himmel bliesen. Irgendwann würden die auch verschwinden.
Es gab keine Verbindung zwischen Haus und Garagenbau. Und leider auch keine Schuhspuren oder Spuren von Kofferrollen. Michael prüfte dennoch das Tor, um sicher zu gehen. Sie mussten jedes Detail inspizieren. Jeder Hinweis zählte. „Es ist abgeschlossen. Gibt es noch eine Seitentür oder ein Fenster, Conny?“
„Ein Fenster.“ Sie kratzte mit den blanken Fingernägeln mühsam den Frost von der Scheibe und spähte hinein. „Verdammt, ist das kalt!“ Ein älterer, gepflegter 1er BMW stand in der sonst leeren, sauberen Garage. Das Fahrzeug war weder nass noch hatten sich feuchte Spuren von den Reifen oder herabtropfender Nässe gebildet. Es sah blitzeblank aus, wie gerade vom Autohändler gekommen.
„Und?“
„Mit ihrem Auto ist sie wohl nicht gefahren.“ Sie machte sich eine Notiz. „Wir werden die Taxizentralen befragen, ob jemand unser Opfer befördert hat. Da bin ich mir zu 99 % sicher.“
„Das kann Stefan am Montag übernehmen.“
„Gute Idee.“ Stefan Tauchnitz war auf ihrer Dienststelle der Mann für jegliche Beschaffungen von Informationen. „Also, die Schleifspuren im Flur gehören definitiv zu den Stiefeln der Toten. Das konnte mir die Spurensicherung bereits versichern. Wir haben, abgesehen von unseren eigenen und denen der Einsatzkräfte, vier weitere, verschiedene Schuhspuren. Das erste Profil gehört wiederum zum Opfer, das zweite zu Frau Schmidt, der Haushälterin. Die anderen zwei gehören, nach erster Einschätzung der Spurensicherung, zu Männerschuhen, die sich im Haus verteilen. Zum einen wären das eine Art Wanderschuhe oder Winterstiefel. Die anderen gehören vermutlich zu Herrenschnürschuhen. Das wirft die nächsten Fragen auf. Wer befand sich noch im Haus? Wann? Und aus welchem Grund? Und auf welche Art kamen diese noch unidentifizierten Personen hinein.“
Beide wussten keine Antworten darauf.
Conny setzte zu einer neuen Frage an. „Wie lange braucht man mit dem Taxi eigentlich vom Flughafen bis hier her? Ich bin diese Strecke noch nie selbst mit dem Auto gefahren. Mit der S-Bahn ist es viel bequemer und stressfreier.“
„Tja, in Anbetracht der Witterungsverhältnisse bestimmt 50 Minuten. Dazu kommt noch die Zeit zwischen vollständigem Halt des Flugzeuges sowie Aussteigen der Fluggäste und Ankunft am Taxistand. Wenn es gut geht, sagen wir eine dreiviertel bis eine Stunde. Vielleicht auch länger. Kommt darauf an, wie lange die Passagiere am Ausgabeband auf ihr Gepäck warten müssen und ob der Zoll die Koffer kontrollieren will.“
„Dann war Frau Kurz also gegen drei Uhr zu Hause.“
„Schon möglich.“
Müller nickte nachdenklich, machte ein paar Stichpunkte auf ihrem Notizblock und fuhr dann mit einer anderen Frage fort, während ihr die Fingerspitzen bereits abfroren. „Erinnerst du dich noch an die Spuren auf dem Zuweg?“
„Ja. Nachdem nun ein Dutzend Leute darüber getrampelt sind, können wir die wohl vergessen.“
„Nicht ganz, verehrter Kollege. Die Spurensicherung hat an dem Zuweg keinerlei Interesse gezeigt. Wir wissen allerdings, dass sich darunter auch Schleifspuren und Laufspuren von verschiedenen Schuhprofilen befanden. Das stellt sich mir die Frage, wie diese Spuren zustande kamen?“
„Doktor Kurz muss wohl ins Haus und dann bis zur Couch geschleift worden sein?“
„Kluger Gedanke. Hm, vom Taxifahrer oder von dem zweiten Unbekannten? Oder von beiden? Aber warum? Ließ ihr gesundheitlicher Zustand bereits zu wünschen übrig oder wurde sie absichtlich in die Bewusstlosigkeit katapultiert?“
Auf jeden Fall hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt.“
„Kannten sich die zwei uns Unbekannten etwa? Trafen sie sich zufällig? Ach nein, vergiss das! Das ist Unsinn! Wahrscheinlicher ist es, dass der zweite Unbekannte dem Taxifahrer und Frau Kurz auflauerte und auf die Gelegenheit wartete, ins Haus zu schlüpfen, bevor die Tür ins Schloss fiel. Das heißt aber auch, dass der zweite Unbekannte genau über Frau Kurz und ihre Reisezeiten Bescheid wusste.“
„Die Wahrscheinlichkeit deiner Theorien liegt bei Fünfzig zu Fünfzig. Alles ist möglich.“
„Ich liebe diese Rätsel und wie sich dann alles Stück für Stück zusammenfügt“, warf Constanze herzlich ein und ihre Augen glänzten voller Enthusiasmus.
Michael griente kurz zurück. Er verstand seine Kollegin sehr gut. „Die Kollegen von der Spurensicherung konnten keinen Hinweis auf eine Manipulation des Haustürschloss feststellen. Die Terrassentür fanden sie ebenfalls verschlossen vor. Genau wie sämtliche Fenster. Einen Keller gibt es nicht, ebenso keine Dachfenster. Nur die Revisionsöffnung. Wie kamen die anderen zwei Personen also ins Haus? Öffnete das Opfer ihnen die Tür? Gab es einen Zweitschlüssel? Er wird wohl kaum unter der Fußmatte oder im Blumenkübel gelegen haben, die es hier, nebenbei bemerkt, gar nicht gibt.“
„Ebenfalls mögliche Theorien. Spontan fällt mir dazu allerdings keine Antwort ein. Ich fürchte, wir tappen noch tüchtig im Dunkeln.“
„Sieht ganz danach aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir den Lichtschalter finden. Was ist mit den Sachen aus der Aktentasche, die auf der Couch lagen? Hat das Opfer selbst oder tatsächlich jemand anderes – einer der noch nicht identifizierten Personen eventuell – nach etwas bestimmten gesucht? Trug sie etwas bei sich, das für den zweiten Unbekannten von großer Bedeutung war? Er es stehlen musste, um es zu erlangen?“
„Hm, im Moment können wir dies zwar in Betracht ziehen, aber noch nicht bestätigen. Komischerweise ist ihr Koffer nicht ausgeräumt.“
„Schlafzimmer und Esszimmer sind unberührt. Im Bad wurden mehrere Blutspuren an unterschiedlichen Stellen entdeckt. Im Labor wird es auf Zugehörigkeit untersucht. Möglicherweise gab es auch einen Kampf. Die Duschbürste, die sichergestellt wurde, zeigte Blutspuren und ein silbergraues Haar, genau wie an einem Handtuch, und am Hinterkopf der Toten haben die Kollegen der Spurensicherung ein angeschwollenes Hämatom entdeckt, dass definitiv nicht vom Sturz auf den Küchenboden herrührte. Nach ihrer Schätzung ist es mehrere Stunden alt. Vermutlich stammt es von einem Sturz im Bad.“
„Frau Kurz hat definitiv kein silbergraues Haar.“
„Scharf beobachtet.“
„Sie litt doch an Diabetes. Möglicherweise war sie unterzuckert und gestürzt. Das würde auch den vielen Traubenzucker und die Unmengen aufgerissener Schokoladenpackungen erklären.“
„Diese Überlegung sollten wir in Betracht ziehen. Obwohl ich meine, dass ein bis zwei Teelöffel Traubenzucker ausgereicht hätten, um den Blutzucker wieder zu stabilisieren.“
„Ist das so?“
Conny nickte. „Was ist mit der Visitenkarte, die neben der Toten lag?“ fragte seine Kollegin. „Wo ist die überhaupt?“
Michael grinste schelmisch und zog sie aus einer seiner Gesäßtaschen hervor.“
„Alles da, wo es sein soll“, lächelte er. „Die konnte ich unbemerkt einstecken, bevor es jemand merkte.“
„Inklusive mir“, beschwerte sich Conny. „Trotzdem: Sehr gut. Darum wird sich ebenfalls Stefan am Montag kümmern. Ich bin gespannt, welche Beziehung es zwischen dem Institut für Plastische Chirurgie in München und Doktor Kurz gibt … äh gab.“
„Oder wir recherchieren selbst.“
„Oder das. Wir haben nachher genügend Zeit.“
Sie schwiegen eine Weile und starrten auf die vereinzelt, toten Ameisen, deren Spur sich im Garten des Grundstückes verlor.
„Und was ist mit den ganzen Insekten? Wo kommen die her? Das will mir einfach nicht in den Kopf“, überlegte Conny kopfschüttelnd. „Was haben die mit der ganzen Sache zu tun? Kann das denn ein Zufall sein?“
„Das weiß ich auch nicht, aber an Zufälle glaube ich eher nicht. Ich hoffe jedenfalls, dass unser lieber Doktor Esser uns mehr dazu sagen kann. Er wird mit Sicherheit die gerichtsmedizinische Sektion an dem Leichnam durchführen.“
„Dann wird dieser Zwerg von Doktor Gabriel sicher auch mit von der Partie sein. Du weißt doch, nach § 89 StPO müssen zwei Ärzte dabei sein, wobei einer ein Gerichtsmediziner sein muss.“
„Ist mir schon ewig bekannt. - Hast du dir alles notiert, Conny?“
„Ja.“ Sie steckte ihr Schreibzeug in die Innentasche ihrer Lederjacke zurück. „Ich denke, hier gibt es für uns erst einmal nichts weiter zu tun. Fahren wir ins Büro. Außerdem: Mir ist saukalt. Der Wind zieht unangenehm durch den Türspalt herein. Wenn ich noch weiter in der Kälte stehe, werde ich zum Eiszapfen.“ Sie zog die Schultern hoch und steckte die Hände tief in die Jackentaschen.
„Ich habe keine Einwände. Puzzeln wir im Büro weiter an unserem Fall.“
Sie verschlossen die Haustür und klebten ein bereits ausgefülltes, leicht rosa gefärbtes Polizeisiegel des Freistaates Sachsen auf Tür, Türrahmen und Außenfassade, um die für den Strafbestand relevanten Räume für die Öffentlichkeit unzugänglich zu machen, und verließen das Grundstück des Opfers. Die letzten Gaffer hatten sich bereits verzogen. Entweder wegen der Kälte oder weil es tatsächlich nichts zu sehen gab. In ihrem gut beheizten Skoda Octavia RS Hybrid fuhren sie ins Büro ihrer Dienststelle nahe dem Herzen von Leipzig, um die Indizien und unmittelbaren Beweise zu ordnen, einen möglichen Ablauf des Vorfalles zu erstellen und einen vorläufigen Bericht des sonntäglichen Ereignisses zu schreiben. Anschließend nahmen sie sich vor, mit Doktor Esser zu telefonieren – ihm war es eh egal, ob es Sonntag, Mittwoch oder ein anderer Tag der Woche war – und gegebenenfalls die Gerichtsmedizin aufzusuchen, um mehr über den mysteriösen Tod der Wissenschaftlerin zu erfahren. Möglicherweise erhielten sie dort erste Informationen des Tatvorganges und etwaige Anhaltspunkte über das Täterprofil. Die Homepage der toten Doktorin wollten beide zu einem anderen, späteren Zeitpunkt studieren. Auch die auf der Visitenkarte angegebene Internetadresse wollte die beiden unter die Lupe nehmen. Zwischendurch sollte allerdings noch Zeit für ein warmes Mittagessen und einen guten Kaffee sein. Und auch die leckeren Spritzkuchen sollten noch ihren Weg in den Magen finden.
Und das alles an einem bitterkalten und ursprünglich freien Totensonntag!