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Obduktion Obduktion
ОглавлениеDie weißen Fliesen aus DDR-Zeiten klebten immer noch an den Wänden des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Leipzig. Zwei Drittel der deckenhohen Fenster bedeckte weiße, leicht strukturierte Folie, um niemanden einen Einblick in den schaurig, makabren Beruf des Gerichtsmediziners zu gewähren. Zusätzlich gab es noch Außenrollos, die die Räumlichkeiten vor Hitze schützten. Die Einrichtung des 200 qm großen Raumes bestand hauptsächlich aus Möbeln aus geschliffenem Edelstahl. Vier feststehende, höhenverstellbare Seziertische – mit Randabsaugung und perforierter Arbeitsfläche – standen in gleichmäßigen Abständen an der langen Fensterfront. Einhundertfünfzig Zentimeter über den Tischen hingen Zulufthauben mit regulierbarem Luftstrom und einer gleichmäßigen Beleuchtung von 2000 Lux. An den Wänden standen und hingen mehrere Schränke – abschließbar – ein Nasspräparateschrank,ein Organ-schneidetisch, zwei weitere Zuschneidetische, ein Färbetisch, eine Formalin-Entsorgungsstation und verschiedene andere Arbeitsplätze. Neben dem Ein- und Ausgang des Labors befand sich hinter einer ebenfalls edelstählernen Doppeltür der Kühlraum für die Leichen. Kurioserweise hingen an den verschiedenen freien Flecken der Wände A4-große Landschafts-Fotografien, die dem sterilen, toten Saal ein Hauch von Leben und Frische geben sollten, aber im Grunde nur unglaublich fehl am Platz wirkten. In den angrenzenden Räumlichkeiten auf der gleichen sowie ober- und unterhalb gelegenen Ebenen und einem mehrstöckigen Anbau reihten sich Büros und weitere Labors wie Biopsieabteilung, Zytologieabteilung mit DNA-Zytophotometrie-Labor, Toxikologieabteilung und andere Sektionen aneinander. Außerdem verfügte das angesehene Institut über eine Knochenentfettungsanlage (zur Präparation von Knochen), eine Knochen-Mazerationsanlage (ebenfalls zur Skelettpräparation) und ein Imprägnierungsbad zur Konservierung von Gewebe, einer hochmodernen Kryokonservierungsanlage, mit der zum Beispiel Gewebe, Zellen und Körperflüssigkeiten für lange Zeit unbeschadet eingefroren werden können, sowie einer nicht unerheblichen Anzahl an weiteren, interessanten Gerätschaften zur pathologischen Diagnostik. Einfach alles, was das Herz des Pathologen begehrte. Ein sehr modern eingerichtetes und ungemütlich aussehenden Institut der Rechtsmedizin.
Der leicht gebeugt stehende Mann in der hellblauen Chirurgenkleidung trug zusätzlich eine weiße, bis zu den Knöcheln reichende, derbe Schutzschürze, helle Nitrilhandschuhe sowie einen Mund- und Nasenschutz und einen Gesichtsschutzschirm mit integrierter Leuchte in der Stirnabdeckung. Sein intensiver Blick begutachtete die frei liegenden, inneren Organe einer Toten, die vor ein paar Stunden gebracht wurde, mit dem dringenden Auftrag einer sofortigen Obduktion. Neben dem Mediziner stand ein fahrbarer Wagen mit zwei Ebenen aus geschliffenem Edelstahl. Zuoberst, auf einem grünen Tuch, lag – penibel geordnet – das Chirurgenbesteck: verschiedene Seziermesser, anatomische Pinzetten und Scheren für Gedärm und Knochen sowie auch eine alte Suppenkelle aus ziemlich abgenutztem Aluminium, die als Blutschöpflöffel diente. Auf einem zweiten Wagen lag der, mit einem chirurgischen Winkelschleifer, in zwei Hälften geteilte, blutverschmierte Thorax (Brustkorb) und das Sternum (Brustbein). In zwei großen Schalen befanden sich die völlig durchlöcherte Hepar (Leber) sowie der Intestinum crassum (Dickdarm) und der Intestinum tenue (Dünndarm). Ein Teil der Schädelplatte ruhte daneben, wie eine antike Opferschale, die der Priester mit Blut einer Jungfrau befüllt hatte. Auf einem Metalltablett stapelten sich mehrere Dutzende toter und reglos liegender Ameisen von ungefähr 7-8 mm Körpergröße, dessen Hinterleiber dunkelrot schimmerten und offensichtlich prall gefüllt waren mit irgendeiner Substanz. Einige von diesen Exemplaren zuckten noch unkontrolliert mit dem einen oder anderen Beinchen und den Antennen. Ein letztes Aufbäumen. Ein aussichtsloser Kampf ums Überleben. Sie waren allesamt verloren.
„Ich sag's euch, Leute.“ Doktor Esser redete, während er begierig und unentwegt die Absurdität an und in dem Leichnam erforschte und gleichzeitig nach kugelsicheren Antworten suchte. „Etwas Derartiges habe ich während meiner gesamten Laufbahn als Gerichtsmediziner und Pathologe noch nicht gesehen. Das ist einfach unglaublich! Mehr als unglaublich! Eine medizinische Anomalie. Einfach faszinierend! Ich weiß nicht, wie ich es sonst in Worte fassen soll.“ Mit einem Seziermesser mittlerer Größe und einer anatomischen Pinzette bewaffnet, schob, hob, zerrte, drückte und schnitt er an den Organen herum, um diese zu erforschen. Ab und an entfernte er mit der alten Alu-Suppenkelle überflüssiges Blut aus dem frei liegenden Bauch- und Brustraum des Toten, um die Sicht auf die Anatomie der Leiche zu verbessern. Den dunkelroten Lebenssaft ließ der Gerichtsmediziner plätschernd in einem bereitstehenden Edelstahleimer mit Skalierung verschwinden.
Die Kripo-Beamten standen wie versteinert vor Doktor Esser und seinem Arbeitsplatz voller Blut, totem Menschenfleisch und rot verschmierten, medizinischen Instrumenten. lich sah es wie auf einer mittelalterlichen Schlachtbank aus. Oder in einem klassischen Horrorkabinett – in der Hauptrolle nicht Christopher Lee, sondern Doktor Marius Esser. Der typische Geruch von Fäulnis, Verwesung und chemischen Mitteln lag in der Luft. Vorrangig von Fäulnis und Verwesung. Wie hielt er das nur jeden Tag aus? Quälten ihn deswegen Alpträume oder Gewissensbisse? Wurde ihm denn nicht übel von dem Gestank der eröffneten Leiche? Was veranlasste einen Menschen, einen solch unnormalen Beruf zu ergreifen? Eine echt spannende Frage, die die beiden Polizisten ihrem Freund Doktor Esser merkwürdigerweise noch nie gestellt hatten. Unter dem Begriff Traumberuf stellte man sich normalerweise etwas ganz anderes vor.
„Was … was ist denn so faszinierend an der Toten?“ fragte Conny und wagte kaum zu atmen.
„Ihr Zustand“, lautete die simple Antwort.
„Du meinst, dass sie von diesen Viechern, ähm, besetzt ist?“
„Ja. - Ich glaube, ihr könnt das gar nicht verstehen“, fügte er ergänzend hinzu.
Constanze Müller stöhnte innerlich auf vor Unbehagen, während sie den Kopf schüttelte „Nee, können wir auch nicht. Unsere Leidenschaft geht andere Wege.“
„Klar, das weiß ich doch.“
„Wo ist denn dein Kollege?“ wollte Kommissar Hofer mit argwöhnischem Blick und hochgezogenen Augenbrauen wissen. „Ich dachte, bei einer gerichtsmedizinischen Obduktion muss ein zweiter Arzt anwesend sein?“
„Er kommt erst Montagnacht aus dem Urlaub zurück. Malediven.“ Es klang eher beiläufig, kaum erwähnenswert. Jedoch auf jeden Fall herablassend. „Leute wie er wissen einfach nicht den heimischen Urlaub im Bayerischen Nationalpark oder an der Ostsee zu schätzen.“ Er schüttelte unmerklich den Kopf.
„Doktor Helmut Gabriel nehme ich an“, schätzte Hofer gezielt.
„Wer sonst“, schnaufte Doktor Esser. „Dieser Mann ist einfach nur eine Qual. Es kostet mich jedes Mal Nerven, mit ihm zusammen zu arbeiten. Zu müssen. Der Herr Besserwisser! Manchmal glaube ich, der hat seine gesamte Ausbildung inklusive seines Doktortitels im Internet absolviert. Er ist einfach nicht mit dem ernsten Engagement bei der Sache, dass die Arbeit von ihm verlangt.“ Er seufzte bedauernd. „Für ihn ist es keine Berufung. Ihm geht es ausschließlich um die gesellschaftliche Stellung.“ Er schüttelte kurz und heftig den Kopf, wobei er flüchtig die Stirn in Falten legte. „Nun gut, ich will euch nicht die Ohren voll jammern, Freunde. Deswegen seid ihr nicht gekommen.“
„Gibt es denn keinen anderen Arzt, der die Obduktion mit dir durchführen kann? Dazu brauchen die Ärzte doch keine extra Lizenz?“
„Zu deiner zweiten Frage: Nein. Es ist jedoch ein spezialisierendes Studium notwendig. Zu deiner ersten Frage: Für diese unliebsame Arbeit sind sich doch die meisten Mediziner zu fein. Der andere Teil arbeitet bereits rund um die Uhr. Da muss man nehmen, was übrigbleibt. Ihr wisst doch wie das heutzutage ist. Überall Personalmangel.“
„Hast du deinen Kollegen telefonisch über die Sektion informiert? Weiß er, dass du bereits begonnen hast?“
„Nein. Warum sollte ich ihn darüber in Kenntnis setzen? Ich bin doch nicht blöd. Er würde mir streng nach Vorschrift die Leviten lesen, von wegen Störung der Totenruhe ohne Autorisierung durch die Staatsanwaltschaft und so. Darin ist er ein wahrer Meister. Dafür haben wir auch gar keine Zeit.“
„Aber es ist doch eine gerichtliche …“ Müllers erstaunter Einwand war nun voll berechtigt.
„Morgen ist Montag“, wehrte der Doktor lässig ab. „Dann wird es eine gerichtlich angeordnete Sektion sein. Bis dahin ist es noch inoffiziell und bedarf keines weiteren Arztes.“
„Oh verdammt! Damit bringst du dich in Teufels Küche, mein Lieber!“
„Macht euch mal keine Sorgen! Das Fax dafür liegt bereits beim Richter. Richter Vogelsang. Den kennt ihr ja. Ihr beiden seid ja seine absoluten Lieblinge. Außerdem wird er mir die Dringlichkeit nicht vorwerfen, mit der ich an dem Leichnam arbeite. Dieser außergewöhnliche Tod musste einfach umgehend obduziert werden. Könnt ihr nachlesen im neuen Entomologischen Seuchengesetz §9, Absatz 2 …“
„Okay, okay. Wir haben verstanden“, wehrte Constanze schnell ab und unterstrich ihre Aussage mit einer entsprechenden Handbewegung. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust sich komplizierte Paragraphen anzuhören. Michael erging es gewiss ebenso.
„Schön“, meinte der Pathologe und widmete sich weiter seiner höchst interessanten Arbeit.
Die beiden Leipziger Kommissare Constanze Müller und Michael Hofer betrachteten die Stirn runzelnd und naserümpfend den Doktor eine ganze Weile bei seiner Tätigkeit. Wie er gleichsam ruhig und fieberhaft an der Entschlüsselung des Rätsels arbeitete, das den ehemals lebendigen Menschen ins Jenseits beförderte. So interessiert, wie ein Kleinkind, dass etwas neues entdeckte oder eine neue Erfahrung gerade machte. Bedenkenlos ein faszinierender Anblick. Marius Esser war mit Leib und Seele Mediziner. Und ein sehr guter Freund. Trotz alledem blieben die Treffen im Revier des Doktors nicht ohne spürbare Folgen. Ein in der Magengegend kribbelndes Unbehagen, sogar Übelkeit überkam sie ab und zu und je nach Zustand und Geruchsentwicklung des Leichnams, wenn sie Doktor Marius Esser – Pathologe der Universitätsklinik und für die Leipziger Kriminalpolizei als Gerichtsmediziner tätig – aufsuchen mussten. Ein totes Opfer am Tatort anzuschauen, es anzufassen und gegebenenfalls geringfügig zu bewegen, um mögliche Infos zu erhalten, das war ihr Job und sie hatten sich daran gewöhnt. Doch einem ehemals lebendigen Menschen in die blutenden Eingeweide des vom Kinn bis zum Schambereich geöffneten Körpers zu schauen, war etwas ganz anderes. Obendrein stocherte und schnitt noch jemand darin herum. Dafür brauchten die beiden eigentlich jedes Mal Nerven aus Stahlseil. Wenn das überhaupt reichte. Die Kripobeamten fragten sich, unabhängig voneinander, warum sie eigentlich noch keine Vegetarier waren. Wie hielt das Doktor Esser nur jeden Tag aus? Sollte man in Bezug auf den Job möglicherweise fetischistisch veranlagt sein? Skrupellos auf jeden Fall. Und Emotionen durfte man auch nicht zulassen. Fehlte nur noch, dass er nebenbei ein belegtes Brötchen, Pralinen oder so was aß. Und der dampfende Kaffee stand direkt neben den unappetitlich, schleimig und blutig aussehenden Eingeweiden der Verstorbenen. Abscheulich! Als Entschädigung erhielten die Beamten jedoch stets wertvolle Informationen zur Lösung des Falles, an dem sie gerade arbeiteten. In den meisten Fällen war so eine Obduktion nach zwei bis drei Stunden erledigt und die Todesursache geklärt. Hier würde es wegen des ungewöhnlich verstümmelten Körpers wohl etwas länger dauern.
Der Arzt bemerkte, wie die beiden Polizisten die Nasen rümpften. „Wenn euch das bestechende Aroma meines Arbeitsplatzes missfällt, nehmt euch ruhig einen Mundschutz. Ihr wisst ja, wo die Dinger liegen“, meinte er unecht schmunzelnd. „Gleich neben dem Sauerstoffanschluss.“ Schwarzer Humor vom Feinsten.
„Das hättest du wohl gern, dass wir dir noch vor die Füße fallen. Es ist dieses Mal nicht so schlimm“, behauptete Michael tapfer, obwohl er am liebsten die verbleibende Zeit die Luft angehalten hätte.
„Wirklich, es ist auszuhalten“, pflichtete Conny ihrem Kollegen ebenso mutig bei. „Wir waren schon schlimmeren Gerüchen ausgesetzt. Wirklich!“ Sie riss schnell ein anderes Thema an. „Hör mal, wenn es dich nicht bei deiner Arbeit stört, wollen wir uns noch etwas mit dir unterhalten. Wir haben da noch ein paar ungeklärte Fragen.“
„Kein Problem. Schieß los, Conny! Möglicherweise bin ich bereits im Besitz der Antworten. Finden wir's heraus!“
„Gut, dann komme ich noch einmal auf die Ameisen zu sprechen. Als wir den Leichnam von Frau Doktor Kurz fanden, kamen die Viecher aus allen möglichen Körperöffnungen und Wunden gekrochen.“ Während sie sprach schüttelte sie angewidert und Unverständnis anzeigend den Kopf und vergrub die kalt gewordenen Hände in den Jackentaschen.
„Das ist verständlich.“ Der Mediziner schaute kurz hoch. „Es liegt in der Natur der Ameisen, Gänge in ihrem Bau zu graben.“
„In ihrem Bau?“ fragte Conny konsterniert. Ihre Augen weiteten sich auf Übergröße.“ Wie kannst du das nur so locker dahinsagen!
„Ja, diese Ameisenart hat sich, so absonderlich das für uns klingen mag, einen Menschen als Nest ausgesucht.“
„Das ist doch völlig unmöglich!“
„Natürlich!“ erwiderte Doktor Esser ruhig und griff mit der Pinzette nach einer weiteren reglosen Ameise, die am rechten Unterlappen der Lunge klebte. „Wie alle Lebewesen, benötigen auch Insekten Nahrung und vor allem Sauerstoff zum Überleben. Wenn ich richtig geschlussfolgert habe, ist es bei dieser Art genau umgekehrt. Kaum, dass sie längere Zeit Kontakt mit der sauerstoffreichen Umgebung aufgenommen haben, sterben sie innerhalb einer bestimmten Zeit. Normalerweise werden Leichen je nach geographischer Lage, Temperatur, Feuchtigkeit und Sonneneinstrahlung von Schmeißfliegen und anderen Insekten besiedelt. Sozusagen ein spontaner Befall nach dem Ableben des Menschen. Ihr sagtet ja auch, dass es keinen Hinweis auf einen Ameisenbau im Haus gab. Es bleibt nur eine Möglichkeit, die ich jedoch mit Vorsicht in Erwägung ziehe.“
Die beiden Kommissare platzten vor Neugierde.
Doktor Esser holte tief Luft (soweit ihm das der Mundschutz und die Umgebung zuließ). „Nach meinen ersten Untersuchungen zufolge und allem Anschein nach hat irgendjemand Frau Doktor Kurz zu Lebzeiten diese ungewöhnliche Art von Ameisen in ihren Körper gepflanzt. Vermutlich, als sie noch nicht aus ihren Eiern geschlüpft und sich verpuppt hatten. Diese Entwicklungen dauern in der Regel und je nach Ameisenart zwei bis sechs Wochen oder länger.“
Die Kommissare blickten den Pathologen sekundenlang entsetzt und atemlos an. Was für eine himmelschreiende und absurde Theorie, doch offensichtlich nicht auszuschließen. Es dauerte eine ganze Weile, bis beide ihre Sprache wiederfanden, denn schließlich mussten sie das Gehörte erst einmal verdauen. Auch wenn es sich um eine Theorie handelte.
„Dann haben wir es hier möglicherweise mit einem Verbrechen zu tun!“ platzte Conny erschrocken heraus. In ihrem Geiste entstand die unangenehme Vorstellung, dass Ameisen kreuz und quer über und durch ihren Körper wuselten. Automatisch fühlte sie an verschiedenen Körperstellen ein unangenehmes Krabbeln. Sie schüttelte sich unmerklich. Abscheulich und irgendwie auch gruselig. Wahrscheinlich würde sie heute Nacht davon träumen. Sie war nun wirklich kein Weichei und Michael eben so wenig, doch manche Dinge, manche Erlebnisse, blieben noch eine Zeit lang an ihnen kleben, wie ein Schatten, der einen Menschen ins emotionale Unglück stürzen wollte.
„Ich will deine Vermutung noch nicht bestätigen, doch ich denke in etwa in die gleiche Richtung. Irgendjemand oder sogar die Wissenschaftlerin selbst – diese Annahme muss ich trotz allem mit erwähnen, auch wenn dies eine eher abartige Form der Forschung darstellt, sie jedoch hin und wieder praktiziert wird – experimentierte offensichtlich mit Ameisen am lebenden, menschlichen Körper. Ich bedauere ihren Tod sehr. Doktor Madeleine Kurz war eine angesehene Biologin auf unserem Planeten. Ich wünschte, ich hätte sie unter anderen, angenehmeren Umständen kennengelernt. Das ungeheure Wissen, was sie besaß, hätte meines sehr bereichert. Bereits ein Treffen mit ihr, wäre geradezu göttlich gewesen.“
Wow! Es wird Zeit, dass sich unser lieber Doktor nach einer Gefährtin umsieht. Dieser ewige Junggeselle. Er kann doch nicht nur mit seiner Arbeit verheiratet sein. Das ist doch nun auch nicht die Erfüllung. Leichen sind zwar ausgezeichnete Zuhörer, aber zum Schmusen und zur Konversation völlig ungeeignet.
„Ein äußerst ungewöhnliches Experiment.“ Michael war von dieser Vorstellung nicht begeistert. Ein kalter Schauer jagte turbogleich über seinen Rücken. Er ließ sich vor den anderen nichts anmerken. Schließlich wollte er keineswegs als Schwächling dastehen.
„In der Tat. Da die inneren Organe der Frau extrem durchlöchert und angefressen sind, nehme ich an, dass die Ameisen das Gewebe als Nahrung benutzt haben müssen. Mal sehen, ob ich irgendwo noch eine Königin und eventuell eine Brut finde. Das wäre – entschuldigt meinen Anflug von Enthusiasmus - die Krönung dieses außergewöhnlichen Experimentes. Nicht zu verwechseln mit dem Grund, weshalb dies überhaupt geschah.“
„Das ist ja absolut ekelhaft!“ keuchte Conny vor Abscheu. Am liebsten wäre sie jetzt doch hinausgerannt, so schlecht war ihr bereits. Eher nicht wegen der Geruchsbelästigung und der eröffneten Leiche, eher wegen Doktor Essers außergewöhnlichen Theorien. Angewidert verzog sie das Gesicht, verengte die Augen und rümpfte die Nase, blieb jedoch tapfer, mit angespannter Haltung, neben ihrem Kollegen stehen. Nur keine weitere Schwäche zeigen! Nicht vor Doktor Esser. Du hast schon genug erlebt und gesehen. Das hier wirst du auch noch überleben. Sie ballte die Hände in den Jackentasche zu Fäusten.
„Ich stimme dir voll und ganz zu“, bestätigte Michael mit einem kurzen Seitenblick auf seine Kollegin und verzog ebenfalls das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. „Das ist der bisher widerwärtigste Fall, den wir je hatten. Ich frage mich, warum tut jemand so etwas? Was ist nur aus unserer schönen Welt geworden?“ Wenn nur noch das Böse die Herzen der Menschen beseelt …
„Die Gründe für diese Tat herauszufinden wird unsere Aufgabe sein. Auf das Ergebnis bin ich schon sehr gespannt.“ Doktor Esser pulte weiter zwischen den Innereien der Leiche herum. „Hallo, was haben wir denn da?“ fragte er sich selbst überrascht.
„Was ist?“ fragten die Kommissare gleichzeitig. „Was hast du gefunden?“
Mit einer anderen Pinzette griff er behutsam nach einer etwa eineinhalb Zentimeter kleinen, glänzenden Fleischkugel, die mittels einem sehnigen Faden an der Rückwand des Ventriculus (Magen) hing, den der Gerichtsmediziner kurzerhand mit einem Seziermesser durchtrennte. „Was könnte das wohl sein?“ Er klappte den Gesichtsschutz nach oben und hielt sich das von einer schimmernden Schleimhaut umgebene, seltsame Gebilde direkt vor die Augen. „Es scheint, als befände sich eine Flüssigkeit darin. Und außerdem finde ich“, er entfernte den Mund- und Nasenschutz, „ich finde, es riecht schon die ganze Zeit, seitdem der Leichnam hier angekommen ist, ein wenig nach …“
„Honig und Parfum“, vollendete Hofer den Satz gezielt.
„Genau. Woher weißt du das?“
„Ich habe den Geruch bereits im Haus der Toten wahrgenommen.“
„Ach ja?“ funkte Conny überrascht dazwischen. „Davon hast du mir noch gar nicht erzählt. Seit wann hältst du vor mir Informationen zurück, hä?“
„Bleib doch mal ganz ruhig. Ich hielt es erst nicht für wichtig oder Einbildung meines Geruchssinnes. Riechst du denn jetzt nichts?“
„Nee. Und wenn ihr glaubt, ich tauche meine Nase in die Leiche, dann habt ihr euch getäuscht“, erwiderte sie gereizt und eingeschnappt zugleich.
„Das verlangt ja auch keiner von dir, Conny.“
„Michael, wo genau hast du den Geruch festgestellt? Im Haus oder am Leichnam selbst?“ forschte der Mediziner nach.
„Als ich mich direkt über den Leichnam beugte. Ich dachte zuerst, es wäre ihr Parfum …“ Er zuckte nichtsahnend mit den Schultern.
„Wie schätzt du die Intensität dieses ungewöhnlichen Duftes im Moment ein? Ist er stärker oder schwächer als am Tatort?“
Der Kommissar verzog schnüffelnd das Gesicht. „Ich würde sagen, der Geruch ist nicht wirklich stärker geworden. Vielleicht wird er aber auch nur von dem Verwesungsgeruch überdeckt. So genau kann ich das nicht beurteilen.“
„Das ist äußerst seltsam und – ich muss zugeben – verwirrend. Ich muss unbedingt weitere Untersuchungen vornehmen.“
„Das klingt nicht gerade … normal, wie du das sagst, Doktor Esser“, bemerkte Conny angewidert.
„So ist es“, pflichtete ihr der Mediziner mit unerhört ernstem Gesicht bei. „An dieser Leiche scheint einiges nicht normal zu sein.“ Sorgsam legte er die Kugel aus menschlichem Gewebe in einer weiteren Edelstahlschale ab. „Hört zu, Leute, der unnatürliche Tod dieser Frau wirft eine Menge Fragen auf. Ich werde die Nacht wahrscheinlich durcharbeiten und euch morgen Vormittag gegen, sagen wir 11 Uhr Bescheid geben, was ich herausgefunden habe.“
„Einverstanden. Wir lassen unsere Smarties auf Empfang. Du kannst uns jederzeit anrufen.“
„Natürlich. Wie immer.“