Читать книгу Wonderscape - Jennifer Bell - Страница 9

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Eins stimmt natürlich: Ich bin tatsächlich vor Hunderten von Jahren gestorben«, sagte der Kapitän etwas schroff. »König George hat mir sogar ein Staatsbegräbnis spendiert.« Er zog sich beim Sprechen die Jacke glatt. Arthur bemerkte ein cognacfarbenes Notizbuch, das aus seiner Tasche lugte. »Und doch stehe ich in diesem Moment leibhaftig vor euch.«

Arthur zog die Augenbrauen hoch. Der Kapitän konnte auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Was wollte er wohl damit andeuten? Dass er von den Toten auferstanden war?

Je länger Arthur über die Sache nachdachte, umso größere Zweifel quälten ihn. Dummerweise hatte sich die Nadel auf seinen »Realitätskompass« in den letzten Stunden dermaßen verschoben, dass er gar nicht mehr wusste, was er glauben sollte. Wenn es möglich war, in Peacepoint Estate durch eine Tür zu gehen und auf einem Schiff herauszukommen, war es dann nicht vielleicht auch denkbar, dass dieser Mann tatsächlich Isaac Newton war?

»Ich würde euch ja alles erklären, wenn ich könnte«, fuhr der Kapitän fort, wobei er einen verstohlenen Seitenblick auf den Ersten Offizier warf, »aber Wonderscapes Geheimnisse müssen geheim bleiben. Nun gut, ihr könnt es wahrscheinlich kaum erwarten, eure Beute in Empfang zu nehmen?« Er ließ den Blick über ihre klatschnassen Schuluniformen gleiten und sah verwundert noch ein zweites Mal hin. »Erster Offizier?«

Der Angesprochene kam angeschwirrt. »Sir?«

»Die drei tragen keine Wondercapes! Aus welcher Wonderscape-Welt kommen sie?«

Der Erste Offizier musterte Arthur, Ren und Cecily. »Ich weiß es nicht, Sir.« Er zog einen Spiralblock aus seiner Laborkitteltasche, schlug die erste Seite auf und hielt sie Newton hin. »Das sind die Koordinaten des Weltenportals, durch das sie Zutritt bekamen.«

»Was?« Die Stimme des Kapitäns klang plötzlich schrill. »Das ist unmöglich.« Er umrundete Arthur, Ren und Cecily langsam und beäugte sie, als wären sie Bakterien in einer Petrischale.

Gleichzeitig blickte Arthur den Kapitän prüfend an. Es ließ sich nicht leugnen, dass er Isaac Newton zum Verwechseln ähnlich sah, und falls auch die Einträge in den Notizbüchern von ihm stammten, ergäbe die merkwürdige altmodische Sprache Sinn. Arthur verstand nicht, wie das Ganze möglich sein sollte, aber langsam fing er an, es zu glauben. Er rief sich die ersten zwei Zeilen des Rätsels in Erinnerung: Stecht in See und geratet nicht in Panik mit dem Begründer der klassischen Mechanik. Das bezog sich ohne jeden Zweifel auf Newton. Die Formulierung der Gesetze der Bewegung war eine der größten Errungenschaft des Wissenschaftlers.

Als der Kapitän sie einmal umrundet hatte und wieder vor ihnen stand, wirkte er nervös. »Ihr dürftet eigentlich nicht hier sein«, sagte er.

»Endlich jemand, der versteht, was Sache ist!« Cecilys Atem färbte die kalte Luft, während sie einen Schritt vortrat. »Bitte, Sie müssen uns helfen. Wir sind durch eine Tür gegangen, die womöglich so eine Art Portal war, um diesen Hund zu retten.« Zur Veranschaulichung hob sie Cloud höher, der mit überhängenden Pfoten auf ihrem Arm saß. »Und dann gingen plötzlich unsere Handys nicht mehr, und wir waren auf diesem Schiff. Jetzt müssen wir irgendwie wieder nach Hause kommen.«

»Portal … Handys …« Newton notierte sich die Begriffe in seinem ledernen Notizbuch und rieb sich das Kinn. »Vielleicht kann ich euch die Situation erklären, aber zuerst muss ich darauf bestehen, dass ihr aus diesen nassen Sachen rauskommt. Es ist zu eurer eigenen Sicherheit. Kommt mit.«

Arthur wusste nicht, wie ihre nassen Sachen ihre Sicherheit gefährden sollten, abgesehen davon vielleicht, dass sie sich erkälteten. Aber wenn dem angeblichen Isaac Newton zu folgen es ihnen ermöglichen würde, sich aufzuwärmen und Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, dann hatte er nichts dagegen einzuwenden.

Den Ersten Offizier im Schlepptau führte Newton Arthur, Ren und Cecily unter Deck. Der enge hölzerne Innenraum der Principia roch nach Motoröl und Seetang. Arthur legte die Ellbogen an, während sie im Gänsemarsch einen schmalen Gang entlangliefen, dessen Tapete mit Hexagonen gemustert war, und dann in ein enges Treppenhaus bogen. Irgendwo im Schiffsrumpf erklang die leise Melodie eines Seemannsliedes, das mit tiefen Stimmen gesungen wurde. Am Fuß der Treppe befand sich ein langer Korridor mit sechs Türen. Jede war mit einem handbeschrifteten Schild gekennzeichnet. Arthur erkannte die Handschrift aus den Notizbüchern wieder. Sie stammte von Newton.

»Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt«, erklärte der Wissenschaftler, als er sie an einer Tür, die als LABOR 18 gekennzeichnet war, vorbeiführte, »ist die Principia kein normales Schiff, sondern ein wissenschaftliches Forschungsschiff.«

»Irgendwie hab ich offenbar nicht aufgepasst, als wir Isaac Newton durchgenommen haben«, flüsterte Cecily Arthur ins Ohr. »Wofür ist er noch mal berühmt?«

»Er ist einer der größten Naturforscher aller Zeiten«, antwortete Arthur leise. »Er hat die Gravitation entdeckt.

»Gravitation?« Sie sah verblüfft auf Newtons Rücken.

Bei dem Gedanken an die Errungenschaften des Physikers musste Arthur sich kneifen. Es war unglaublich, dass er als Einzelner das Verständnis der Menschheit vom Universum verändert hatte. Ohne Newtons Vorarbeiten hätten andere Wissenschaftler niemals Flugzeuge oder Weltraumraketen entwickelt, und wahrscheinlich würden alle noch per Telegraf kommunizieren, weil es noch keine Satelliten gäbe.

»Ich habe das Schiff umgebaut«, fuhr Newton fort, »damit ich auf meiner Reise durch Wonderscape Natur und Kosmos erforschen kann. Auf den ersten Blick erscheint die Principia vielleicht wie ein ganz normales Schiff, aber sie ist komplex wie ein Uhrwerk, eine Präzisionsanfertigung von Mimen.«

»Mimen?«, fragte Arthur.

Newton deutete auf den Ersten Offizier. »Kurzform für mimetische Androiden; Wonderscape ist voll davon. Es gibt zwei Sorten: die T-Klasse-Einheiten und die V-Klasse-Einheiten.« Er zögerte kurz. »Sie sind manchmal ein bisschen gereizt. Nehmt es nicht persönlich.«

Arthur sah Ren und Cecily an, die beide mit den Schultern zuckten. Schlecht gelaunte Roboter waren im Moment ihr geringstes Problem.

Ungefähr im letzten Drittel des Korridors blieb Newton stehen und öffnete eine Tür mit der Aufschrift FUNDSACHEN. »Hier bewahre ich Dinge auf, die andere zurückgelassen haben. Für den Fall, dass sie irgendwann nützlich sein könnten. Hier solltet ihr alle etwas Passendes finden. Wenn ihr euch umgezogen habt, die letzte Tür rechts führt in mein Arbeitszimmer. Wir sehen uns dort.«

Als Newton sich zum Gehen wandte, bemerkte Arthur, dass er sein Notizbuch hervorzog und eine leere Seite aufschlug. Während er sich, gefolgt vom Ersten Offizier, entfernte, machte er sich Notizen.

»Glaubt ihr wirklich, er ist der Isaac Newton?«, fragte Ren und öffnete die FUNDSACHEN-Tür. »Ich meine, wie soll das gehen? Der ist doch tot.«

Arthur rieb sich die Schläfen, als sie das Zimmer betraten. Das Ganze war so absurd, dass es ihm Kopfschmerzen machte. »Keine Ahnung wie«, musste er zugeben, »aber je mehr der Kapitän uns erzählt, umso wahrscheinlicher kommt es mir vor, dass er die Wahrheit sagt. Er sieht aus wie Newton, er verhält sich wie Newton, und er besitzt offenbar auch sein Wissen und seine Fähigkeiten.«

»Dann ist er also so was wie ein Zombie?«, fragte Ren.

Arthur sah sie an. »Nein, das natürlich nicht. Aber irgendetwas Merkwürdiges geht hier vor sich.«

In dem Raum mit den Fundsachen, der ungefähr so groß wie eine Schulcafeteria war, lagerten genug Klamotten, um eine kleine Armee einzukleiden. Neben Truhen voller Pullis fanden sich Schränke mit Jacken und Mänteln, schubladenweise zusammengerollte Gürtel, Kisten voller T-Shirts, dicht behängte Stangen mit Kleidern und sogar ein Hutständer mit Strohhüten. Es roch nach Waschpulver und sauberen Laken, wie in einem Waschsalon.

»Das ist ja abgefahren«, staunte Cecily. »Wer hätte gedacht, dass ein jahrhundertealter Wissenschaftler eine so geniale Modesammlung hat.« Während sie über den Ärmel eines Kleides strich, runzelte sie jedoch plötzlich die Stirn. »Obwohl … haben wir das Spiel nicht beendet? Wozu müssen wir uns dann umziehen?«

»Newton meinte, es sei zu unserer eigenen Sicherheit«, erinnerte Arthur sie. Er machte sich auch langsam Gedanken, warum es noch keinen offensichtlichen Weg für sie gab, nach Peacepoint zurückzukehren. »Ich denke, wir müssen so lange mitmachen, bis wir gehört haben, was er uns zu sagen hat.« Er warf einen prüfenden Blick auf die Kleiderstangen. Alles war sorgfältig mit Papieretiketten versehen. Soweit er es erkennen konnte, waren die Schuhe nach Größe, die Hemden nach Farbe und die Hosen nach Stoffart geordnet. Newton hatte offenbar die chemischen Formeln der Materialien statt der üblichen Namen auf die kleinen Schilder geschrieben. Arthur war sich ziemlich sicher, dass die meisten Menschen C6H7O2(OH)3, womit eine Reihe Shorts ausgezeichnet war, als Baumwolle kannten.

Er fand ein Regal mit trockenen Schuhen in seiner Größe, ließ die Flip-Flops, Sneaker und Stöckelschuhe stehen und nahm sich ein paar Turnschuhe mit dicker Sohle.

»Ist gar nicht so leicht, sich zu entscheiden«, sagte Cecily, während sie eine Stange mit Cordröcken inspizierte. »Bei der Auswahl.«

»Wie wär’s einfach mit etwas Trockenem, das passt?«, schlug Ren vor, während sie eine Truhe mit Hosen durchwühlte. Sie entschied sich für eine schwarze Cargohose mit etlichen Taschen und verschwand hinter einem Paravent, um sich umzuziehen.

Nachdem er ein paar Kisten mit Büchern zur Seite geräumt hatte, stapfte Arthur zu einem Koffer mit der Aufschrift C16H10N2O2 und nahm eine Jeans heraus. Aus der Hosentasche lugte eine Ecke buntes Papier.

Als er daran zog, stellte er fest, dass es offenbar eine Eintrittskarte war. Darauf war im Hintergrund ein kuppelartiges, silbernes, von Bäumen umgebenes Gebäude zu sehen. Überlagert wurde das Bild von einem Text in schillernden Buchstaben:


»Was immer dieses Wonderscape ist, es ist ein ziemlich großes Ding«, stellte Arthur fest und hielt das Ticket in die Höhe, damit Cecily es sehen konnte. »Sie veranstalten eine eigene Ausstellung dafür.« Arthurs Dad hatte ihn voriges Jahr einmal mit zu einer Comic- und Filmausstellung genommen. Das war eine riesige Messe gewesen, auf der sämtliche Neuerscheinungen präsentiert wurden. Mit jeder Menge Ständen mit Werbeartikeln und haufenweise Meet-and-Greets mit berühmten Schauspielern und Künstlern und der Möglichkeit, schon vorab einen Blick auf Sachen zu werfen, die erst in Zukunft auf den Markt kommen würden.

Cecily schüttelte den Kopf. »Ist mir immer noch ein Rätsel, wie uns ein so bekanntes Spiel verborgen bleiben konnte und wie wir von einem Haus in Peacepoint Estate da reingeraten sind. Und wenn diese Klamotten hier tatsächlich alle von früheren Spielerinnen und Spielern stammen, dann müssen vor uns schon Tausende von Leuten auf der Principia gewesen sein.«

Noch verwirrter als vorher schob Arthur das EXPO-Ticket in seinen Rucksack. Dann kramte er weiter in dem Koffer, fand schließlich eine Jeans in seiner Größe und legte sie sich über den Arm.

»Wie weit sind wir wohl weg?«, rief Ren hinter dem Paravent hervor, während sie sich umzog.

Im ersten Moment wusste Arthur nicht, was sie meinte, doch dann wurde es ihm schlagartig klar. »Von Peacepoint meinst du?« Als er anfing, die verschiedenen Möglichkeiten zu überdenken, wurde ihm immer mulmiger. Der zweite Sonnenaufgang, den sie gesehen hatten, ließ sich nur dadurch erklären, dass sie in eine andere Zeitzone gelangt waren. Und das bedeutete …

Er warf den Kofferdeckel zu und ließ sich schwankend darauf nieder. Was immer das für ein Spiel war, es benutzte eine total irre Next-Level-Methode. Das Durchschreiten dieses seltsamen Portals musste sie an einen ganz anderen Ort auf der Welt transportiert haben, womöglich sogar noch weiter. Bei dem Gedanken wurde ihm angst und bange.

»Alles okay?«, fragte Cecily, während sie ihren Blazer gegen eine Lederjacke tauschte.

Nein! Aber er traute sich nicht, Cecily die Wahrheit zu sagen.

»Alles bestens«, log er. In Wirklichkeit hämmerte sein Herz so wild, als könnte es jeden Augenblick aus seinem Brustkorb springen. Sie waren wahrscheinlich Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt und hatten immer noch keine Ahnung, wie sie wieder zurückkommen sollten. Alles, woran er denken konnte, war, wie weit weg sein Dad jetzt wohl sein mochte …

Cecily sah ihn skeptisch an. »Wenn dir nicht gut ist, solltest du versuchen, tief ein- und auszuatmen. Sie demonstrierte es ihm, indem sie langsam durch die Nase einatmete und anschließend die Luft durch den Mund wieder hinausblies.

Arthur gab sich Mühe, es ihr nachzumachen. Je öfter er den Ablauf wiederholte, umso einfacher wurde es. Schon bald löste sich die Anspannung in seiner Brust. »Guter Tipp«, murmelte er. »Danke.«

Lächelnd wandte Cecily sich wieder der Bluse zu, die sie gerade bewunderte. »Ich glaube, es spielt gar keine so große Rolle, wie weit wir von zu Hause entfernt sind«, antwortete sie auf Rens Frage. »Hauptsache, es gibt einen Weg zurück. Isaac Newton ist ein Genie. Wenn uns jemand helfen kann, dann er.«

Arthur wusste Cecilys Optimismus wirklich zu schätzen. Die Tatsache, dass sie Hilfe bei einem quicklebendigen Isaac Newton suchten, bewies allerdings, in welchem Riesenschlamassel sie steckten.

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