Читать книгу Die Stadt der lauernden Bestien - Jeanny O'Malley - Страница 6
ОглавлениеKapitel 2: der Aufbruch
In unseren letzten langen Sommerferien fuhren Mary und Jessie mit ihrer Familie an das Meer, um dort noch einmal zusammen Urlaub zu machen. Meine Eltern, mein Bruder und ich besuchten meine Großeltern, die ziemlich weit weg von uns wohnten. Meine Oma gefiel mir äußerst gut und mein Opa war der Größte für mich, der mir viele Geschichten aus seinem Leben erzählen konnte. Ich liebte die beiden sehr und ich freute mich, sie in diesen Ferien wiederzusehen.
Von der Auffahrt sah ich meinen Opa auf einer Bank in seinem Garten sitzen, wie er gemütlich seine Pfeife rauchte. Von weitem sah er uns im Auto fahren und winkte zu uns herüber. Unmittelbar danach kam meine Oma aus der Haustüre und hatte einen Teller voller kleiner Kuchen in den Händen, welchen sie auf den großen Tisch in dem Garten stellte. Für mich konnte ich mir kein schöneres Leben vorstellen, als ein Anwesen zu haben mit viel Garten herum, einen lieben Mann und eine Menge Zeit dies alles richtig auskosten zu können. Irgendwann wollte ich wie meine Großeltern leben. Ein wunderschönes bordeauxrotes Haus mit weißen Fensterläden und einem weißen Gartenzaun. In dem Garten einen kleinen Teich und einige Rosensträucher in verschiedenen Farben und über dem Gartentisch ein Dachgeflecht aus Weinranken. Es war wunderbar dort zu leben.
Während Mum und Dad mit meiner Oma die Taschen im Haus verstauten, setzten sich John und ich zu Opa auf die Bank. „Na ihr beiden, wie sieht es bei euch in Zukunft aus?“ wollte er wissen und nahm noch einen Zug aus seiner Pfeife. John sah beschämt auf den Boden und antwortete: „Nicht besser als sonst. Bei mir gibt es keine Neuigkeiten.“ Opa bemerkte den traurigen Unterton in seiner Stimme und nickte zunächst nur. Dann sah er mich an und fragte: „Und, was machst du jetzt so nach der Schule?“ „Ich werde auf ein Mädcheninternat gehen, wo ich mir um meine berufliche Zukunft Gedanken machen kann. Meine Freundinnen Mary und Jessie begleiten mich.“ antwortete ich. Bei Jessies Namen zuckte John etwas zusammen. „Jessie? Ist das nicht der Name von Johns Freundin gewesen?“ forschte Opa nach. John nickte und meinte seufzend: „Ja, genau diese Jessie ist es.“ „Liebeskummer?“ „Ein wenig. Sie wird mich nicht heiraten. Auch wenn sie es wollte, dürfen wir es nicht, denn ihre Eltern können mich nicht leiden. Am liebsten würde ich mit ihr meilenweit wegfahren und nie mehr wieder kommen, aber das muss sie dann auch wollen. Ich weiß ja nicht, ob sie mitkommen würde, oder eher gesagt, ob sie mich so liebt, um alles hinter sich zu lassen.“ erklärte mein Bruder. Opa klopfte ihm auf die Schulter, erhob sich von der Bank und antwortete kurz: „Egal was du machen willst, es möge dir gelingen.“
Als wir alleine waren, erzählte ich John: „Jessie liebt dich noch. Sie ist vielleicht nur zu stolz das zuzugeben. Außerdem weiß ich, dass ihr vor einigen Wochen wieder zusammen wart. Das hat sie mir zwar auch nicht gesagt, aber ich weiß es trotzdem.“ „Woher willst du das denn wissen? Ja OK, wir waren zusammen. Wir hatten unseren Spaß, weil wir irgendwie nicht die Finger voneinander lassen konnten. Ich half ihr vor Buster zu entkommen und dann kamen wir uns näher. Aber sie kann mir doch sagen, wenn sie mich noch liebt.“ antwortete John und wollte aufstehen. Doch dann ließ er sich wieder auf die Bank fallen und meinte stolz: „Es wäre besser, wenn ich die Zeit nutze, in der ihr auf dieser Schule seid, um sie zu vergessen. Wie oft habe ich ihr schon mein Herz geöffnet, nur damit sie dann wieder darauf herumtrampelt. Ich weiß nicht, ob sie das nur macht, weil wir eh nicht heiraten können um mich so auf Abstand zu halten. Aber wenn wir uns wirklich lieben würden, dann wäre das doch egal. Wir könnten davon laufen. Irgendwo hin, wo uns keiner kennt und wir keine Schwierigkeiten bekommen. Soll sie zunächst auf dieses Internat gehen, und ich versuche zu vergessen.“ Schweigend blieben wir so sitzen, bis es Abend wurde.
John konnte aufgrund seiner Ausbildung nicht so lange bei unseren Großeltern bleiben, wie ich. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, verbrachte ich noch eine schöne Zeit bei Menschen, die ich liebte.
Eine Woche vor der Abreise in die neue Schule packte ich ein paar meiner Sachen ein, die ich unbedingt mitnehmen wollte. Dazu gehörten: mein Adressbuch, Briefpapier, einige Familienfotos, meine Lieblingslieder auf Kassette und den dazugehörigen Kassettenrekorder. Mehr dachte ich, brauche ich nicht zum Leben.
Mary, Jessie und ich erkundigten uns nach einer Reisemöglichkeit nach Yellowtown, aber niemand wollte von dieser Stadt reden, geschweige denn uns dorthin bringen. Ein einzelner versuchte uns sogar zu erzählen, dass es diese Stadt gar nicht geben würde. Dies kam uns nur zu seltsam vor.
Schließlich am Ende der Woche fragten wir Paul Mole, wie wir dorthin kommen könnten. Sehr freundlich antwortete er: „Aber sicher weiß ich einen Weg. Ich selbst fahre übermorgen noch einmal dahin, um einen meiner alten Freunde zu besuchen. Da kann ich euch in meinem Wagen mitnehmen.“ „Ach! Wenn sie das machen würden, wären wir ihnen sehr dankbar. Ich dachte schon, dass wir hierbleiben müssten.“ seufzte Jessie leise. Mary fragte ihn etwas vorsichtig: „Stimmt es, dass diese Stadt verflucht ist?“ Lachend schaute uns Paul Mole an und meinte: „Es gibt da solche Gerüchte. Aber ich bin selbst öfter dort und kann nichts Seltsames entdecken. Und außerdem hat jeder Ort so seine Flüche. Nur man sieht sie nicht, oder man weiß nichts darüber. Wer weiß denn schon, was mal hier in unserem schönen Ort so alles passiert ist?“ Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir an dieser Stelle von ihm verspottet wurden.
Am Tag der Abreise verabschiedete ich mich von meinem Bruder und meinen Eltern. Sie umarmten mich feste und meine Mutter wollte mich schon gar nicht mehr loslassen. Sie flüsterte mir ins Ohr: „Ich kann dich leider nicht hier halten, aber bitte versprich mir, gut auf dich aufzupassen.“ „Ja, ich verspreche es dir. Ich werde gut auf mich achtgeben.“ antwortete ich ihr und drückte sie noch fester an mich. Es war das erste Mal in meinem Leben, das ich in die ferne Welt gehen würde, ohne meine Eltern dabei zu haben. Es fühlte sich komisch an und ich hatte Angst davor. Mit Tränen in unseren Augen nahm ich die Koffer in die Hände und ging zum vereinbarten Treffpunkt an der Schule.
Während wir in sein Fahrzeug einstiegen, warf ich ein letztes Mal einen Blick auf meine so vertraute Heimat mit allen meinen Erinnerungen an eine schöne Zeit als Kind. Dann wandte ich meine Gedanken meiner Zukunft zu, die sicherlich aufregender werden würde als das beschauliche Leben in meinem Heimatdorf. Dass es eine Zukunft sein würde, die turbulenter wurde, als mir lieb sein konnte, lag damals jenseits meiner Vorstellungskraft.
Auf der Fahrt in die unbekannte Stadt waren wir alle sehr mit unseren Gedanken beschäftigt und sprachen kaum ein Wort. Einmal fragte uns Paul Mole kurz, was wir denn dort speziell lernen wollten. Mary antwortete ihm, als sie sich bequem zurück in den Sitz lehnte: „Ich will gerne Tänzerin werden. Oder ich schaue irgendwann bei den anderen Kursen herein und entscheide mich später für ein Fachgebiet.“ „Und ich will gerne neue Leute kennenlernen und mich auf die Suche nach dem ultimativen Job begeben.“ seufzte Jessie müde auf dem Rücksitz. Sie hatte die letzten Nächte vor unserer Abreise kaum geschlafen vor Aufregung. Ich selbst wusste noch überhaupt nicht, was mich erwartete und für welche Art Beruf ich mich entscheiden wollen würde. Darum sagte ich leise: „Ich will hauptsächlich etwas neues kennenlernen und zunächst aus unserem kleinen Dorf verschwinden.“ Lachend schaute Paul Mole mich auf dem Sitz neben sich an und war begeistert. „Das ist der beste Grund überhaupt dorthin zu gehen. Ich würde es in diesem Dorf auch nicht mein ganzes Leben aushalten.“ Er hatte ein Lächeln, bei dem man mitlächeln musste. Es war irgendwie ansteckend und sympathisch. Auch konnte man in seinem sonst so markanten Gesicht Lachfalten erkennen, die daraus schließen ließen, dass er oft lachte. Dieses machte ihn auf die ein oder andere Weise sympathisch.
Von weitem erblickten wir unser Reiseziel. Es sah riesig aus. Es dauerte noch einige Zeit, bis wir nah genug herankamen, um Einzelheiten dieser Stadt zu erkennen. Als Erstes sahen wir eine gigantische graue Stadtmauer um die ganzen Häuser herum. Darüber schauten einige große Dächer und eine Kirchturmspitze heraus. Näher an der Stadtmauer, sah ich, dass diese wirklich sehr groß war. Warum sagte mir eine innere Stimme nur, dass etwas Großes nicht hineinkommen sollte? Selbst ein Riese hätte Probleme darüber zu kommen. Das Stadttor war ebenso riesig. Mit zwei breiten schwarzen Torflügeln und einem Fallgitter signalisierte das Tor, dass ungebetene Gäste sich fern halten sollten.
Neben der Mauer lag ein See, der wie Gold in der Sonne schimmerte. Mir wurde bei diesem Anblick richtig warm ums Herz und ich war direkt verliebt in diese Schönheit der Natur. Mit verträumtem Blick schaute ich auf den See hinaus und beobachtete die zaghaften Wellen, die der Wind leicht aufbaute. Selbst diese glitzerten wie Gold. Am liebsten hätte ich mir ein kleines Häuschen an diesem See gebaut und wäre dort alleine glücklich geworden. Aber leider fehlte mir das Geld dazu. Darum musste ich wohl oder übel zunächst mal wieder die Schulbank drücken.
Nachdem wir an dem Stadttor anhielten, kamen zwei Wachen auf uns zu. Einer von beiden sah Paul Mole an und fragte: „Was sind das für Frauen, die sie uns da in die Stadt schleusen wollen?“ „Das sind neue Schülerinnen. Ich werde sie gleich in die Schule bringen. Und danach werde ich mal eurem Bürgermeister einen kleinen Besuch abstatten.“ antwortete Paul Mole etwas genervt. Offenbar kannte er diesen Wachmann schon. Die Wachen hatten gepanzerte Rüstungen an, wie in vergangenen Zeiten, als Kriege und Gewalt noch an der Tagesordnung waren. Der Kopf, die Arme und die Beine waren frei, aber am Rest des Körpers waren sie durch Kettenhemden geschützt. Ich fragte mich wirklich, wovor sich diese Leute hier schützen wollen. Besonders in dieser Zeit des Friedens und des Wohlstandes mit Kettenhemden herumzulaufen, fand ich ziemlich lächerlich.
Mit einer kurzen Handbewegung ließen uns die Wachmänner passieren. Schnell öffnete ein Dritter einen Flügel des großen schwarzen Tores und winkte uns durch.
Neugierig fragte ich unseren alten Lehrer: „Wieso tragen die Wachen hier Kettenhemden? Diese Sachen sind doch ein bisschen übertrieben kriegerisch, oder?“ Einen kurzen Moment überlegte Paul Mole und antwortete dann schließlich: „Ich glaube, dass diese Männer hier traditionelle Wachkorps sind und daher auch die historischen Ausrüstungen wie früher anhaben müssen. Das mag ich an dieser Stadt. Sie ist sehr alt und ihre Bräuche sind aus alten Zeiten. Und doch sind viele moderne Sachen hier zu finden. Ihr werdet es auch bald feststellen, wie toll es hier ist.“ Mary lächelte und meinte belustigend: „Ich hoffe ja wirklich, dass es hier besser ist, als in unserem kleinen Dorf.“
Paul Mole fuhr uns durch die halbe Stadt und zeigte uns wo die Post ist, wo sich das Rathaus und die Schule befindet. Die Häuser, die wir von den Straßen aus gesehen hatten, waren sehr alt. Es hatte den Anschein, dass sich dort seit Hunderten von Jahren nichts verändert hätte.
Mir fiel auf, dass die Stadt von Rollwegen übersät war. An jeder Straße auf dem Bürgersteig gab es diese Rollwege. Sie sahen so aus, wie die Rolltreppen, die ich mal in einem Einkaufszentrum gesehen habe bei einem Ausflug in die große ferne Stadt, nur dass sie nicht nach oben oder unten verlaufen, sondern geradeaus. Irgendwie fand ich das lustig. Jessie fragte müde: „Was sind das für selbstfahrende Wege?“ Paul Mole antwortete erklärend: „Die Leute hier sind ziemlich faul. Es gibt hier nur wenige Autos. Wenn die Menschen hier problemlos etwas transportieren wollen, wird es einfach auf so einen Weg gestellt. Für einen selbst ist es auch praktisch, weil man sich damit umherfahren lassen kann. Es ist wirklich bequem.“ Mary lachte. Dann fügte sie belustigt hinzu: „Hoffentlich werden wir nicht auch so faul. Ich will meine dünne Figur noch eine ganze Weile behalten.“
„So wir sind da. Ab jetzt seid ihr auf euch alleine gestellt. Ich verlasse euch nun.“ sagte Paul Mole etwas seufzend. Kurz darauf packte er unsere Sachen aus dem Auto und danach verabschiedeten wir uns.