Читать книгу Rächer des Herzens - Jennifer Blake - Страница 8
ОглавлениеVIERTES KAPITEL
Denys!«
Celina stand an der Treppe, die von der oberen Galerie in den Hof hinabführte. Soeben war ihr Bruder durch die Fußgängerpforte getreten. Wie ein Wirbelwind rannte Celina die Treppe hinunter. Die Freudentränen in den Augen nahmen ihr die Sicht, sodass sie fast gestolpert wäre. »Du lebst!«, rief sie und warf die Arme um ihren Bruder. »Ich kann es kaum glauben. Du lebst!«
»Aber natürlich lebe ich, Dummerchen«, murmelte Denys mit rauer Stimme, während er sie an sich drückte. »Glaubtest du, ein kleines Duell mit einem Fechtmeister wäre gleich mein Ende?«
»Ein Duell gegen einen wie de Silva? Na, du bist optimistisch!« Celina schenkte Denys’ Freunden zur Begrüßung ein kurzes Lächeln. Dann wandte sie sich wieder an ihren Bruder. »Wie hast du es geschafft, mit heiler Haut davonzukommen? Erzähl es mir. Und lass nichts aus!«
»Das Duell war fantastisch«, antwortete Denys. »Monsieur de Silva sah mörderisch gefährlich aus, das darfst du mir glauben.«
»Aber Denys trat ihm so gelassen gegenüber, als duelliere er sich jeden Morgen vor dem Frühstück«, meldete sich Hippolyte zu Wort. »Wir waren ziemlich überrascht.«
»Besten Dank«, sagte Denys trocken, dem die Spitze nicht entgangen war. »Aber Monsieur de Silva ist überaus großzügig, Lina, wirklich, und unglaublich rücksichtsvoll.«
»Tatsächlich?« Celinas Stimme klang ein wenig belegt. Sie legte den Arm um den Bruder. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, gefolgt von seinen Freunden.
»Ich schwöre dir, er hätte wohl zehn Gelegenheiten gehabt, mich zu töten, aber er tat es nicht. Warum er sich so zurückhielt, ist mir nicht ganz klar. Aber sicher werde ich es noch herausbekommen. Er erwies mir die Ehre, mich volle fünf Minuten lang mit ihm messen zu dürfen, dann beendete er das Duell so gekonnt …«
»Was heißt das, du wirst es herausbekommen?«
»Er hat sich bei mir entschuldigt, Lina! Aber das war hinterher. Erst dachte ich, die leichte Verletzung, die er mit zugefügt hat, wäre für ihn kein Grund, das Duell zu beenden. Aber ich täuschte mich. Der Arzt erklärte, ich dürfe nicht mehr weiterfechten, und de Silva nahm die Entscheidung ohne Murren an.«
»Du bist verletzt? Wo? Lass sehen!« Celina hielt Denys auf der obersten Treppenstufe zurück und musterte ihn eingehend. An seinen Stiefeln und auf dem rechten Hosenbein entdeckte sie Blutflecken. Und dann sah sie den Verband, der aus seinem Ärmel hervorlugte.
»Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagte Denys und machte sich von ihr los. »Kaum mehr als ein Kratzer.«
»Das sagst du jetzt! Aber wenn der Arzt deswegen das Duell abbrechen ließ, muss es etwas Ernstes sein.«
»De Silva hat eine Arterie getroffen«, sagte Armand. »Denys hat geblutet wie ein abgestochenes Schwein.«
»Es sah schlimmer aus, als es ist«, widersprach Denys. »Meiner Meinung nach wusste Monsieur de Silva genau, was er tat. Dieser Ausdruck in seinen Augen, chère ... Du hättest ihn sehen sollen. Diese Entschlossenheit, diese Zielsicherheit, diese tödliche Konzentration. Ich dachte … ich dachte schon, du würdest nun bald die Uhren anhalten, die Spiegel zur Wand drehen und das dunkle Cape heraussuchen müssen, das du erst kürzlich abgelegt hast.«
»Sei still!«, rief Celina erschauernd.
Aber Denys war nicht zu bremsen. »Das ist noch nicht alles, Lina. Du wirst nie darauf kommen, was dann geschah. Der Maestro lud mich zu einer privaten Lektion in seinem Studio ein. Dieses Privileg wird sonst nur den besten und viel versprechendsten Fechtern zuteil.«
»Meines Wissens hat de Silva so etwas noch nie getan«, sagte Hippolyte. Sie hatten die obere Galerie erreicht und setzten sich an den Tisch, der bereits für das Frühstück gedeckt war. »Ich bin noch ganz gelb vor Neid.«
»Und ich erst!«, sagte Armand. »Gelb wie eine Unke.«
»Wie eine Banane«, setzte Hippolyte hinzu. Dabei deutete er auf die kräftigen Stauden, die unten, rings um den mit Steinplatten gepflasterten Hof gepflanzt waren. Sie überschatteten den Brunnen, der in einer Ecke leise vor sich hin plätscherte.
»Gelb wie ein Eidotter!«, sagte Armand mit einem hoffnungsvollen Blick auf den Frühstückstisch, bevor er Hippolyte einen freundschaftlichen Stoß versetzte. »Gelb vor Hunger.«
»Eine solche Einladung ist wohl eine große Ehre?«, fragte Celina, die der Albernheiten, mit denen die jungen Männer ihrer Anspannung Luft machten, langsam überdrüssig war. Dass sie ihrer Erleichterung Ausdruck verleihen mussten, verstand sie. Aber der scherzhafte Wortwechsel konnte sich leicht zu einer freundschaftlichen Rangelei auswachsen, die Denys’ Arm sicher nicht gut tat.
»Das ist eine Untertreibung«, antwortete ihr Bruder. »Mir fehlen geradezu die Worte, angesichts solcher Großzügigkeit. Ja, mir fehlen die Worte.«
Dennoch hatten er und seine Freunde noch viel zu berichten. Sie beschrieben Rio de Silvas Kunstfertigkeit und seine unerhörte Selbstbeherrschung in allen Einzelheiten. Besonders hoben sie die schlichte Eleganz hervor, mit der er sich bei Denys entschuldigt hatte. Celina merkte bald, dass die überschäumende gute Laune der jungen Männer teilweise den starken Getränken zuzuschreiben war, die sie sich wohl auf dem Heimweg einverleibt hatten. In diesem Fall fand sie das nicht so schlimm. Ihr Bruder hatte sich in große Gefahr begeben, und er war noch am Leben. Das allein zählte für sie.
Die jungen Männer gingen noch einmal Schritt für Schritt das gesamte Duell mit ihr durch. Täuschend echt ahmten sie die Bewegungen und Geräusche nach. Da öffnete sich eine Tür am Ende der Galerie, und heraus trat ihr Vater in einem knöchellangen persischen Morgenmantel, die Schlafmütze mit der Quaste noch auf dem Kopf.
»Papa!«, rief Denys und sprang auf. »Haben wir dich geweckt? Wenn ich gewusst hätte, dass du noch schläfst, hätten wir sicher nicht solch einen Lärm gemacht.«
»Papperlapapp«, sagte der Vater unwirsch. Er trat an den Tisch und begrüßte Denys mit einer kurzen Umarmung. »Bon Dieu, warum muss ich von Fremden erfahren, dass sich mein Sohn auf dem Feld der Ehre einem Fechtmeister ausliefern will? Als ich davon hörte, bin ich sofort nach Hause gefahren, aber du warst nicht hier.«
»Ich hätte es dir gesagt, Papa. Aber ich wusste nicht, wo du bist.«
Eine angespannte Stille legte sich über die kleine Gesellschaft. Die leichte Röte, die auf den Wangen des Vaters erschien, hob das dunkle Venengeflecht auf seiner Nase noch stärker hervor. Seine blutunterlaufenen Augen wirkten müder als sonst. »Hm. Nun gut. Du bist noch am Leben. Dafür danke ich der gnädigen Jungfrau und allen Heiligen. Du musst einen Schutzengel gehabt haben. Nach allem, was man so über diesen de Silva hört, kann es nicht anders sein.« Er bedeutete seinem Sohn und dessen Freunden, die sich höflich erhoben hatten, sich wieder zu setzen, und nahm selbst am Kopfende des Tisches Platz. »Und nun berichte, wie es dir gelungen ist, mit dem Leben davonzukommen. Dass du verletzt bist, sehe ich. Aber wie kann es sein, dass die Wunde nicht tödlich war?«
Celina hatte schon mehr gehört, als sie ertragen konnte. Mit der gemurmelten Ausrede, sie wolle nach dem Frühstück sehen, entschuldigte sie sich. Dann ging sie hinunter zur Küche und bat die Köchin, der Herrengesellschaft Kaffee, frisches Brot und Käseomelettes bringen zu lassen. Anschließend schlenderte sie die mit Steinplatten gepflasterte untere Galerie entlang, die Küchengebäude und Wohnhaus verband und wie die obere Galerie als Verbindungsweg zwischen den einzelnen Zimmern in dem Stockwerk fungierte. Über sich konnte sie die Stimmen der Männer hören. Aber sie hatte es nicht eilig, wieder zu ihnen zurückzukehren. Celina lehnte sich gegen eine Säule aus Ziegelsteinen, die mit ockerfarbenem Gips verputzt war. Erst als sie diese feste, bereits von der Sonne gewärmte Stütze im Rücken spürte, merkte sie, wie weich ihre Knie waren.
Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen, indem sie den Blick durch den sonnenbeschienenen Innenhof schweifen ließ. Sie liebte diese ordentliche grüne Oase. Eine riesige Eiche warf bewegte Schatten auf die Pflastersteine, mit denen der Hof ausgelegt war. Ein leichter Wind bewegte die Zweige. Auf den knorrigen Ästen hatten sich dunkelgrüne Farne angesiedelt. Zwischen den Farnwedeln in den seitlichen Beeten duckten sich Winterveilchen. Ein kleiner Vogel labte sich an dem Brunnen unter den Blättern der hohen Bananenstauden und der Palmen, die in dem geschützten Geviert bisher noch keinen Frost gespürt hatten. Der Anblick dieses friedlichen Bildes hätte Celina beruhigen sollen, doch ihre Gefühle waren in Aufruhr.
Rio de Silva hatte sein Wort gehalten. Er hatte ihren Bruder verschont und ihn dabei nicht einmal gedemütigt. Die Einladung in de Silvas Studio sorgte dafür, dass Denys in den Augen der Zuschauer und seiner Freunde keine blamable Niederlage erlitten hatte und nicht zum Gespött werden würde.
Eigentlich hätte sie dankbar sein müssen, und in gewisser Weise war sie es auch. Gleichzeitig war Celina bestürzt darüber, wie leicht sie diesen glimpflichen Ausgang des Duells hatte arrangieren können. Nun fragte sie sich, wann und wie der Fechtmeister seine Belohnung von ihr einfordern würde.
Die Antwort auf diese Frage konnte nur er selbst ihr geben.
Im Laufe des Morgens verabschiedeten sich die Freunde ihres Bruders. Denys wollte sich umziehen, ein wenig ausruhen und dann vielleicht die Nase in seine Bücher stecken. Er studierte bei dem bekannten Juristen Judah P. Benjamin und wollte Anwalt werden. Celina besprach mit dem Vater die Pläne für den Abend. Weil sich Denys schonen sollte, erklärte sich Monsieur Vallier widerstrebend bereit, Celina zu einer Soirée im Haus der Kusine ihrer Mutter, Madame Sonja Plauchet, zu begleiten. Sie legten auch fest, was es zum Abendessen geben sollte. Dann kleidete sich der Vater an und ging mit Mortimer, seinem Butler und Leibdiener, auf den Markt unterhalb der Rue de la Levée. Nach einer Stunde kehrten die beiden zurück. Mortimer trug den Einkaufskorb. Darin lagen ein nasser Grassack mit frischen Shrimps, dazu ein fettes Huhn, vier oder fünf gelbe Äpfel, verschiedene Sorten Salat und allerhand frische Gewürze.
Celinas Vater besprach das Abendessen mit der Köchin. Dann verließ er das Haus, ohne zu sagen, wohin er ging.
Am Nachmittag kam Tante Marie Rose von ihrem Nähkränzchen zurück. Von der Arbeit und dem Tratsch mit den Freundinnen erschöpft, genehmigte sie sich ein Nickerchen. Celina beschäftigte sich eine Zeit lang mit ihrem Stickrahmen. Die zierlichen Stiche in buntem Seidengarn richtig zu setzen, verlangte eine gewisse Aufmerksamkeit und war damit eine willkommene Ablenkung. Gegen Abend nahm sie ein Bad und kleidete sich für die Soirée an. Wahrscheinlich würde sie dort nur Verwandte treffen. Celina wählte für den Anlass ein eher schlichtes, meerblaues Kleid, dessen Rock aus drei übereinander gesetzten Volants bestand. Dazu trug sie Schuhe aus weißem Ziegenleder. Suzette flocht ihr das Haar, steckte die Flechten zu einer hohen Krone auf, legte ihr ein samtenes Halsband mit einem goldenen Anhänger um und reichte ihr ein Cape in goldfarbenem Samt.
Die Soirée war wider Erwarten recht unterhaltsam. Monsieur Sloman, ein bekannter Tenor, der erst kürzlich am St. Charles Theatre aufgetreten war, gab heitere Weisen zum Besten. Danach wurde wie immer getanzt. Die Cremetörtchen, die man zur Stärkung reichte, waren vorzüglich und wurden in den höchsten Tönen gepriesen. Als Ehrengast hatte man den spanischen Grafen eingeladen. Er durfte bei keinem Fest der Saison fehlen. Dass er nicht erschien, verstimmte die Gastgeberin, doch Celina war es einerlei.
Hin und wieder gab es draußen kräftige Regengüsse. Der Winter versprach, sehr nass zu werden. Doch zwischen zwei Schauern konnten Celina, ihr Vater und Suzette zum Stadthaus zurückspazieren und brauchten sich keine Kutsche kommen zu lassen. Der Vater lieferte Celina zu Hause ab und ging noch einmal aus.
Vom frühen Morgen einmal abgesehen, war dies ein ganz normaler Tag gewesen. Doch Celina hatte dauernd an ihr Versprechen denken müssen und daran, wem sie ihr Wort gegeben hatte. Kaum ein Augenblick war vergangen, in dem sie sich nicht gefragt hatte, ob Rio de Silva in der Nacht zu ihr kommen würde.
Sie hatte auf dem kurzen Weg zu Kusine Plauchets Haus und auch auf dem Rückweg nach ihm Ausschau gehalten. Doch er befand sich nicht unter den Spaziergängern, die gemeinsam mit den Nonnen im Habit und den Blumen- und Pralinenverkäufern die Bürgersteige bevölkerten. Als Suzette ihrer Herrin nach der Heimkehr aus dem Kleid half, glaubte Celina schon fast, sie habe sich umsonst den Kopf zerbrochen. Wahrscheinlich hatte der Fechtmeister nie ernsthaft erwogen, sie aufzusuchen. Er hatte ihr nur zeigen wollen, wie töricht es war, sich in die Angelegenheiten ihres Bruders einzumischen.
Suzette wünschte Celina schließlich angenehme Träume und ging in ihr eigenes Zimmer, das über der Küche lag. Celina versuchte, in einem Büchlein mit Gedichten des makaberen Poeten Poe zu lesen, doch es gelang ihr nicht, sich auf die Verse zu konzentrieren. Also löschte sie die Kerze und starrte in die Dunkelheit. Schmale Lichtstreifen fielen durch den Fensterladen herein. Die schummrige Beleuchtung stammte von der Straßenlaterne an der Ecke, die mit Walöl gespeist wurde.
Der Regen setzte wieder ein. Celina lauschte der Melodie der Tropfen auf den Steinplatten und Geländern. Ein paar Gitarrenakkorde drangen zu ihr herauf. Wahrscheinlich suchte irgendein Straßenmusikant in einer Toreinfahrt Schutz vor dem Regenguss. Pferdehufe klapperten auf dem Pflaster, und eine Kutsche holperte vorbei. In der Ferne bellten Hunde. Sicher jagten sie eine Katze oder ein anderes kleines Tier durch die Gassen. Seufzend schloss Celina die Augen. Sie nahm sich fest vor, sofort einzuschlafen.
»Guten Abend, Mademoiselle. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen.«
Erschrocken setzte sich Celina kerzengerade im Bett auf und schnappte heftig nach Luft. Ihre Augen durchforschten die Dunkelheit. Sie blieben an den hohen Fenstern des Balkons hängen, der zur Straße hin führte. Die Silhouette eines Mannes hob sich gegen das schwache Licht der Straßenlaterne ab. Er schloss zuerst den äußeren Laden, dann die Balkontür. Das feine Gewebe des Moskitonetzes behinderte Celinas Sicht. Aber die große, athletische Gestalt, die nun vor ihr stand, hätte sie überall erkannt.
Rio de Silva.
»Wie … wie sind Sie hier heraufgekommen?«, fragte sie atemlos.
»Nichts leichter als das, meine Liebe.« Er schwang etwas in ihre Richtung, das wie eine zusammengerollte Peitsche oder ein Seil aussah, und lehnte eine Gitarre an die Wand. »Es ist so einfach, dass ich mich oft frage, warum die Leute ihre Balkontüren so gut wie nie verschließen.«
»Aber man hätte Sie sehen können!«
»Ich habe gewartet, bis niemand mehr in der Nähe war. Doch Ihre Besorgnis ehrt mich, Mademoiselle.« Er legte sein Handwerkszeug ab und den Hut gleich dazu.
Celinas Herz machte einen Sprung. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, selbst das Atmen fiel ihr schwer. »Ich bin nicht um Sie besorgt«, stieß sie hervor. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie er näher kam. »Ich mache mir nur Gedanken …«
»Wegen Ihres guten Rufes? Das tue ich auch. Er soll keinen Schaden nehmen.«
Was konnte sie ihm darauf antworten? Aber schließlich gab es wichtigere Dinge zu besprechen. »Ich muss Ihnen für die freundliche Behandlung danken, die Sie Denys zuteil werden ließen. Sie haben es geschafft, die leidige Affäre zu Ende zu bringen, ohne ihm zu schaden, und … und ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«
»Ich hatte Ihnen mein Wort gegeben«, sagte de Silva und sah sie eindringlich an. »Und Sie mir das Ihre.«
»Aber …«
»Ich denke, dass Sie noch etwas anderes beschäftigt.«
»Was denn?«
»Ob ich mich Ihnen gegenüber als ebenso rücksichtsvoll erweisen werde.«
Celina hätte ihn gern gefragt, wie er das meinte und was er nun mit ihr anzustellen gedachte. Doch diesen Gefallen wollte sie ihm nicht tun. Außerdem war sie nicht sicher, dass sie wirklich wissen wollte, was sie erwartete. »Sie sagten, Sie wollten mir nicht schaden. Darauf verlasse ich mich«, antwortete sie mit einem kaum wahrnehmbaren Zittern in der Stimme.
Der Fechtmeister schwieg. Dann trat er noch weiter vor und hob das Moskitonetz. Er legte es über einen der Bettpfosten, stieg auf die untere der Stufen, die zum Bett hinaufführten, und nahm auf der Bettkante Platz. Die Matratze senkte sich unter seinem Gewicht. Celina krallte die Hände in die Bettdecke. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht einfach über die andere Seite des Bettes zu flüchten.
»Ihnen schaden«, hob Rio nachdenklich wieder an. »Es kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Oder wie das der Mann sieht, den Sie heiraten werden.«
»Ich weiß nicht, was …«, begann Celina. Doch dann hielt sie abrupt inne. »Oh.«
»Ja, oh.«
Rios amüsierter Unterton zerrte an ihren Nerven. Sie mochte es nicht, wenn man sie belächelte. Ärger war ein gutes Mittel gegen die Angst. »Ich nehme an, er wird in Anbetracht meiner Mitgift über kleinere … Beschädigungen hinwegsehen.«
»So, wird er das? Um eine Liebesheirat scheint es sich ja nicht gerade zu handeln.«
»Absolut nicht«, sagte Celina gereizt. »Man könnte eher von einer geschäftlichen Verbindung sprechen.«
»Das ist natürlich etwas anderes.« Rio legte den Kopf schief. »Was der Bräutigam bekommen wird, sehe ich: eine schöne junge Frau, die nicht ganz unvermögend ist. Aber was versprechen Sie sich von dieser Ehe?«
Rios Gesicht lag im Schatten, deshalb vermochte Celina nicht recht einzuschätzen, wie sie die Frage auffassen sollte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. »Gar nichts.«
»Ehrt es Sie, von einem leibhaftigen Grafen umworben zu werden?«
»Nein.«
»Sie brennen nicht darauf, die Condesa de Lérida zu werden und am Hofe von Königin Isabel in Madrid erscheinen zu dürfen? Sie wollen nicht die Herrin eines Hauses werden, das eher einem Schloss gleicht und von riesigen Ländereien umgeben ist?«
»Nein. Ich möchte New Orleans am liebsten gar nicht verlassen. Alles, was ich kenne und liebe, ist hier – meine Familie, meine Freunde, einfach alles.«
»Aber warum haben Sie den Antrag dann angenommen?«
»Das habe ich gar nicht.«
»Der Graf hat doch sicher mit Ihnen gesprochen, hat versucht herauszufinden, ob Sie ihn auch heiraten wollen?«
Für Celina hörte es sich so an, als habe der Fechtmeister bei dieser Frage die Stirn in Falten gelegt, aber sicher war sie sich dessen nicht. »Ich habe ihn bisher nur zweimal gesehen. Das erste Mal in der Familienloge in der Oper, das zweite Mal bei einem Ball. In der Woche nach unserem ersten Zusammentreffen suchte er meinen Vater auf. Nach etwa einer halben Stunde schickte Vater nach dem Cognac.«
»So schnell wurden sich die beiden einig?«
»Die Verhandlungen dauern noch an. Offenbar verlangt der Graf die volle Verfügungsgewalt über meine Mitgift. Andernfalls ist vorab eine größere Summe zu bezahlen. Erst dann wird er sich herablassen, mich zu ehelichen.« Celina fand es sehr befreiend, diese ungeheuerlichen Tatsachen endlich einmal laut aussprechen zu können. Der Mann, der auf ihrer Bettkante saß, gehörte zu den wenigen Menschen, vor denen sie ganz offen sprechen konnte, ohne befürchten zu müssen, dafür verurteilt oder gerügt zu werden.
»Dann besteht ja noch Hoffnung«, sagte Rio in nachdenklichem Ton.
»Leider kann ich das nicht so sehen.« Einen Augenblick lang starrte Celina ihn in der Dunkelheit an. In ihr regte sich Neugier. »Warum interessiert Sie das eigentlich?«
»Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist das Glück einer mutigen jungen Dame.«
Celina war ziemlich sicher, dass er ihr nur auswich. »Kennen Sie den Grafen?«
»Sagen wir, unsere Wege haben sich gelegentlich gekreuzt.«
»Und Sie halten nicht viel von ihm.«
»Was bewegt Sie zu dieser Annahme?«
»Soweit ich weiß, wollten Sie, dass er sich durch Ihre Bemerkung beleidigt fühlt und nicht mein Bruder Denys.«
»Habe ich das gesagt?«
Rio de Silva verschwieg ihr etwas. Vielleicht glaubte er, ohnehin schon zu viel ausgeplaudert zu haben, oder er fand sie schlicht zu neugierig. Dabei hatte er das Gespräch mit seinen Kommentaren selbst in diese Richtung gelenkt und durfte sich nun nicht wundern, wenn sie ihm ein paar Fragen stellte.
Die Dunkelheit und das monotone Geräusch des Regens sorgten für ein Gefühl der Vertrautheit, das schon fast unheimlich war. Je länger de Silva unbeweglich auf Celinas Bettkante saß, desto selbstverständlicher kam ihr das vor. Sie fragte sich, ob es ihm ähnlich erging. Vielleicht gehörte es auch nur zur Strategie dieses erfahrenen Mannes, Frauen auf diese Weise die Angst zu nehmen. Oder er spielte mit ihr, wiegte sie in Sicherheit und ließ sie durch ihre Fragen zunächst ein wenig Zeit gewinnen.
»Wer sind Sie eigentlich in Wahrheit?«, fragte Celina. Sie stopfte sich ein Kopfkissen in den Rücken, um besser aufrecht sitzen zu können, und legte sich den langen, für die Nacht eingeflochtenen Haarzopf auf die Brust.
»Niemand, nur ein Fechtmeister.«
»Soweit ich weiß, sind Sie noch nicht lange in New Orleans.«
»Das stimmt.«
Seine Stimme klang abweisend, so als rede er nicht gern über sich selbst. Damit stachelte er Celinas Neugier nur noch weiter an.
»Warum sind Sie in die Stadt gekommen? Lebt Ihre Familie hier?«
»Ich habe niemanden mehr.«
»Keinen einzigen Angehörigen?« Celina versuchte sich vorzustellen, wie es war, der letzte Spross eines aussterbenden Geschlechts zu sein. Seit ihre Mutter und zwei ihrer Geschwister gestorben waren, lebte auch sie in einer recht kleinen Familie. Aber immerhin hatte sie noch Denys, ihren Vater, Tante Marie Rose und einige andere Verwandte, die fast ausnahmslos hier in der Stadt wohnten. »Was ist mit Ihren Eltern?«
»Sie starben durch ein Feuer, gemeinsam mit meinen Schwestern.«
»Wie furchtbar! Ist das in Spanien passiert?«
»Genau. Und es ist schon lange her.« Sein Ton war schroff, doch Celina glaubte, auch Schmerz in seiner Stimme zu hören.
»Aber Sie sind dem Feuer entkommen. Sie hatten Glück.«
»Es war eher ein Zufall.«
Celina legte den Kopf schräg. »Inwiefern?«
»Ich hielt mich woanders auf.«
Celina ließ sich von der knappen Antwort nicht beirren. Nachdenklich sagte sie: »Offenbar haben wir einiges gemeinsam. Als meine Mutter und meine jüngere Schwester starben, war ich auch nicht da. Ich dachte immer …«
»Was?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ach nichts.«
»Bitte, was wollten Sie sagen?«
»Dass ich den beiden vielleicht hätte helfen können, wenn ich bei ihnen gewesen wäre«, sagte sie leise. »Vielleicht hätte ich sie aufopfernder gepflegt, nicht so schnell aufgegeben.«
Lange Zeit kam von Rio kein Wort. Unbeweglich saß er neben Celina. Schließlich sagte er: »Sie fragen sich, warum Sie noch am Leben sind und die beiden anderen nicht.«
»Ja, so ist es. Meine kleine Schwester muss immer wieder nach mir gerufen haben. Die Tante meinte es gut, als sie mir das erzählte. Sie wollte mir damit sicher nur deutlich machen, wie sehr die kleine Marie Therese mich geliebt hat, und wie sehr sie sich wünschte, ich wäre bei ihr. Doch mich verfolgt dieser Gedanke oft bis in den Schlaf.«
»Ich habe mich auch häufig gefragt, ob meine Mutter und meine Schwestern nach mir riefen, ob ich sie und meinen Vater hätte beschützen können, wenn ich …« Er brach ab.
»Wie kam es, dass Sie nicht bei Ihrer Familie waren?«
Die Antwort ließ so lange auf sich warten, dass Celina schon fürchtete, sie sei mit ihrer Frage endgültig zu weit gegangen. »Mein Hauslehrer meinte, er habe mir nun alles beigebracht, was ich wissen müsse«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich war bereits an der Universität eingeschrieben. In der Zeit, bevor das Studium begann, zog ich umher und tat all die Dinge, mit denen sich vermögende junge Männer mit großen Zukunftsplänen zwischen Schule und Studium die Zeit vertreiben.«
»Der Pfarrer sagt, es sei eitel, sich selbst die Schuld an schweren Krankheiten oder Unfällen zu geben. Für eine so große Verantwortung seien wir weder mächtig noch wichtig genug.«
»Sie starben nicht durch einen Unfall.«
Celina starrte in Rios Richtung. »Wollen Sie damit sagen, dass … dass jemand das Feuer mit Absicht gelegt hat?«
»Eigentlich sollte auch ich darin umkommen. Als klar wurde, dass ich das Feuer überlebt hatte, beauftragte man ein paar zwielichtige Gesellen damit, mich umzubringen. Nur waren die gedungenen Mörder mit ihrem Lohn nicht zufrieden und wollten lieber zweimal kassieren. Einmal für meinen angeblichen Tod und einmal von dem Kapitän des Schiffes, das mit einer Fracht für den Dey von Algier nach Nordafrika segelte.«
»Dann waren Sie also tatsächlich einst ein Sklave. Suzette erfuhr es von Olivier, aber ich wollte es nicht glauben.«
»Mein Diener redet zu viel«, sagte Rio grimmig.
»In Suzettes Gegenwart kann man gar nicht anders«, sagte Celina. Sie lächelte, obwohl sie nicht glaubte, dass Rio es sehen konnte. »Und wie haben Sie die Sklaverei überlebt? Wie haben Sie Ihre Freiheit wiedererlangt?«
»Nur durch Glück. Kaum zwei Wochen, nachdem ich an Land gegangen war, besiegten die Franzosen die Algerier. Man ließ alle Sklaven frei.«
Rios grimmigem Ton entnahm Celina, dass er ihr auch bei diesem Teil der Geschichte etwas vorenthielt. Er war kein Mensch, der sich widerstandslos unter das Joch der Sklaverei beugte, der untätig daneben stand, während andere kämpften und ihm damit seine Freiheit zurückgaben. Was sich damals wirklich abgespielt hatte, würde sie wahrscheinlich nie erfahren. Doch inzwischen konnte sie sich ein recht gutes Bild von seiner Vergangenheit machen.
»Ich wusste doch, dass Sie nicht schon immer Fechtlehrer waren«, sagte sie mit einiger Zufriedenheit.
»Das stimmt.«
»Haben Sie das Fechten in Spanien gelernt?«
»Zum Teil. Aber die wichtigsten Techniken lernte ich in Frankreich, wohin ich nach meiner Befreiung gebracht wurde.«
»Das erklärt, warum Sie so gut Französisch sprechen. Sind Sie je nach Spanien zurückgekehrt?«
»Ein einziges Mal. Aber dort hielt mich nichts mehr.«
Meinte er das ganz wörtlich, oder hieß es, dass er dort keine familiären Bindungen mehr hatte? Celina hätte ihn gern gefragt, aber sie wollte ihn nicht bedrängen. »Also kamen Sie hierher. Aber ich frage mich noch immer, aus welchem Grund.« Sie musterte den Mann, der auf ihrer Bettkante saß, unter gesenkten Lidern. »Sie lassen sich in New Orleans nieder und eröffnen ein Studio in der Passage de la Bourse, kennen aber in der Stadt keine Menschenseele. Ein neues Leben hätten Sie doch auch an tausend anderen Orten beginnen können.«
»New Orleans ist eine reiche Stadt. Außerdem wird hier der Code Duello noch bis ins letzte Detail befolgt. Fechtinstruktoren werden also immer gebraucht.«
Celina hatte das Gefühl, dass dies wieder nicht die ganze Wahrheit war. »Dann sind Sie also vor allem aus geschäftlichen Gründen hier.«
»Ich halte mich über Wasser, so gut es geht. Nicht jeder kann sich vorstellen, was das bedeutet.«
»Damit wollen Sie wohl sagen, dass ich, weil ich aus einer betuchten Familie stamme, keine Ahnung vom wahren Leben habe«, stellte Celina fest. »Mein Vater ist reich, nicht ich. Sein Vermögen verdankt er dem Umstand, dass er bereit war, seinen gesamten Besitz zu beleihen und das Geld in eine Zuckerrohrplantage zu stecken. Er ging dieses Risiko in einer Zeit ein, in der andere Männer noch davor zurückschreckten.«
Rio schob sich ein wenig näher an sie heran. Er griff nach dem dicken Zopf, der sich dunkel von ihrem weißen Nachthemd abhob. »Sie halten große Stücke auf Ihren Herrn Papa, obwohl er gerade dabei ist, Sie mit einem Mann zu verheiraten, der vom Alter her Ihr Vater sein könnte.«
Das interessante Gespräch hatte Celina völlig vergessen lassen, dass von ihrem nächtlichen Besucher eine Bedrohung ausging. Aber offenbar hatte er sie nur einlullen wollen, damit sie nicht schrie, wenn er über sie herfiel. Nicht, dass sie beabsichtigte zu schreien. Schließlich wusste sie, was sie erwartete.
Dennoch fiel es ihr unendlich schwer, still sitzen zu bleiben, während de Silva die Finger in ihre Haarflechte wob. Es war, als sende jede einzelne Strähne, die er berührte, eine Botschaft an ihre Nervenenden, die sich nach und nach ihrem ganzen Körper mitteilte. Celina versuchte, das Gefühl zu ignorieren. Doch ihr Atem ging schneller, und ihr Herz schlug so heftig, dass sich der feine Stoff des Nachthemdes über ihrer Brust im selben schnellen Takt hob und senkte.
»Fällt Ihnen darauf nichts mehr ein?«, fragte Rio mit leisem Spott.
»Ich … war das als Frage gemeint?«
»Macht es Ihnen denn gar nichts aus, dass andere über Ihre Zukunft bestimmen?«
»Mein Vater betrachtet es als seine Pflicht, den bestmöglichen Ehemann für mich zu finden: einen Mann, dem man mit Respekt begegnet, der mich achtet und der mir ein Leben in den Umständen bieten kann, die ich gewohnt bin.«
»Das heißt, ausschlaggebend sind seine finanziellen Mittel.«
Celina schüttelte den Kopf. Dabei zerrte sie ein wenig an dem Zopf in seiner Hand. »Nicht unbedingt.«
»Aber es kommt nur ein Mann aus Ihrer eigenen Schicht infrage. Oder einer, der Ihnen zu noch mehr gesellschaftlichem Ansehen verhilft.«
»Aus Ihrem Mund klingt das so kalt!«
Rio blickte auf seine Hände hinab, die inzwischen damit beschäftigt waren, Celinas Zopf zu lösen. Die Haarsträhnen schimmerten im Dämmerlicht. »Mehr als eine kalte Geschäftstransaktion ist es ja auch nicht. Das soll kein Vorwurf sein, denn die Entscheidung liegt offenbar nicht bei Ihnen. Aber haben Sie denn gar keine eigene Meinung? Sind Sie so sehr an Gehorsam gewöhnt, dass Sie glauben, jeden Mann, den Ihr Vater Ihnen präsentiert, lieben und achten zu können? Meinen Sie, es sei gleichgültig, mit wem Sie das Bett teilen, solange er nur der richtigen Schicht angehört und genügend Geld hat?«
»Ich … ich muss die Entscheidung meines Vaters respektieren. Über Männer weiß er viel mehr als ich.«
»Weil Sie kaum einen Mann kennen, der nicht zur Familie gehört, und nie mit einem allein gesprochen haben, so wie jetzt mit mir.«
Selbst in der Dunkelheit hielt Celina Rios Blick nicht stand. »Das stimmt.«
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass es Ihrem Vater an Menschenkenntnis fehlen könnte? Oder dass er sich vielleicht von Äußerlichkeiten blenden lässt?«
»Wie können Sie es wagen …«, begann Celina.
»Und was bedeutet Ihnen Liebe?«, unterbrach Rio sie.
»Was soll damit sein?«
»Sind Sie denn nicht neugierig? Fragen Sie sich nicht, wie es ist, bis über beide Ohren verliebt zu sein, sich nach einem Mann geradezu zu verzehren? Sie wollen doch sonst immer alles ganz genau wissen.«
Natürlich wollte Celina gern herausfinden, was Liebe war, wie sie sich anfühlte, was sie zwischen Mann und Frau bewirken konnte und wie es wohl war, mit einem Mann verheiratet zu sein, dem auch ihr Herz gehörte. Doch solche Träumereien führten zu nichts. Ratlos starrte sie Rio an. Dann fiel ihr ein, was Suzette gesagt hatte: »Eine Frau respektiert ihren Ehemann und liebt ihre Kinder.«
»Und was macht der Mann?«
»Das ist etwas anderes.«
»Stimmt«, sagte er. Dabei breitete er ihr gelöstes Haar wie einen bronzenen Brustpanzer über dem Nachthemd aus. »Aber soll es so sein? Sollen Liebe und Leidenschaft nicht ihren Platz im Ehebett haben?«
»Es heißt, eine Frau kann lernen, den Mann zu lieben, der für sie sorgt«, sagte Celina fast ein wenig verzweifelt.
»Aber ob es tatsächlich so kommt, weiß niemand«, sagte Rio. Sein Blick hing noch immer an ihrem Haar. »Wollen Sie dieses Risiko wirklich eingehen?«
Sie befeuchtete ihre Lippen. »Was soll ich denn tun? Etwa den Antrag des Grafen ablehnen?«
»Ich fände das sehr vernünftig.«
»Aber was dann? Mit Frauen, die sich weigern, einen für sie bestimmten Mann zu heiraten, geht man nicht gerade zimperlich um. Sie werden eingesperrt oder gar geschlagen. Aber auf jeden Fall gibt man ihnen das Gefühl, ihre Familie im Stich gelassen zu haben. Wenn sich kein anderer Bräutigam findet, enden sie im Kloster oder als Kindermädchen für ihre Neffen und Nichten.«
»Stimmt. Zu einer solchen Entscheidung gehört viel Mut.«
Celina betrachtete die dunklen Schatten auf dem Gesicht des Fechtmeisters. Sie versuchte die Maske zu durchdringen, in die Augen des Menschen zu sehen, der so mit ihr sprach. Es wollte ihr nicht gelingen. Dazu war es einfach zu dunkel im Zimmer. Aber nicht einmal Kerzenlicht hätte geholfen. Dieser Mann war viel zu sehr auf der Hut, um etwas von sich preiszugeben.
»Es geht um den Grafen, nicht wahr?«, sagte sie schließlich. »Was aus mir wird, ist unerheblich, solange Sie nur seine Pläne durchkreuzen können.«
»Sie sollten sich selbst nicht so gering schätzen«, sagte Rio. Der tiefe Klang seiner Stimme war wie ein Streicheln. »Sie sind eine wunderschöne Frau, die etwas Besseres verdient, als an einen Mann verschachert zu werden, der vielleicht nach ihr giert, gleichzeitig aber dafür bezahlt werden will, dass er sie heiratet.«
Diese offenen Worte trieben Celina die Röte ins Gesicht. »Monsieur de Silva, das ist nun wirklich …«
»Rio«, sagte er. »Wenn man bedenkt, wie vertraut wir hier miteinander sitzen, erscheint mir diese Anrede ein wenig zu förmlich.«
»Sogar Eheleute sprechen einander mit Nachnamen an. Soweit ich weiß, ist diese Sitte noch nicht gänzlich überholt.« Celinas Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren seltsam gestelzt.
»Ja, mag sein.« Rio nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Dabei sah er ihr weiterhin ins Gesicht. »Aber wir sind nicht verheiratet. Und außerdem will ich nicht, dass die Frau, die in meinen Armen liegt, mir auf dem Höhepunkt der Leidenschaft einen förmlichen Gruß entbietet.«
»Monsieur de Silva, Rio, ich bitte Sie!«
»Worum? Sie nicht zu berühren? Sie nicht zu nehmen? Hatten Sie es sich anders vorgestellt? Dachten Sie, ich würde darauf verzichten, dass Sie Ihr Versprechen einlösen?«
»Nein. Aber, wie Sie darüber sprechen, erscheint mir so …« Sie fand nicht die rechten Worte.
»Sie möchten lieber nicht darüber reden? Ist es das? Sie wollen es so schnell wie möglich hinter sich bringen? Sehr schmeichelhaft finde ich das nicht.«
»Was Sie eben sagten, klang so abgeklärt – als handle es sich lediglich um ein Geschäft.«
»Ohne Leidenschaft, ja. Fast wie eine Ehe.«
»Ja, vielleicht. Wollten Sie … wollten Sie mir das mit Ihren Worten deutlich machen?«
»Schon möglich«, sagte er sanft. »Aber im Augenblick ist das nicht so wichtig.«
Er legte den Arm um Celinas Taille. Ohne Hast zog er sie zu sich heran, bis sie in seinen Armen lag. Warm und besitzergreifend senkte sich sein Mund auf ihren. Seine glatten Lippen passten sich den ihren perfekt an und erweckten sie zu solcher Empfindsamkeit, dass sie zu brennen schienen. Celina spürte Rios schnellen, regelmäßigen Herzschlag unter ihren Fingern, die zwischen ihnen eingeklemmt waren. Die winzigen Stoppeln auf der Haut über seiner Oberlippe kratzten ein wenig. Sie schmeckte seinen süßen Atem. Die Vielfalt der Empfindungen war so verwirrend, dass sich Celina, fast ohne es zu wollen, mit der Hand an Rios Hemdkragen festkrallte. Dabei wusste sie nicht, ob sie ihn wegstoßen oder noch näher zu sich heranziehen sollte.
Und das war noch nicht alles. Mit der feuchten und doch ein wenig rauen Spitze seiner Zunge zeichnete er den Schwung ihrer Lippen nach. Die Zartheit, mit der er dabei vorging, ließ Celina erbeben. Das Atmen wurde ihr schwer. Sie musste die Lippen ein wenig öffnen. Rio nutzte die Gelegenheit, um sich Einlass zu verschaffen. Ein völlig neues, völlig unerwartetes Gefühl ergriff von Celina Besitz. Unendliches Staunen mischte sich mit einer trügerischen Mattigkeit.
Der Kuss war eine Art Test. Trotz aller Verwirrung nistete sich diese Gewissheit sehr schnell in einer entlegenen Ecke von Celinas Bewusstsein ein. Es war, als wolle Rio ihre tiefsten Geheimnisse ergründen, als wolle er sich ihr auf eine Art nähern, wie es noch nie zuvor jemand getan hatte und nie mehr jemand tun würde. Er wollte sie ganz besitzen. Ihr Körper war ihm nicht genug. Sie würde ein Teil von ihm sein, so wie er ein Teil von ihr sein wollte.
Celina spürte die Wärme der Hand, die sich um die weiche und doch feste Rundung ihrer Brust schmiegte, als wäre sie nur dazu bestimmt. Rios Daumen strich über ihre Brustwarze. Damit fachte er Celinas Verlangen an, und es breitete sich unaufhaltsam in ihrem ganzen Körper aus. Celina vernahm Rios scharfen Atemzug. Er drückte sie fester an sich. Seine Zunge wurde fordernder. Erst unsicher, doch dann immer leidenschaftlicher erwiderte sie seinen Kuss.
Völlig überraschend gab Rio ihren Mund frei und hob den Kopf. Seine Hand blieb, wo sie war. »Gut«, sagte er. Seine Stimme klang ein wenig fremd. »Ich glaube, Sie wissen nun, wie ich mir die Erfüllung Ihres Versprechens vorstelle. Sie wollten das Leben Ihres Bruders retten. Aber nun lassen Sie uns darüber sprechen, was Sie mit Ihrem süßen Opfer sonst noch bezwecken.«
»Wie bitte?« Celina war noch zu benommen, um seinen Worten folgen zu können.
»Ich habe das Gefühl, dass Sie sich aus einem ganz bestimmten Grund auf unseren Handel eingelassen haben. Oder wollen Sie das leugnen?«
Celina versuchte sich Rios Griff zu entwinden. Doch er ließ es nicht zu. Ihr blieben nur Worte, um sich zu verteidigen. »Sie müssen von Sinnen sein.«
»Ganz im Gegenteil. Meine Sinne sind wacher denn je. Und mir scheint, dass Sie über die Entwicklung, die unsere Unterhaltung genommen hat, nicht allzu empört sind.«
»Ich habe doch nur Ihre Bedingungen angenommen!«
»Ja. Aber Ihre Zustimmung zu unserem Handel kam ein wenig überraschend. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass man mir hier in Ihrem Zimmer eine Falle stellt. Wobei das nur einen Sinn ergeben hätte, wenn die Zuneigung zu Ihrem Bräutigam um einiges heftiger wäre, als es den Anschein hat.«
»Ich pflege meine Versprechen zu halten!«
»Ja, ganz offenbar. Doch damit ist das Rätsel noch nicht gelöst. Warum riskieren Sie es, mich zu Ihnen kommen zu lassen? Eigentlich machen Sie nicht den Eindruck, als gehörten Sie zu den Frauen, die das Risiko um seiner selbst willen lieben. Aber welche Absicht könnten Sie sonst verfolgen?«
»Offenbar haben Sie intensiv über diese Frage nachgedacht. Zu welchem Schluss sind Sie denn gekommen?« Celina hatte ihm mit Stolz und Würde antworten wollen. Stattdessen fand sie ihre Worte nun ziemlich schnippisch.
»Eine Möglichkeit könnte ich mir denken. Vielleicht sind Sie gar nicht die brave, pflichtbewusste Tochter, für die Sie sich ausgeben. Könnte es sein, dass Ihnen jedes Mittel recht ist, um der Ehe zu entkommen, die Ihr Vater für Sie arrangieren will? Mein Vorschlag kam da nicht ungelegen, wies er Ihnen doch einen Weg aus der Misere, in der Sie sich zu befinden glauben.«
Celina gefiel nicht, wie Rio sie beschrieb. Aber es hatte wenig Sinn, ihm zu widersprechen. »Es tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte sie steif.
»Erlauben Sie mir, ein wenig deutlicher zu werden. Nehmen wir an, Sie erklären Ihren Angehörigen, ein Mann, dem Ihr Bräutigam auf gar keinen Fall mit dem Degen in der Hand entgegentreten möchte, habe Sie verführt. Was glauben Sie, würde dann geschehen?«
Celina war bestürzt. Wie konnte de Silva es wagen, derlei unverfrorene Überlegungen anzustellen? »Halten Sie mich wirklich für so berechnend? Sie sollten nicht vergessen, dass auch mein Vater oder Denys Satisfaktion verlangen könnten.«
»Das stimmt«, sagte Rio. »Daraus schließe ich, dass Sie vorhaben, sich zu opfern.«
»Ach, ich bitte Sie!«
»So ist es doch, nicht wahr? Sie werden sich weigern, den Namen Ihres Verführers preiszugeben. Dann gibt es niemanden, den man zu einem Duell herausfordern könnte. Außerdem würden Sie Ihrer Familie damit die Demütigung ersparen, feststellen zu müssen, dass Ihr Bräutigam gar nicht daran denkt, Ihre beschädigte Ehre wiederherzustellen. Es reicht völlig aus, die Schandtat öffentlich zu machen und den Beweis dafür zu liefern, und schon sind Sie Ihren Bräutigam los.«
Celina musste lange überlegen, was sie Rio antworten sollte. Sie starrte in das dunkle Gesicht über ihr. »Wäre das denn so verwerflich?«, fragte sie schließlich.
»Im Grunde nicht«, antwortete er trocken. »Aber ich würde gern gefragt werden, bevor man mich in eine Situation bringt, die überaus unangenehme Konsequenzen haben könnte.«
»Mir scheint, ich habe mich im Grund Ihres Kommens getäuscht. Was ich mir von dieser Nacht erhoffe, glauben Sie ja zu wissen. Würden Sie mir jetzt bitte ebenso ausführlich erklären, was Sie zu mir geführt hat?«
Rio entfuhr ein kurzes Lachen. »Sie sind so schlau wie schön. Erinnern Sie mich bitte in Zukunft daran, mich vorzusehen. Die traurige Wahrheit ist, dass ich nicht genau weiß, warum ich unbedingt herkommen musste. Aber es war mir zugleich völlig unmöglich, mich von Ihnen fern zu halten.«
»Für eine solche Behauptung kennen wir uns noch nicht lange genug«, entgegnete Celina spitz.
»Manchmal reicht schon eine kurze Begegnung.«
Celina beschloss, diese Antwort als plumpe Schmeichelei zu werten, und ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen versuchte sie fieberhaft, ihre wirren Gedanken zu ordnen.
Nach einer Weile brach Rio das Schweigen. »Nun, Mademoiselle, wie ist es? Liege ich richtig mit meiner Vermutung? Habe ich den Grund für Ihre Einwilligung in unseren Handel erraten?«
Celina sah Rio einen Augenblick lang an. Dann wandte sie den Blick ab. »Kann es Umstände geben, die es rechtfertigen, etwas Unehrenhaftes zu tun, um damit ein größeres Übel abzuwenden?«
»Werden wir jetzt philosophisch?« Rios Frage klang zögernd, ganz so, als brauche auch er Zeit zum Nachdenken.
»Ich dachte, diese Art von Versuchung sei Ihnen vertraut. Mit Ihren Fertigkeiten wäre es doch ein Leichtes, so manche Ungerechtigkeit zu rächen, die Sie erdulden müssen, und Leute, die Ihnen im Wege sind, beiseite zu räumen. Was hält Sie davon ab?«
»Vieles«, antwortete er. »Vor allem aber mein Selbsterhaltungstrieb. Ich verspüre nämlich wenig Lust, eines sonnigen Freitagmorgens auf dem Place d’Armes als Mörder gehenkt zu werden.«
Celina hob eine Augenbraue. »Und das soll ich Ihnen glauben?«
Er gab ihr keine Antwort. Stattdessen neigte er den Kopf zur Seite und horchte. Dann ließ er sie los und erhob sich vorsichtig von ihrem Bett. »Es tut mir Leid, aber wir müssen diese anregende Diskussion ein andermal fortsetzen. Gerade ist jemand durch die Pforte getreten und kommt nun die Treppe herauf.«
»Sie gehen?« Celina konnte ihr Staunen nicht verbergen.
»Wollen Sie, dass ich bleibe?«
»Das habe ich nicht gesagt!«
Rio lachte leise, griff nach ihrer Hand und führte sie an die Lippen. Celina spürte die Berührung wie einen warmen Hauch an den Fingerknöcheln. Er ließ ihre Hand sinken. »Ich werde mir einfach einbilden, Sie hätten es getan.«
Selbst wenn Celina noch Zeit geblieben wäre, hätte sie darauf nichts zu sagen gewusst. Nun hörte auch sie die Schritte und ein Murmeln. Mortimer ließ jemanden ins Haus, und kurz darauf klopfte es leise an ihrer Tür.