Читать книгу Die Stadt der lauernden Bestien - Jeanny O'Malley - Страница 5

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Kapitel 1: zu Hause

Mein Name ist Melissa und die Ereignisse, von denen ich berichte, liegen so lange zurück, dass sie für einige von denjenigen, die ich früher kannte, schon gar nicht mehr wahr sind. Andere wiederum haben den Ausgang dieser Geschichte, die ich erzählen möchte, leider nicht mehr erlebt. Manchmal kommt mir diese Begebenheit, die einen Wendepunkt in meinen Leben bedeutete, selbst mir unwirklich vor, obwohl mein heutiges Leben das Ergebnis der Dinge ist, die damals geschahen. Zu diesem Zeitpunkt war ich fast noch ein Kind.

Inzwischen bin ich verheiratet und habe zwei Töchter im Teenageralter, die Zwillinge sind. In meinem Haar zeigen sich erste graue Strähnen und in meinem Gesicht finden sich nicht nur Lachfalten. Mein Mann behauptet zwar augenzwinkernd, dass ich genauso jugendlich sei wie zu der Zeit, als er mich kennen lernte, aber ich weiß es besser: Früher als andere junge Frauen habe ich gelernt, wie grausam die Welt sein kann und das hat mich in meiner Entwicklung um Jahre vorausgeworfen.

Meine Geschichte fängt im Jahr 1992 an. Wo es geschah, spielt keine Rolle mehr, aber ich werde im Laufe meiner Erzählung der Stadt den liebevollen Namen Yellowtown geben, weil alles dort an Sand erinnert.

Ausgangspunkt meiner Abenteuer ist das kleine Dorf Norfolk, in dem ich geboren wurde. Dort gab es nicht viel zu sehen, außer den Überresten einer alten Burg inmitten von einigen Häusern und Bauernhöfen. Es passierte wenig in meinem Heimatdorf. Die Leute, Bauern und Handwerker meist, taten ihre Arbeit und waren so zufrieden. Ab und an schmiedete der ein oder andere Dorfbewohner Pläne, um etwa das Bewässerungssystem zu modernisieren, um so als Genie in die Dorfannalen aufgenommen zu werden. Oder er entwickelte künstlerischen Ehrgeiz und wurde als Freigeist bezeichnet.

Freigeist zu sein, also nicht dem gewohnten Trott zu verfallen, sondern das Neue und die Abwechslung zu suchen, das war etwas, das nicht geheuer war, wenn nicht gar gefährlich. Aber selbst für die Freigeister gab es genug Raum in der kleinen heilen Welt, in der ich aufwuchs. Man bedachte sie mit gutmütigem Spott und gab ihnen eine Arbeit, damit sie wenigstens die Butter aufs Brot verdienen konnten.

Überhaupt war die Butter auf dem Brot sozusagen die Devise, nach der bei uns gehandelt wurde. Wenn einer sein Auskommen hatte, dann hat man nicht viele Fragen gestellt. Die Menschen bei uns waren gutmütig, aber nicht dumm, und besagte Butter ließen sie sich bestimmt nicht vom Brot nehmen. Man vertraute sich, nie war eine Tür verschlossen. Man kannte sich ja schon seit Generationen, selten kamen Fremde in unsere Gegend, um sich hier niederzulassen. Eher brach der ein oder andere junger Mensch auf, um seinen Teil von der Welt zu sehen. Schließlich musste man sich im Alter ja was zu erzählen haben, wenn man auf dem Dorfplatz in der Sonne saß und das Jungvolk kritisch beäugte. Am liebsten war den Leuten jedoch, wenn alles seinen Gang ging und in der Familie blieb.

Ich hatte eine unbekümmerte Kindheit mit viel Lachen und Liebe und wenig Komplikationen. Mit meinem Vater baute ich Vogelhäuschen und bekam auch sonst immer handwerkliche Unterstützung bei meinen Kleinmädchenplänen. Er war derjenige, der mich gegen den oft strengen Ton meiner Mutter in Schutz nahm. Wenn diese wieder einmal nicht so mit meiner Nadelarbeit oder meinem manchmal gar zu jungenhaften Benehmen zufrieden war und mir die Leviten las. Aber mit einem älteren Bruder und einem großen Tatendrang geschlagen, blieb mir oft nichts anderes übrig, als des Nachbarn Äpfel zu stibitzen, anstatt die in der Schule geforderte Stickerei zu fertigen.

Wenn mein Vater der Held in meinem Leben war, dann war mein Bruder John der Strolch. Ein Strolch, den ich vergötterte, solange ich klein war. Denn er wusste, wie ich unbemerkt an den Vorräten meiner Mutter naschen konnte, wo es die feinsten Stachelbeeren zu klauen gab und wie man auf einem dünnen Baumstamm über den Dorffluss balancierte. Als ich die Oberschule für Mädchen besuchte, liebte ich meinen Bruder vielleicht noch mehr als vorher. Stets nahm er mich großzügig mit auf seinem Motorrad und stellte mich seinen ungemein interessanten Freunden vor, was mir den Ruf einer frühreifen Person unter meinen Altersgenossinnen eintrug, was mit enormem Ansehen verbunden war. Allerdings behandelte ich John nun oft wie einen großen, tollpatschigen Hund, denn wie ein solcher schmachtete er meine beste Freundin Jessie an.

Meine Mutter hingegen war kein großer tollpatschiger Hund, sondern eher ein Säbelzahntiger. Sie konnte von ganz besonders liebevoll auf unheimlich streng umspringen. Wie ein Vollblutpferd auf einer Sixpence Münze, so pflegte mein Vater zu schmunzeln, wenn wieder einmal die ganze Familie vor einer ihrer Launen in Deckung ging. Sie war die perfekte Hausfrau und Mutter, mein Vater der perfekte Landwirt und Ehemann, und sie erwartete von ihren Kindern, nun eben perfekte Kinder zu sein. Aber dennoch war sie eine liebende Mutter und wir alle liebten sie auch.

Oft hatte ich wegen meiner Zukunft Streit mit meiner Mutter. Ich musste unbedingt raus aus diesem Ort und irgendwo etwas anderes aus meinem Leben machen als Ehefrau und Mami auf einem Bauernhof zu sein. „Ein glücklicher Mensch ist jemand, der weiß, wo sein Platz ist!“ sagte meine Mutter häufig. Doch mir gefiel der Platz nicht, den meine Eltern für mich vorgesehen hatten. Mein älterer Bruder John verstand mich wohl am besten. Ihm ging es in meinem Alter ähnlich, denn unsere Eltern wollten ihn auch am liebsten im Dorf behalten, aber er ging nach Osten, um dort eine Ausbildung als Schlosser zu machen. Ich fragte mich oft, ob ich es ihm gleich tun könnte und auch woanders hingehen sollte.

Zum Glück war ich mit diesen Plänen nicht allein. Meine beiden besten Freundinnen Jessie und Mary sahen sich ebenfalls überall, nur nicht als Hausfrau und Mutter hinterm heimischen Herd. Wir drei besuchten die gleiche Klasse und steckten auch sonst die Köpfe zusammen wie nichts Gutes. Jessie und Mary waren Zwillinge und hatten drei Wochen vor mir Geburtstag. Ihre Eltern waren Bauern, genauso wie meine und sie hatten auch wohl ähnliche Ansichten über die Zukunft ihrer Töchter, wie die meinen. So waren wir also nicht nur beste Freundinnen, sondern gleichsam eine Schicksalsgemeinschaft junger Frauen, die etwas aus ihrem Leben machen wollten. So sahen wir uns auch. Die anderen Mädels aus unserer Klasse hatten bereits einen festen Freund. Das letzte Schuljahr brachten Sie gerade so hinter sich, da sie eigentlich schon längst mit der Frage nach der Farbe des Brautkleides beschäftigt waren. So blieben wir drei unter uns und ließen uns auch nicht auf die Anmache und die Sprüche der Jungs aus unserem Dorf ein.

Ab und an gingen wir mal mit jemandem aus, aber meist blieb es beim harmlosen Händchenhalten, zu mehr fehlte den Jungs der Mut und uns die Lust. Nur einmal war Jessie, die tollkühnste und unbekümmertste von uns Dreien weiter gegangen: Mein Bruder John hatte sich, kurz bevor er in den Osten ging, unglaublich in sie verguckt und ließ nicht locker. Er ging mit ihr aus, arrangierte romantische Treffen und holte ihr einfach die Sterne vom Himmel. Jessie mochte ihn wohl auch ganz gern, war jedoch eher amüsiert und geschmeichelt als wirklich verliebt. In allen Einzelheiten hatte sie uns über Johns Werben auf dem Laufenden gehalten und für Mary und mich, die wir mehr zurückhaltend in solchen Dingen waren, wirkte das Ganze enorm spannend. Als Jessie jedoch an einem Trainingstag der Schultanzgruppe verspätet auftauchte und mit triumphalem Blick wisperte: Ich weiß jetzt, wie es ist, eine Frau zu sein“, war ich etwas erschrocken. Immerhin, erstens war John mein Bruder und ich hatte ihn in so einem Zusammenhang noch nie betrachtet oder mir Gedanken darüber gemacht, was er machte, wenn er und Jessie alleine waren. Und zweitens war das ein großer Schritt, den ein 16 Jahre altes Mädel doch mit etwas mehr Bedacht vollziehen sollte, dachte ich damals zumindest. Dass manche Dinge einfach geschehen, ob man sie plant oder nicht, kam mir mit meiner romantischen Ader gar nicht in den Sinn. Als ich Jessie darauf ansprach, ob sie und John nun heiraten würden, erntete ich nur schallendes Gelächter, mehr war aus Jessie nicht heraus zu bekommen. Mein Bruder wurde während dieses Sommers immer schweigsamer. Er sah zähneknirschend zu, wie Jessie ihre frisch entdeckte Weiblichkeit auch an anderen ausprobierte, obgleich sie es wohl nie wieder so weit kommen ließ, wie sie mit John gegangen war. Wenn ich sie zaghaft auf meines Bruders Lage ansprach, antwortete sie stets, dass er einen ganz besonderen Platz einnehme und ich mir keine Sorgen machen solle, sie wisse schon, was sie tue.

Schließlich war John es leid. Ich glaube, allein die Einsicht in die Tatsache, dass all sein Werben einen 16-jährigen Backfisch nicht beeindrucken konnte, Bewegte ihn letztendlich dazu das Angebot einer Ausbildung zum Schlosser im Osten annehmen. Jessie ließ sich niemals etwas anmerken, war so putzmunter wie immer und nutze jede Gelegenheit, ein männliches Herz zu brechen, aber ich war überzeugt, dass sie John auf ihre eigene Weise vermisste. Mir fehlte er sehr, auch wenn ich seine Entscheidung richtig fand. Ein Mann sollte sich nicht zum Narren machen, dachte ich. Schon gar nicht, wenn dieser Mann 20 Jahre alt und mein großer Bruder war. Aber John kam öfter an den Wochenenden zu Besuch, da er sich von seinem Gehalt mittlerweile ein Auto leisten konnte. Und auch, wenn es bei uns nicht viele Möglichkeiten gab, seine Freizeit zu gestalten, schien es ihm bei seinen alten Freunden besser zu gefallen als in der Großstadt.

So war er dann oft dabei, wenn wir an den Samstagen was unternahmen. So auch an diesem einen Tag, an dem ein Entschluss gefasst wurde, der das Leben von Jessie, Mary und mir unwiderruflich verändern sollte.

Das letzte Schuljahr neigte sich dem Ende zu und ich musste für die Abschlussprüfungen lernen. Ich hatte kaum Zeit, um mir über meine weitere Zukunft Gedanken zu machen. Und wenn ich mal nicht für die Klausuren lernte, dann trainierte ich für die Aufführung unserer Schultanzgruppe am Tag der Zeugnisvergabe.

Auch Jessie und Mary waren ähnlich im Stress- zudem mussten sie ihrer Mutter, die gerade noch ein Kind bekommen hatte zur Hand gehen. Beiden stank das buchstäblich zum Himmel und Jessie fluchte oft, dass genau diese Situation sie immer mehr auf den Gedanken bringe, sich vor Ehe und Kinderkriegen mittels Flucht in einen Beruf zu drücken. „Mal ehrlich“ schnaufte sie bei einer dieser Gelegenheiten. „Erst neun Monate immer dicker werden und sich die Lunge aus dem Leib kotzen und dann auch noch die Milchkuh für so ein rosa Bündel machen, das außer Schreien und Windeln vollmachen nix kann. Nein danke.“ Mary prustete, besann sich und sah ihre Schwester tadelnd an “Wenn Mum und Dad so gedacht hätten, dann wären wir beide aber auch nicht da.“ „Stimmt“ brummte Jessie „Ich hab auch einen Heidenrespekt vor Mum, dass sie das auf sich genommen hat, und dann noch ein Kind, wo sie doch schon etwas älter ist.“ Ich hörte schweigend zu und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen- immerhin war Jessie und Marys Mutter mal gerade 35 Jahre alt. Aber bei uns bekamen die Frauen sehr früh Kinder und waren mit 35 teilweise schon wieder selber Großmütter. Geschickt wechselte ich das Thema „Wisst Ihr schon, was Ihr am Samstag anzieht?“

Am Wochenende sollte endlich mal etwas los sein in der alten Scheune von Bauer Stetson. Es war damals eine kleine Party für uns Jugendliche, aber eigentlich stellten solche Feten immer irgendwie einen selbstorganisierten Heiratsmarkt der Dorfjugend dar.

Abends in der Scheune trafen wir auch allerhand Leute wieder, die üblicherweise außerhalb lebten, wie meinen Bruder John. Dieser saß neben mir auf einem Heuballen und sagte lächelnd zu mir: „Mannomann, als ihr drei eben den Ort betreten habt, da ging ja ein wahres Rauschen durch den männlichen Blätterwald. Hübsch siehst du übrigens aus, Schwesterlein.“ Ich grinste nur zur Antwort und wusste, dass es trotz seines spöttischen Tonfalls ganz ernst gemeint war.

„Ihr drei Schönheiten bringt ja ganz schön Unruhe in den Laden.“ meinte John weiter und musterte mich neugierig. „So langsam wirst du erwachsen und ich muss wohl besser auf dich achtgeben. Du ziehst die Blicke der Kerle auf dich, wie das Licht die Motten.“

Mit einer schwungvollen Bewegung ließ sich Mary in den Heuballen plumpsen, auf dem wir uns niedergelassen hatten. Ich schaute sie an und dachte, dass es bei Mary und Jessie auf jeden Fall stimmen könnte. Denn sie waren mit ihren kurzen schwarzen Haaren, die in kleinen Locken von ihrem Kopf abstanden und ihren Katzengrünen Augen ein atemberaubender Anblick. Mary war die ältere der beiden Zwillinge und man konnte sie nur an einem winzigen Muttermal auf Jessies linker Wange voneinander unterscheiden. Jessie war die temperamentvollere von ihnen, die gerne die Aufmerksamkeit der Männerwelt auf sich zog. Mit ihrem süßen Schmollmund verführte sie so manchen netten Jungen. Ihre Schwester Mary konnte das allerdings auch ganz gut und sie setzte diese Waffe bei meinem Bruder ein: „Oh John! Bist du so lieb und holst mir eine neue Flasche Bier? Meine ist schon wieder leer.“ John saß mit offenem Mund da, was wohl auf Marys großzügigen Ausschnitt zurückzuführen war. Er nickte und sprang sofort danach auf und ging in Richtung Eiskiste.

„Puh, ist mir warm!“ seufzte Mary und schaute mich nachdenklich an. „Was ist?“ fragte sie und fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze Haar. „Mein armer Bruder.“ witzelte ich nur und erzählte ihr rasch, was John mir erzählt hatte. „Kein Wunder, wir drei sind einfach so beeindruckend schön, dass die Dorftrottel hier sich nicht an uns ran trauen.“ Dann lachte Mary und fügte schnell noch hinzu, als ich sie mit hochgezogener Augenbraue ansah: „Na schau doch mal in den Spiegel. Du mit deinen tollen, langen, braunen Haaren und diesen wunderschönen blauen Augen. Wer soll denn bei diesem Anblick nicht die Fassung verlieren?“ Sie lachte wieder und knuffte mich in die Seite, als sie sagte: „Aber die beste Figur von uns Dreien hat ganz klar Jessie!“ In diesem Augenblick kam John mit Marys Flasche Bier zurück und spontan pflichtete er ihr bei: „Stimmt!“ Unsere beiden Köpfe fuhren zu ihm herum und Mary spitzte den Mund: „Sieh da, sieh da, wer hätte das gedacht? John, sage mal, muss ich mir jetzt Sorgen um meine kleine Schwester machen?“ Anstatt rot zu werden, erwiderte er Marys spöttischen Blick und meinte: „Die kann ganz gut selbst auf sich aufpassen. Im Moment muss sich eher jemand um Buster Sorgen machen. Der versucht die ganze Zeit, sie anzugraben.“

Buster war der Sohn des Schuldirektors, vier Jahre älter als wir und gerade von einem Aufenthalt im Norden zurück, wo er studiert hatte um auch Lehrer wie sein Vater zu werden.

„Ach der, der ist doch nur so fasziniert von ihren Brüsten.“ meinte Mary abschätzig. Ich puffte sie in die Seite, denn sie brachte meinen Bruder bestimmt in Verlegenheit. „Was denn? Ist in der Tat so!“ Mary funkelte mich an und wandte sich dann abermals an John: „Aber Jessie hat auch noch andere Qualitäten, nicht war John?“ Dieser winkte ab und antwortete ruhig: „Lass gut sein, Mary, die Zeiten, in denen ich um deine Schwester rumscharwenzelte, sind vorbei. Jessie ist zwar hübsch, klug und ein fabelhaftes Mädchen, aber wehe, wenn sie böse wird. Nee, der Mann tut mir jetzt schon leid. Da kann sie noch so eine gute Figur haben.“ Er tippte sich an seine Stirn und schlenderte zu seinen alten Freunden, die er nach langer Zeit wiedergesehen hatte. Ich starrte ihm verblüfft nach und war erstaunt, wie lässig mein Bruder geworden war. Anscheinend hatte sich der schlimmste Liebeskummer gelegt und ich war froh darüber.

Mary lehnte sich wieder zurück und folgte John mit ihren grünen Augen. „Er hat sich verändert, seit er diese Ausbildung als Schlosser gemacht hat. Er könnte mir jetzt gefallen.“ meinte sie träumend. Auch ich sah ihm hinterher und bemerkte, dass er ein stattlicher Mann geworden war. Mit seinen braunen Augen und den kurzen dunklen Haaren ist er schon so manchem Mädchen ins Herz gesprungen.

Ich lachte und erwiderte: „Er lässt sich halt nicht mehr alles von euch gefallen. Und mal ganz ehrlich: Jessie hat das ganz schön ausgenutzt, dass er sie so verehrt hat.“ „Stimmt!“ sagte Mary und prostete mir grinsend zu.

Nachdem sie einen großen Schluck Bier getrunken hatte, meinte sie: „Die Zeiten ändern sich halt. Und dabei bin ich beim Thema, was meine Zukunft betrifft. Ich will nicht bei der Post arbeiten oder einen Bauern heiraten. Ich muss unbedingt fort von hier. Ich fühle mich zu etwas anderem berufen als zu ehelichen und Kinder in die Welt zu setzen und wahrscheinlich daneben noch Briefe auszutragen. Nee, lass mal. Von Paul Mole habe ich erfahren, dass im Süden, in Yellowtown, ein ganz besonders gutes Mädcheninternat liegt. Die Fächerauswahl soll ganz fantastisch sein: Tanzen, Schauspielern, Singen, Malen, Designern und noch vieles mehr. Die haben ein ganz tolles Fächersystem: man muss bestimmte Fächer belegen, hat aber auch jede Menge Wahlfächer. Im ersten Jahr muss man sich noch gar nicht festlegen, sondern kann erst einmal herausfinden, wo die jeweiligen Stärken liegen. Auch wenn du noch gar nichts mit der Zukunft anzufangen weißt, bekommst du eine gute Grundlage, um dich später für den ultimativen Beruf zu entscheiden. Die Anforderungen sind zwar hoch, aber es gibt Lern- und Fördergruppen, und die Betreuung durch Lehrer soll auch ganz gut sein. Eigentlich könnte man das Internat als eine berufsvorbereitende Schule bezeichnen. Das wäre genau das Richtige für mich. Man lernt Neues, kommt anderen Menschen näher und vielleicht ergibt sich ja dann die Sache mit dem Traumberuf von ganz alleine. Was hältst du davon?“ „Ich meine“, sagte ich und zog Mary mit mir hoch und ging mit ihr in Richtung Tanzfläche „dass du mindestens ein Bier zu viel getrunken hast und wir darüber reden sollten, wenn du wieder nüchtern bist.“

Mary nuschelte noch etwas von meiner spießigen Enthaltsamkeit, die mich noch um jeden Spaß im Leben bringen würde und dann tanzten wir die halbe Nacht durch. Wir wussten alle nicht, dass es für die nächste Zeit das letzte unbekümmerte Fest sein sollte.

Ich wachte erst sehr spät auf, und als ich die Treppe zur Küche hinunter ging, werkelte meine Mutter schon mit den Zutaten für das Mittagessen herum. Grinsend stellte sie mir einen Teller mit Waffeln vor die Nase und meinte „Hab ich extra für dich warmgehalten. Nach einer langen Nacht ist ein Stapel Waffeln mit Sirup das Beste, um wieder in Form zu kommen. Wenigstens trinkst du nichts, im Gegensatz zu deinem Bruder, der eine ganz schöne Bierfahne nach Hause brachte.“

John, der auf einem der Küchenstühle saß und wirklich etwas elend aussah, zuckte mit den Schultern und griff nach einer Waffel. „Wer arbeiten kann wie ein Tier, der darf auch saufen wie ein Schwein“ sagte er mit vollem Mund. Und nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Mir flutschte eine von Sirup triefende Waffel aus der Hand, denn ich glaubte, mich verhört zu haben. Meiner Mutter glitt die Pfanne aus den Fingern, denn ihr schien es ähnlich zu gehen wie mir: Bislang hatte John keine Kraftausdrücke in Gegenwart unserer Mum gebraucht und schon gar nicht in so respektlosem Ton. Und es kam eine tiefe Stimme aus dem Abguss die röhrend lachte. Mein Vater reparierte anscheinend gerade das Abflussrohr, und weder John noch ich, hatten seine Gegenwart registriert. „Dad!“ quietsche ich, immer noch zu Tode erschrocken „John“ fauchte meine Mutter, ebenso schockiert, jedoch nicht wegen des Lachens aus dem Abflussrohr, wie es schien. „Aber, aber“ rief mein Vater und krabbelte aus dem Spülschrank. Da mein Vater ebenfalls John hieß, wusste ich nicht, wen meine Mutter angefaucht hatte, aber im Zweifelsfall beide. Ich angelte nach meiner Waffel und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Mein Bruder und ich waren sehr liberal erzogen worden. Wir durften uns größere Freiheiten herausnehmen als andere Kinder, mussten weniger mit auf dem Hof helfen und konnten uns aussuchen, welchen Lebensweg wir gehen wollten. Mein Bruder hatte seine Ausbildung anfangen dürfen, obwohl unsere Eltern mit seiner Wahl ganz und gar unglücklich gewesen waren. Und auch mich würden sie niemals zwingen, zu heiraten, wenn das nicht auch mein Wunsch sein sollte. Allerdings gab es eine Todsünde im Hause Thomson: Respektlosigkeiten gegenüber den Eltern. Über unserer Eingangstür hing ein Spruchband, mit den Worten: Lose Reden verderben nützliche Gewohnheiten. Und auch wenn meine Eltern ansonsten nicht sehr konservativ oder gar religiös waren, so hielten sie eisern an dieser Regel fest.

Man mochte die brandneue Kleidung in Fetzen gerissen haben, als man von einem Baum fiel, dafür gab es keine Strafe. Wurden wir allerdings flapsig in unserer Redeart den Eltern gegenüber, konnte schon mal eine Mahlzeit ausfallen, oder der Ausgang fürs Wochenende gekürzt werden.

Dementsprechend rechnete ich zumindest mit einer Standpauke seitens meiner Mutter. Jedoch versetzte sie mich bloß in Erstaunen denn: Sie sagte kein weiteres Wort, und das sollte bis zu Johns Abfahrt am Abend auch so bleiben.

Mein Vater ging zum Kühlschrank, um sich eine Flasche Wasser zu besorgen und strich mir in Vorbeigehen über den Kopf. Dann setzte er sich neben meinen Bruder und erklärte ruhig: „ John, der Spruch war zwar inhaltlich richtig, aber man hätte ihn auch anders formulieren können. Deine Mutter hat recht, wenn sie nicht erbaut ist, dich sturzbetrunken nach Hause kommen zu sehen. Aber uns ist auch bewusst, dass dies zum Erwachsenwerden dazugehört.“ Mit einem Seitenblick auf mich fügte er hinzu „Für einen jungen Mann.“

Ich zog einen Flunsch, denn mir erschien es ungerecht, dass mein Vater in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen Jungs und Mädels machte- nicht dass ich gerne Alkohol trank. Meist beschränkte ich mich auf eine Flasche Bier, vielleicht auch mal ein paar Gläschen Bowle oder Punsch. Aber ich wusste, dass mein Vater aufgrund dieser Einstellung Mary und Jessie mit äußerstem Misstrauen betrachtete. Was war denn so viel schlimmer an einem betrunkenen Mädchen?

Mein Vater lächelte mir zu „Melissa, um dich brauchen wir uns in dieser Hinsicht ja keine Sorgen zu machen.“ Bei diesen Worten stand John auf und legte meiner Mutter die Hand auf die Schulter „Es tut mir leid, Mami“ sagte er förmlich und anscheinend hörte nicht nur ich, wie gekünstelt diese Entschuldigung klang. Mum wandte sich ab und begann, das Gemüse zu putzen. Dad lehnte sich kopfschüttelnd zurück und starrte dann schweigend aus dem Fenster. John ging auf die Veranda und ließ sich in die Hollywoodschaukel plumpsen. Und ich saß mal wieder zwischen allen Stühlen. Denn schon ein paar Mal in den vergangenen Monaten waren John und Mum haarscharf an einer hitzigen Debatte vorbeigerauscht, und jedes Mal hatte Dad den Vermittler gemacht. Und nie hatte ich verstanden, warum die beiden so gereizt aufeinander reagierten, noch hatte ich Antworten auf direkte Fragen bekommen. Und wenn ich eins nicht leiden konnte, dann war es Streit in der Familie.

Ich griff mir noch eine Waffel und verschwand auf die Veranda. Still setzte ich mich zu John, der mich mit einem gequälten Lächeln ansah. „Ich hasse es, mich mit Mum und Dad zu streiten“ brummte er leise. „Warum streitet ihr euch dann?“ fragte ich drängend. Mein Bruder seufzte so tief, dass ich erschrak. Er schien wirklichen Kummer zu haben. „Ist es, weil du Jessie nicht heiratest, obwohl ihr?“ Johns Kopf fuhr herum und er blitzte mich an. Dann lachte er „Nein, wenn ich Jessie heiraten würde, dann könnten Mum und Dad vor Freude kaum lassen. Denn schließlich würde ich dann wieder nach Hause zurückkommen, den Hof übernehmen und lauter kleine Thomsons produzieren.“ Ich nickte, sagte aber nichts. Johns Stimme hatte so bitter geklungen. Mir war nur noch nicht klar, ob er es bedauerte, dass meine Eltern diesen Wunsch hatten oder ob er verbittert darüber war, dass er und Jessie wohl nicht heiraten würden. Mein Bruder sah mich nachdenklich an „Weißt du, wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich Jessie geheiratet. Aber sie will mich nicht.“ „Vielleicht damals nicht“, versuchte ich John zu trösten. „Wenn du sie jetzt noch einmal fragen würdest.“ Ich verstummte. Was wusste ich schon von diesen Dingen. Ich war noch nie verliebt gewesen, bisher hatte ich mich nur ganz zaghaft auf ein paar Flirts eingelassen, aber sobald der Betreffende auch nur ansatzweise zudringlich wurde, hatte ich stets das Weite gesucht. John schnaubte, dann stand er auf und meinte: „Melissa, manchmal bist du einfach zu gut für diese Welt. Aber vielleicht ist es auch ganz gut so, denn ich fände es schade, wenn du nicht mehr immer nur das Beste von allen Menschen annehmen würdest. Ich gehe packen. Wenn es tatsächlich nachher anfangen sollte, zu stürmen, dann möchte ich früh losfahren können.

Der Appetit war mir vergangen und ich zerbröselte die Waffel für die Spatzen, die schon die ganze Zeit in Lauerstellung auf dem Verandageländer saßen. Dann ging ich ins Haus zurück, um zu duschen. Als ich durch die Küche ging, werkelten meine Eltern, als ob nichts vorgefallen wäre und ich rief über die Schulter „Ich geh unter die Dusche und möchte dann zu Higgins rüber. Wann essen wir?“ Meine Mutter wandte mir ihr Gesicht voll zu und ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte „Wenn du so um zwei wieder da bist, sollte das ausreichen. Heute wird später gegessen.“

Ich nickte und machte, dass ich hochkam. So langsam wurde mir die Sache unheimlich. Bisher hatte es nach einem Streit ausgesehen, schon schlimm genug. Aber wenn Mum so unglücklich war, dann musste mehr dahinter stecken. Unter der Dusche spülte ich die letzte Müdigkeit aus meinem Hirn und ein böser Verdacht kam mir. Rasch zog ich mich an, verließ das Haus über die Vordertür und fuhr mit dem Rad zum Higgins-Hof. Der Hof war doppelt so groß wie der meiner Eltern, und auch das Haupthaus war wesentlich weitläufiger. Dementsprechend hatten Mary und Jessie einen ganzen Trakt des Gebäudes für sich alleine, mit einem eigenen Badezimmer, worum ich sie sehr beneidet hatte, als mein Bruder John noch zuhause wohnte. Denn mit vier Personen war es in unserem Haus mit nur einem Bad dann doch etwas eng geworden, wenn alle morgens pünktlich fertig sein wollten.

Auch waren die Higgins im Vergleich zu uns sehr reich, denn zusätzlich zur Landwirtschaft betrieben sie noch Pferdezucht. Allerdings hatte ich nie wirklich mit Mary und Jessie tauschen wollen, denn die Higgins waren sehr strenge Eltern und es gab oft Aufregung um die beiden Zwillinge. Mary und noch weniger Jessie dachten nämlich daran, das zu tun, was ihre Eltern von ihnen erwarteten. Anstatt still, fromm und auf der Suche nach dem passenden Ehemann zu sein, trieben die beiden lieber allerlei Heimlichkeiten hinter dem Rücken ihrer Eltern.

Als ich in die mit Blumenkübeln bestückte Hofeinfahrt einbog, sah ich schon Mary mit ihrer Mutter auf einer Holzbank sitzen und mit dem kleinen Josua schäkern. Ich grüßte Mrs. Higgins und begutachtete Josua, der wirklich ein hübscher niedlicher Kerl war, so rosig und mit den dunklen Haaren, von denen er schon eine erstaunliche Menge besaß. Mary hängte sich bei mir ein und gemeinsam gingen wir in den Gemüsegarten, weil man von dort eine ganz ausgezeichnete Zugriffsmöglichkeit auf das auskühlende Kuchentablett hatte, das dort sonntags vormittags stets stand.

„Wo ist Jessie? Pennt die alte Nachteule etwa noch?“ fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: “Die ist heut Nacht gar nicht nach Hause gekommen, sondern erst vorhin kurz aufgeschlagen. Hat so getan, als sei sie verkatert und behauptet, sie wolle am Fluss spazieren gehen.“ Marys Miene war besorgt. „Was?“ Stotterte ich „Wo?“ Mary sah mich eindringlich an „Also eindeutig nicht in ihrem eigenen Bett und eindeutig auch nicht allein. Sie hatte heute Morgen einen blaugrauen Pullover an, der garantiert nicht aus ihrem Kleiderschrank stammt. Ich konnte es nicht fassen. „Etwa mit Buster?“ krächzte ich, obwohl sich in mir immer mehr der Verdacht erhärtete, den ich heute Morgen schon hatte. Mary lachte auf „Also bitte, was traust du meiner Schwester an schlechtem Geschmack zu? Nein, den Pullover kenne ich. Es ist Johns. Er hat ihn mir mal geliehen, als mir beim Frühjahrsfeuer zu kalt geworden war.“ Sofort wusste ich, dass Mary recht hatte- und warum sollten die beiden nicht doch zueinander finden? „Na, alte Liebe rostet nicht.“ witzelte ich, verstummte dann jedoch, als ich Marys Gesichtsausdruck sah. „Was ist?“ „Sag mal, reicht es nicht, dass sie einmal riskiert hat, schwanger zu werden? Und dann auch noch von einem Mann, den sie nicht heiraten könnte, selbst wenn sie wollte oder müsste? Ich habe sie vorhin kurz gefragt, ob sie glaubt, unsere Eltern ewig zum Narren halten zu können. Schließlich gehört John nicht unserem Glauben an und sie würden es nie erlauben. Schlimm genug, dass Jessie ihre Unschuld einfach so preisgegeben hat. Wenn sie jetzt noch schwanger wird, dann kriegt sie einen Heidenärger. Ihr ist im Moment alles egal. Wenn sie John wenigstens lieben würde.“ „Na mach mal halblang, damals fandest du auch noch, dass John und Jessie gut zusammenpassen.“ Brummte ich, denn ich fand es schon etwas abwertend, wenn mein Bruder in den Augen von Higgins nicht gut genug für eine ihrer Töchter sein sollte. „Ach Melissa, ich mein es nicht böse. Damals dachte ich, Jessie hätte es nur mal ausprobieren wollen. Aber ich glaube mittlerweile, dass die beiden regelmäßig, naja, bestimmt die ganze Zeit. Ich habe mir damals noch keine Gedanken um ungewollte Schwangerschaften und Heiraten gemacht. Aber Fakt ist, dass Vater schon mit einem Heiratsvermittler Kontakt aufgenommen hat. Es gab einen hässlichen Streit, weil Jessie widersprochen und damit gedroht hat, sich von dem Erstbesten ein Kind machen zu lassen, nur um keine arrangierte Ehe eingehen zu müssen. Dabei ist es Tradition. Vater will sie nicht auf eine weiterführende Schule zur Berufsvorbereitung gehen lassen. Wir sollen verlobt werden. Der Heiratsvermittler kommt nächste Woche, um uns zu begutachten.“ Mir schlotterten die Knie „Seit wann weißt du das und warum habt ihr mir nix gesagt. Und wie siehst du die Sache?“ Mary seufzte „Ich weiß nicht. Natürlich will ich gerne noch etwas erleben, aber irgendwann möchte ich schon einen lieben Mann und Kinder. Und mein Vater würde mir nie jemanden aufzwingen, den ich nicht mag. Unsere Cousine Carolina ist sehr glücklich mit dem Mann, den dieser Heiratsvermittler für sie ausgesucht hat. Es ist wichtig, jemanden vom gleichen Glauben zu heiraten. Und es ist wichtig, die Gebote zu befolgen.“ „Mary! Du hast dich an keines eurer Gebote gehalten: Du hast getrunken und geraucht, du küsst ab und an einen der Stetson Söhne. Sag mal?“ rief ich aus und konnte es nicht fassen. Der Glaube hatte nie eine Rolle für die Zwillinge gespielt. Und auch wenn Mary zurückhaltender als ihre Schwester gewesen war, so hatte sie doch noch am vergangenen Abend davon gesprochen, nicht als Heimchen am Herde enden zu wollen. Mary schaute gequält drein. „Ja ich weiß. Ich würde gerne zuerst auf diese Schule gehen, ein paar Jahre arbeiten und dann erst heiraten. Meinetwegen auch einen Mann, der mir ausgesucht wurde. Aber Vater will lieber, dass wir sofort verheiratet werden. Schließlich will ja kein Mann eine alte Jungf .“ Ich unterbrach Mary rüde und blaffte „Also ich möchte mal gerne wissen, wer dir was ins Bier getan hat gestern Abend. Was ist passiert, dass du derart konservative Ansichten gewonnen hast in noch nicht einmal zwölf Stunden?“ „Es kommt immer auf die Wahl an, die jemand hat.“ antwortete Mary, nun endgültig beleidigt. Mir wurde bewusst, dass ich mich nicht gerade diplomatisch verhielt. „Was ist also wirklich los?“ „Du weißt doch, dass Vater einer der Führenden in unserer Gemeinde ist, er gehört zu den sogenannten Gerechten. Er meint, es kann nicht angehen, dass gerade seine Töchter mit der Tradition brechen. Als Jessie und ich uns weigerten, den Heiratsvermittler zu empfangen, ist er furchtbar wütend geworden. Er verbot uns nicht nur, auf diese Schule zu gehen, sondern drohte uns auch noch, uns mit ganz konservativen Männern aus der Nachbargemeinde zu verheiraten. Der, den er Jessie förmlich angedroht hat, ist genauso alt wie Vater selbst und hat schon fünf Kinder von seiner ersten Frau. Diese hat er verstoßen, weil sie angeblich unzüchtig gekleidet rumgelaufen ist. Sie hatte wohl an einem heißen Tag keine Jacke über der Bluse getragen. Stell dir das Mal vor. Melissa, bevor ich solch einen Mann heirate, lasse ich mir besser von Albert Schlehen einen einigermaßen passenden Ehemann aussuchen. Vater war so wütend, dass ich lieber gleich nachgegeben habe. In seinem Jähzorn ist er furchtbar.“ Mary erschauderte und ich fragte mich, ob der stets freundliche und gutgelaunte Herr Higgins wirklich so despotisch sein konnte. In seinen Augen handelte er wahrscheinlich vollkommen im Einklang mit Glaube und Tradition. Vielleicht war ihm das Treiben seiner Töchter einfach zu bunt. „Was sagt denn eure Mum dazu?“ Mary stieß einen Seufzer aus „Meine Mama ist selber konservativ erzogen und weiß, dass es für ein Mädchen nur den einen Weg gibt: Dem ausgesuchten Mann eine gute Frau und Mutter seiner Kinder zu sein. Allerdings versteht sie Jessie und mich, da sie zwar einen Stall voller Enkel will, aber auch erkennt, dass wir noch zu jung sind.“ „Kann sie nicht noch mal mit eurem Vater reden?“ ich war schon recht verzweifelt. Wenn die beiden nicht gehen durften, dann würden meine Chancen ebenfalls schlecht stehen. Ein Gutteil der Argumente, die ich in der zu erwartenden Argumentation anbringen wollte, beruhte auf der Tatsache, dass Mary und Jessie ja auch auf diese Schule gehen würden. Mal abgesehen davon, dass ich mich alleine wohl sehr einsam fühlen würde, hatte ich auch keine Lust, dann nach der Schule gleich ins frisch gemachte Ehebett zu plumpsen. Es gab ja noch nicht einmal jemanden, der mich interessierte.

Wieder ein Seufzer. Irgendwie kam mir Mary völlig verändert vor. Nicht mehr so unbekümmert und quicklebendig, sondern eher wie vom Alter gebeugt und verzagt. Auf keinen Fall sagte sie, was sie über das Thema Ehe meinte, das war deutlich zu erkennen.

Nach einem wiederholten Seufzer meinte Mary schließlich: „Ich werde versuchen mit meinen Eltern noch einmal über die Schule zu sprechen. Vielleicht kann ich irgendwie Zeit gewinnen in der Schule um mich eines Tages mal gegen Vater zur Wehr setzten zu können. Wenn ich ihm sage, wenn er Jessie und mich auf diese Schule lässt, dann werden wir die für uns bestimmten Männer heiraten.“ „Aber das ist ja wirklich nur alles Hinauszögern. Ich glaube nicht, dass dieses Argument für deinen Vater zählen könnte. Es sei denn, du sagst ihm..., ach nein, vergiss, was ich gesagt habe. Ich dachte man könnte ihm sagen, dass du dich für dein späteres Leben fortbilden willst, aber den Part des Wissenden übernimmt ja bei euch eh immer der Mann.“ überlegte ich laut mit Mary zusammen. Nach einem kurzen Augenblick meinte sie: „Ich werde mir etwas einfallen lassen. Schreib du schon einmal deine Bewerbung und morgen werde ich dir erzählen, ob Jessie und ich mitkommen werden.“ „In Ordnung. Verschlimmere die Situation nicht, denn ich will nicht alleine in diese Schule gehen müssen.“ Danach umarmte ich meine beste Freundin noch und machte mich wieder auf den Weg nach Hause.

Tja, wir lebten in einer Zeit, in der es noch keine Handys gab, Frauen gerade erst arbeiten gehen durften und Auto fahren konnten. Verhütungsmittel gab es zwar, um nicht schwanger zu werden, aber ohne großes Aufsehen zu erregen, kam man nicht daran. Außerdem war es in meiner Religion und auch in den der Higgins strengstens verboten zu verhüten. Uns kam die Welt damals grausam vor. Wir wollten so viel mehr erreichen, als es uns damals möglich war.

Spät am Nachmittag, als meine Mum und ich wieder diese Debatte über meine Zukunft hatten, musste ich ihr auch mal ein wenig über das Internat erzählen. Ein bisschen trotzig sagte ich zu meiner Mutter: „Ich will etwas anderes aus meinem Leben machen. Vielleicht gehe ich ja noch mal zur Schule. Mary hat mir gestern von einem sehr guten Mädcheninternat erzählt, welches in Yellowtown liegt. Mary will dahin gehen. Wahrscheinlich nimmt sie Jessie und mich auch mit. Das wäre unsere Chance.“ Ich sah einen nervösen Gesichtsausdruck in dem Gesicht meiner Mutter. Sie sagte zu mir: „Ich habe gehört, dass diese Stadt verflucht ist. Geht dort nicht hin.“ Wütend sah ich ihr ins Gesicht, denn ich nahm ihr das nicht ab. Vor alledem glaubte ich nicht an Flüche. Verärgert und mit Tränen in den Augen schimpfte ich: „Ich gehe dort hin. Du willst mich nur mit so blöden Geschichten über irgendwelche Flüche davon abhalten, unser kleines langweiliges Kaff zu verlassen. Aber ich mache es wie John. Ich werde von hier fortgehen, ob mit oder ohne eure Erlaubnis.“ Weinend rannte ich in mein Zimmer. Ich war so wütend und traurig darüber, dass man wohl als Frau in diesem Ort fast nicht zählt und man nichts machen darf, was einem gefällt. Irgendwie fühlte ich mich in diesem Dorf gefangen. Warum nur sollten Frauen dazu gut sein den Männern zu dienen und Kinder zu bekommen. Zwar spürte ich, wenn es um meine weiblichen Reize ging und um meine Verantwortung, dass ich eine Frau war. Aber als ich daran dachte selbst bald verheiratet zu sein und Nachwuchs zu kriegen, fühlte ich mich irgendwie doch noch zu jung dafür.

Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte und die ersten Tränen getrocknet waren, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb meine Bewerbung für dieses Internat. Eine Anschrift hatte ich nicht, aber ich wollte am nächsten Tag Paul Mole unseren Lehrer danach fragen, denn er muss dieses Internat sehr gut kennen, wenn er so viel davon berichten konnte.

In der Schule kam Jessie auf mich zu gerannt. Voller Begeisterung rief sie: „Hallo Melissa! Hat dir Mary von dieser Institution erzählt, auf die sie gehen möchte?“ Nickend bestätigte ich dies und meinte lachend: „Ich hoffe, sie hat es sich nicht anders überlegt, denn ich habe meine Bewerbung für das Internat bei mir.“ „Nein, sie will immer noch dahin. Ich gehe auch mit. Das wird bestimmt lustig, wenn wir noch zwei bis drei Jahre in eine Klasse gehen können. Ich freue mich ja so darauf endlich mal etwas anderes zu sehen als immer nur dasselbe öde Dorf hier.“ Plötzlich kam auch Mary auf mich zu und meinte: „Wir haben uns entschieden. Wir gehen beide dorthin.“ „Und ich auch.“ meinte ich voller Freude. Glücklich umarmten wir uns und Jessie teilte mir mit: „Aber ein wenig werde ich die Jungs von hier vermissen. Ganz besonders wird mir dein John fehlen. Damals, als er in mich verliebt war, wollte ich ihn nicht. Doch jetzt, wo er erwachsener geworden ist, finde ich ihn wirklich sehr nett. Aber jetzt will er mich nicht mehr. Ich habe ihn früher wohl wirklich sehr ausgenutzt. Schade!“ Mary und ich sagen uns kurz an und schmunzelten, denn wir beide wussten, dass Jessie etwas log. „Und was ist mit Buster? Vorgestern hast du dich doch so gut mit ihm verstanden.“ fragte ich neugierig. „Ach der blöde. Der soll die Finger von mir lassen. Zuerst nur reden wollen, aber dann nach dem Motto leben: je später der Abend, desto aktiver werden die Hormone und die Finger.“ lachte Jessie. Vorsichtig fragte ich Mary: „Wie habt ihr denn eure Eltern umstimmen können?“ Lächelnd antwortete sie: „Ich habe ihnen gesagt, dass es dort auch Kochkurse und Nähkurse gibt und wir so viel für unser Leben als gute Hausfrauen lernen könnten. Ab da waren sie dafür. Oh Mann, bin ich glücklich, erstmal raus aus diesem Nest hier.“

In der Pause gingen wir drei in das Lehrerzimmer und suchten nach Paul Mole. Doch leider fanden wir ihn nicht. Stattdessen kam der Schuldirektor zu uns und fragte: „Wen oder was sucht ihr drei?“ „Wir wollten unsere Bewerbungen zu diesem Mädcheninternat im Süden schicken und haben keine Anschrift. Können sie uns weiterhelfen?“ antwortete Jessie leise. Sie fand es seltsam mit dem Vater des Kerls zu reden, von dem sie zwei Tage zuvor begrabscht worden war. Der Direktor fragte weiter: „Und wo soll dieses spezielle Mädcheninternat sein?“ Mary antwortete lässig: „In Yellowtown.“ Plötzlich verfinsterte sich das Gesicht von ihm und er meinte: „Ich frage euch besser nicht, woher ihr davon gehört habt, aber lasst euch eines gesagt sein. Diese Stadt ist verflucht sagt man. Ich würde da an eurer Stelle nicht hingehen.“ Ohne weiteres zu sagen verließ er das Lehrerzimmer und verschwand. Nun standen wir drei alleine im Zimmer der Lehrer und sahen uns ratlos an. Mary lachte und fragte Jessie: „Sagt er das nur, weil du seinen Sohn hast abblitzen lassen?“ Jessie knuffte Mary in die Seite und konterte lässig: „Buster die Niete würde sich bestimmt nicht trauen seinem Vater zu sagen, dass er einen Korb bekommen hat.“ Dann lachten sie beide. Nur ich wurde etwas nachdenklich. „Da könnte vielleicht etwas dran sein. Meine Mutter wollte auch aus diesem Grund, dass ich dort nicht hingehe. Und meine Mutter steckt bestimmt nicht mit Buster oder seinem Vater unter einer Decke.“ meinte ich leise. Auf einmal wurde Mary, die selbstsichere richtig unsicher. Sie verlor dabei fast ihren schönen Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass sie Angst bekam vor unserem neuen Leben, vor dem sonderbaren angeblichen Fluch und auch vor ihrem Vater. Irgendwie dachte ich mir, kommt gerade alles auf einmal aus ihr heraus. Nervös ging sie durch das Zimmer und überlegte hysterisch: „Und was ist, wenn das wahr ist? Vielleicht sollten wir dort wirklich nicht hingehen. Unsere Bestimmung ist es vielleicht doch bis ans Ende des Lebens hier in diesem Dorf zu bleiben, um Kinder zu bekommen und die Post auszutragen. Ich meine, Briefe sind wichtig. Irgendwer muss diese Arbeit machen. Und warum sollten wir uns so einen wichtigen Beruf durch die Lappen gehen lassen?“ Jessie schüttelte ihr Schwester an den Schultern und sagte: „Jetzt dreh doch nicht gleich durch. Wir sind in einem öden kleinen Nest. Hier passiert nichts. Und die älteren Leute hier erzählen sich bestimmt schaurige Geschichten und von Generation zu Generation wird die Geschichte immer schlimmer und schlimmer. Und warum sollte Paul Mole uns dahin schicken wollen, wenn diese Stadt dort wirklich verflucht ist? Was hätte er davon? Ich schlage vor, dass wir unsere Bewerbungen bei ihm auf den Tisch legen und dann wird er sich schon darum kümmern.“ „Genau das wollte ich auch gerade vorschlagen. Wo sollte es denn schlimmer sein, als hier?“ warf ich ein. Nach unserem Zureden war Mary überzeugt ihre Bewerbung auch einzureichen und mit uns wieder in die Pause zu gehen.

In den nächsten zwei Wochen bis zum Schulabschluss redeten wir kaum von dieser Stadt. Aus Angst vor dem Fluch, oder aus Furcht nicht genommen zu werden, das konnte keiner sagen.

Am Tag der Abschlussfeier wurden uns die Zeugnisse von dem Schuldirektor ausgehändigt. Mary, Jessie und ich hatten einen relativ guten Notendurchschnitt gehabt. Als wir gerade wieder auf unsere Plätze gehen wollten, kam Paul Mole auf uns zu und gab jeder von uns einen Brief in die Hand und lächelte uns zu. Als wir nachsahen, was in den Briefen stand, waren wir glücklich, denn jeder von uns wurde in dem Internat angenommen. Freudestrahlend sah ich meine Mutter an und winkte mit dem Brief. Diese aber sah mich traurig an und schüttelte mit dem Kopf.

Ein wenig später wurde ich in der Tanzgruppe für die Abschlussaufführung gebraucht. Schnell zog ich mich um und stellte mich zusammen mit den anderen Mädchen und Jungs auf die Bühne. Dort führten wir, für die Verhältnisse im Dorf, ein modernes Tanzstück auf.

Am Abend saß die ganze Klasse in einem der größeren Räume der Dorfkneipe und wir feierten gemeinsam die neu erlangte Freiheit, auf die viele von uns schon lange gewartet haben.

Die Stadt der lauernden Bestien

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