Читать книгу Von Flusshexen und Meerjungfrauen - Jennifer Estep - Страница 10
Der Kelpie und die Meuterbraut Mira Valentin
ОглавлениеMira Valentin
Als ich Mira Valentin zum ersten Mal getroffen habe, sah sie aus wie Daenerys Targaryen aus Game of Thrones. Danach habe ich schnell gelernt, dass ihre Cosplay-Kostüme so wandlungsfähig sind wie ihre Buchwelten.
Sie schreibt unter anderem Urban Fantasy (Das Geheimnis der Talente), High Fantasy (Die Lichtsplitter-Saga; gemeinsam mit Erik Kellen; ausgezeichnet mit dem SERAPH 2020) und historische Phantastik (Nordblut). Für ihren Jugendroman Der Mitreiser und die Überfliegerin wurde sie 2017 mit dem begehrten Kindle Storyteller Award ausgezeichnet. Ihre Enyador-Saga wurde bereits ins Koreanische übersetzt. Als ich sie fragte, ob sie eine Kurzgeschichte zu dieser Anthologie beisteuern wolle, schien gerade die Nachmittagssonne auf uns, denn wir verbrachten mit vier weiteren Autor*innen einen gemeinsamen Schreiburlaub auf Mallorca.
Ihre Geschichte hingegen spielt nicht in der Sommerhitze, sondern in einer frostigen Nacht. Eine wichtige Rolle spielt ein Kelpie, ein keltisches Wasserpferd. Mira ist nämlich nicht nur ein Buch-, sondern auch ein Pferdemensch. »Ich habe bis vor fünf Jahren mein Geld damit verdient, Fachartikel über Pferde zu verfassen«, hat sie mir bei unserer Korrespondenz zu dieser Anthologie verraten. Kelpies findet sie schon lange faszinierend. »Das Thema der Anthologie kam mir gerade recht, um mich auf Recherchereise zu den Wasserpferden zu begeben. Und jetzt finde ich sie noch spannender als zuvor.«
Der Kelpie und die Meuterbraut
Er wartet auf mich.
Nur ein paar Meilen, dann werde ich bei ihm sein. Das sage ich mir immer wieder, während ich mich durch das Unterholz des Waldes kämpfe. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, um keine Zweige zum Knacken oder Laub zum Rascheln zu bringen. In diesen Wäldern treiben Räuber ihr Unwesen, die ganz bestimmt ihre Freude an einer Meuterbraut wie mir hätten. Ich habe mich gegen meinen Lehnsherrn gestellt und ihm das Recht der ersten Nacht verweigert. Jede Jungfrau, die einen Mann ehelichen will, muss sich in der Nacht vor ihrer Hochzeit zuerst ihrem Herrn hingeben, so schreibt es das Gesetz unseres Landes vor. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Vorschrift zu umgehen – eine, die keine andere Braut vor mir gewählt und überlebt hat: den Pfad des Schreckens. Auf ihm wandle ich nun, mit weißen Schuhen und in meinem Hochzeitskleid, genau wie mein Herr es verfügt hat. Ich sehe noch das herablassende Grinsen in seinem feisten Gesicht, während er seine Entscheidung verkündete. Niemand glaubt daran, dass ich lebendig mein Ziel erreiche. Ein Wald, ein See und ein Berg liegen zwischen mir und meinem Liebsten. Und so kämpfe ich mich voran, in der Hoffnung, lebendig über den See zu kommen und nicht stattdessen ihm zum Opfer zu fallen. Ihm, dem tödlichsten aller Schrecken, der arglosen Wanderern auflauert, um sie zu umgarnen, ihren Geist zu verwirren und sie schließlich unter Wasser zu ziehen: dem Kelpie!
Niemand Lebendiges kann von ihm erzählen, denn jedes Auge, das ihn sah, schloss sich für immer. Jede Zunge, die zu ihm sprach, wurde gelähmt und jedes Ohr, das ihn hörte, ist nun taub. Es gibt lediglich Mythen und Legenden, die sich um dieses Monster ranken, doch an eine davon klammere ich mich wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibgut: Um einen Kelpie zu zähmen, so heißt es, müsse man ihm einen Brautschleier über den Kopf werfen.
So wie ein Ritter die Hand auf den Knauf seines Schwertes legt, um sich zu vergewissern, dass es noch da ist, greife ich nach dem durchsichtigen Stück Stoff an meinem Hinterkopf, das mir Klinge und Schild zugleich sein wird – die einzige Waffe, die ich habe. Dann nehme ich einen tiefen Atemzug und schreite weiter voran. Ich sehe die Baumkronen schon lichter werden, die ersten Sterne dringen durch ihre Zweige. Bald habe ich den Wald hinter mich gebracht! Ich kann den See bereits riechen, da bricht auf einmal ein Ast in dem Fichtendickicht neben mir. Ich fahre zusammen. Alle meine Muskeln angespannt, bleibe ich stehen und lausche. Da! Ein weiteres Knacken. Mit kalten Fingern nehme ich den Brautschleier ab.
Schritte kommen auf mich zu, leise und doch so präsent, wie es nur bei einem großen, schweren Mann der Fall ist. Ich sollte weglaufen, doch noch ehe ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen kann, tut sich das Buschwerk zu meiner Rechten auf und lässt eine Gestalt hindurch.
Es ist tatsächlich ein fremder Mann, doch er sieht ganz anders aus, als ich vermutet hatte: nur wenig größer als ich selbst, aber von massiger, gedrungener Gestalt. Sein Gesicht verschwindet hinter einem struppigen Bart. Langes schwarzes Haar fällt ihm in ungepflegten Locken in die Stirn. Weder sein Alter noch seine Gesinnung kann man durch diese übermäßige Behaarung erkennen. Selbst seine Arme sind von einem flaumigen Fell bedeckt. Sollte das der sagenumwobene Verführer sein, dem ich mich stellen muss? Oder ist er einfach nur ein Räuber, der sich zu weit ins Niemandsland vorgewagt hat?
Es ist schließlich seine Stimme, die ihn verrät – tief wie ein Ozean und sanft wie die Berührung einer Gischtflocke. Ja, dieser Mann muss ein Kind des Wassers sein, ein Flussgeist, ein Kelpie in seiner Menschengestalt!
»Ich grüße dich, Meuterbraut! Schon lange hat es keine mehr gewagt, diesen Pfad zu beschreiten.«
»Ich aber wage es«, sage ich entschlossen.
Da lacht er, laut und tosend wie eine Sturmflut. Seine buschigen Augenbrauen tanzen amüsiert nach oben, während er noch weiter auf mich zukommt. »Was macht dich so sicher, dass gerade du den See bezwingen kannst? Dürres, schwaches Geschöpf, das du bist!«
»Ich nehme es lieber mit dir auf als mit meinem Lehnsherrn! Nicht weit entfernt von hier, auf dem Gipfel des nächsten Berges, wartet mein Bräutigam auf mich.«
Während ich rede, behält er meinen Schleier ganz genau im Auge. Also stimmt es wohl, dass man einen Kelpie auf diese Weise unterwerfen kann. Ich umklammere den Stoff fester.
»Soso, dein Bräutigam«, murmelt er. »Denkst du, er würde dasselbe für dich tun?«
»So wie ich für ihn ins Wasser gehen werde, würde er für mich durchs Feuer gehen«, stelle ich klar.
»Ich hatte auch einmal jemanden, der für mich ins Wasser gegangen ist.« Es ist nur ein Flüstern, doch darin liegt das Leid einer ganzen Welt.
Ich staune über diese Worte. Sagt er das, um mich zu überlisten? Kelpies sind tückische Wesen, die einem Menschen den Kopf verdrehen und seine Gedanken zum Schmelzen bringen, bis nur noch ein verworrener Klumpen voller Sehnsucht übrig ist. Und dennoch kann ich mich der Faszination nicht entziehen, die dieser eine, so voller Schmerz gesprochene Satz in mir auslöst. »Was ist geschehen?«, frage ich.
Der Kelpie umrundet mich, wobei er stets genügend Sicherheitsabstand zu mir und meinem Brautschleier hält. »Sie ging den Pfad des Schreckens, genau wie du. Ich stand auf dem Berg, genau wie er.«
Nun sehe ich seine abgerissene Gestalt genauer. Die zahlreichen Flicken auf seinem Mantel, die ausgefransten Ärmel, die kantige Nase zwischen all dem Gestrüpp in seinem Gesicht.
»Ich sah sie sterben, doch anstatt ihr zu helfen, bin ich davongeritten. Ich war einer dieser Menschen, die bereits beim Aufbäumen der ersten Welle all ihre guten Vorsätze über Bord werfen. Deshalb verfluchte mich die Herrin des Sees und bannte meinen Geist in den Körper meines Hengstes. Nur einmal am Tag, für die Dauer einer Stunde, ist es mir erlaubt, meine Menschengestalt anzunehmen.«
Ein kalter Schauder durchläuft mich. Genau das habe ich über Kelpies gehört! Als sagenumwobene Wasserpferde leben sie auf dem Grund von Seen und Flüssen. Dort hinunter entführen sie ihre Opfer, um sie gierig mit Haut und Haar zu verspeisen. Algen schmücken ihre Mähne und Seetang wächst auf ihrem Schweif. Manchmal, in stürmischen Nächten, kann man die Abdrücke ihrer Hufe auf der Wasseroberfläche sehen. Ganz gleich, welche Umstände dazu geführt haben, dass dieser fremde, bärtige Mann sich in ihresgleichen verwandelt hat – er ist mein Todfeind. Der Einzige, der mich aufhalten kann!
»So wird es bei uns nicht sein. Wir haben uns einander versprochen und es gibt nichts, was uns trennen könnte. Nicht einmal der Tod. Nicht einmal du!«
»Du nennst mich im selben Atemzug mit dem Tod?« Es schwingt Verärgerung in seiner Stimme mit und ich frage mich wieso. Wir beide wissen, was er ist – ein Dämon der Tiefe, durch und durch böse, schlimmer als jedes Sterben und jeder Untergang!
»Du hörst die Wahrheit nicht gern?«, frage ich.
»Die Wahrheit?« Er kommt näher, mustert mich von oben bis unten mit seinem raubtierhaften Blick. »Die Wahrheit ist: Ich bin der Einzige, der dich zu deinem Liebsten bringen kann. Du musst mir vertrauen!«
»Vertrauen?«, entfährt es mir. »Ich soll dir vertrauen?«
»Nur so kommst du über den See.«
Einen Moment lang starre ich ihn bloß entgeistert an. »Eher würde ich einem Seeungeheuer vertrauen oder einem reißenden Wasserstrudel!«, sage ich dann.
Diese Worte lösen nun doch eine erkennbare Reaktion im Gesicht des Kelpies aus. Seine buschigen Brauen verengen sich zu einem durchgehenden Strich. Er presst die Lippen aufeinander und ich habe den Eindruck, als würden seine fast schwarzen Augen noch eine Spur dunkler werden. »Dann musst du wohl genau das tun!«, spuckt er mir entgegen.
Und ehe ich noch etwas erwidern oder gar meinen Schleier über ihn werfen kann, ist er mit einem einzigen großen Sprung wieder im Dickicht verschwunden. Ich höre, wie seine Schritte sich entfernen, dann verändern sie sich und nehmen den Rhythmus von Hufschlägen an. Was auch immer nun geschehen wird, auf keinen Fall darf ich auf den Rücken dieses Pferdes steigen – sonst bin ich verloren.
Mit zaghaften Schritten folge ich dem Pfad weiter bis zum Ufer des Sees. Düster wie eine schlafende Bestie liegt er da, die wellenlose Oberfläche im Mondlicht glitzernd. Es gibt weder einen Steg noch ein Boot, um hinüberzukommen. Doch dort drüben am anderen Ufer tut sich bereits der Fuß des Berges auf, der mein Ziel ist. Mein erklärtes, ersehntes, errettendes Ziel. Ich werde es schaffen, auch wenn ich schwimmen muss.
Also ziehe ich meine Schuhe aus, die durch den Schlamm des Waldweges kaum mehr weiß aussehen. Gerade will ich auch mein Kleid aufschnüren, da höre ich ein Schnauben neben mir. Ich drehe mich zur Seite und erstarre. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ist der Kelpie wieder aufgetaucht, diesmal in seiner Pferdegestalt. Der schwarze Hengst sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe: riesig, mit mächtigen Brustmuskeln, weit geblähten Nüstern und stampfenden Hufen. Sein Schweif ist so lang, dass er auf dem Boden der Uferböschung zum Liegen kommt, und die füllige Mähne wird von einer nächtlichen Brise verweht. Mir stockt der Atem vor Ehrfurcht. Gewiss gab es nie ein schöneres Geschöpf unterm Himmelszelt! Selbst die Sterne scheinen heller zu strahlen, im unbedingten Wunsch, einen Reflex auf das seidige Fell des Kelpies zu zaubern. Nie war das Schicksal grausamer als an dem Tag, als es beschloss, dieses Wesen zum Ungeheuer zu machen.
Ich schlucke. Dann reiße ich mich zusammen und ergreife meinen Brautschleier mit beiden Händen. Langsam gehe ich auf das schwarze Pferd zu. »Du hattest recht: Du wirst mich über den See tragen. Es gibt keine andere Möglichkeit!«, sage ich, doch dabei erschrecke ich vor meinem eigenen Wagemut. Nun wird er mir gewiss seine spitzen Reißzähne zeigen! Er wird sich auf die Hinterbeine erheben und seine steinharten Hufe auf mich niederprasseln lassen!
Doch der Hengst macht etwas ganz anderes: Er weicht zurück. Schnaubend und stampfend bringt er einige Schritte Abstand zwischen uns.
»Was ist los? Hast du etwa Angst vor diesem dürren, schwachen Geschöpf?«
Er schüttelt den Kopf, lässt mich aber weiterhin nicht nahe genug herankommen. Ich versuche es noch ein paarmal, dann gebe ich meine Bemühungen auf.
»Warum bist du überhaupt hier?«, schreie ich den Kelpie an. »Wenn du mich töten willst, tu es! Aber spiele nicht mit mir!«
Ein sachtes Blubbern entweicht seinen Nüstern. Vorsichtig macht er einen Schritt auf mich zu, knickt mit den Vorderbeinen ein und legt sich hin. Ich traue meinen Augen nicht! »Du willst, dass ich aufsteige? So wie all die anderen Mädchen, die du auf den Grund des Sees gezogen hast?«
Ich muss zugeben, dass ich jeden Menschen verstehen kann, der dieser Versuchung erliegt. Auch in mir weckt das sagenhafte Pferd den brennenden Wunsch, auf seinen Rücken zu klettern und eins mit ihm zu werden, mit ihm über den silbernen Wasserspiegel des Sees zu galoppieren wie ein ungebändigter Sturm. Ein tiefer, alles verzehrender Zauber geht von ihm aus. Doch da ist etwas anderes in meinem Herzen, das noch ungleich schwerer wiegt: die Sehnsucht nach meinem Liebsten!
Ob der Kelpie das ahnt? Was, wenn ich zum Schein auf sein Angebot eingehe? Dann komme ich vielleicht nahe genug an ihn heran, um ihn doch noch zu bezwingen.
»Du hast recht«, murmele ich deshalb in verklärtem Tonfall und lasse meine Hände mit dem Schleier sinken. »Ich werde dir vertrauen.«
Schritt für Schritt gehe ich näher. Dabei beobachten mich die tiefdunklen Pferdeaugen ganz genau. Sie sind das Einzige, was noch an den verwahrlosten Mann im Wald erinnert. Derselbe Schmerz, dasselbe abgrundtiefe Leid liegt in diesem Blick.
Als ich bis auf wenige Schritte herangekommen bin, spüre ich, dass der Moment gekommen ist – jetzt oder nie! Blitzschnell springe ich auf das liegende Pferd zu und werfe meinen Brautschleier über seinen Kopf. Doch der Kelpie ist schneller. Mit der Geschwindigkeit eines Dämons fährt er herum, schlägt seine Zähne in den Stoff und springt auf. Wütend funkelt er mich an.
Nein! Meine einzige Waffe im Kampf gegen die Bestie ist verloren. Jetzt bleibt mir nur noch eines: Ich muss um mein Leben schwimmen. Hastig raffe ich den Saum meines Hochzeitskleids und renne zum Wasser. Der See greift nach mir, umspielt meine nackten Füße, zieht mich in seine nassen Arme. Ich lasse mich ganz hineinsinken, greife weit aus, um möglichst viel Raum zwischen mich und den Kelpie zu bringen. Dabei weiß ich, dass ich schon jetzt verloren habe. Ich bin wie eine Motte in einem Spinnennetz, die sich mit jedem Strampeln nur noch weiter ins Verderben reißt. Dort, tief unter mir, in der fadentiefen Schwärze, verschlingt das Monster seine Opfer. Und genau dorthin schwimme ich. Verzweifelt richte ich meinen Blick zum Gipfel des Berges. So nah und doch so unendlich fern!
Liebster, in einer anderen Welt werden wir zusammen sein!
Ob er mich sehen kann, wie einst ein anderer junger Mann, der den Todeskampf seiner Braut beobachtete? Ich weiß nicht, ob es Tränen oder Wassertropfen sind, die bei diesem Gedanken über meine Wangen rinnen.
Eine Welle schwappt von hinten über mich hinweg. Ich kann nicht anders, als mich umzudrehen. Da sehe ich den Kelpie nur wenige Armlängen von mir entfernt. Lediglich sein Kopf und der muskulöse Hals ragen aus den schwarzen Fluten. Ein Schleier aus reiner Angst legt sich über meine Sinne. Meine Schwimmzüge werden langsamer. Ich wappne mich für den Angriff, das letzte Aufbäumen meines zum Tode verurteilten Körpers, den Schmerz.
Nichts davon geschieht. Stattdessen schließt der Kelpie zu mir auf. Ich spüre die Wassermassen, die von seinen Hufen aufgewirbelt werden. In seinen Augen jedoch liegt weder Gier noch Hass. Erneut wendet er seinen Kopf in Richtung seines Rückens. Er will immer noch, dass ich auf ihm reite. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht.
»Wie?«, frage ich atemlos. »Wie ist deine Braut gestorben?«
Die breite Unterlippe des Hengstes bebt. Ein melancholisches Schnauben dringt aus seiner Kehle, wobei sein Blick auf den See hinausschweift. Erst sehe ich nichts dort, doch dann bemerke ich, dass die Wassermassen sich in der Mitte leicht kräuseln. Luftblasen steigen dort hervor und mit jeder weiteren Sekunde vergrößert sich die aufgewühlte Stelle im Wasserspiegel, bis schließlich ein immer größer werdender Strudel entsteht.
»Was ist das?«
Anstelle einer Antwort erhalte ich ein aufforderndes Wiehern. Wie gelähmt halte ich inne. Der dünne Stoff meines Brautkleids bauscht sich in den pulsierenden Wogen des Sees. Ich kann den Blick nicht von dem Strudel in der Mitte abwenden, wo nun ein helles Leuchten aus der Tiefe steigt. Eine unermessliche Verlockung geht davon aus, schlimmer als von dem Kelpie – tausendfach! Ich will dort hinausschwimmen und in dem Leuchten aufgehen, mich ihm hingeben und für immer in ihm auflösen.
Mit einem Mal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: die Herrin des Sees! Sie hat den treulosen Bräutigam verwandelt. Sie hat seine Braut getötet! Wer über den See schwimmt, fällt nicht dem Kelpie zum Opfer, sondern ihr! Mit diesem letzten klaren Gedanken schwinge ich mich auf den Rücken des Pferdes und kralle mich in seiner Mähne fest.
Ein Zittern geht durch den Körper des Hengstes, dann erhebt er sich, bis er mit allen vier Hufen auf der Wasseroberfläche zum Stehen kommt. Krampfhaft umschließen meine Beine seinen Körper. Und doch kann ich den Blick nicht von dem Strudel reißen. Denn das, was nun daraus emportaucht, ist ein Wesen, strahlender als die Frühlingssonne und anmutiger als der Wimpernschlag einer frisch vermählten Braut. Goldenes Haar umweht ihr feines, gleichmäßig geschnittenes Gesicht. Ihr durchsichtiges Gewand besteht aus grüner Seide, besetzt mit Tausenden Muscheln und Perlen. Als Krone trägt sie eine roséfarbene Wasserrose. Durch ein sachtes Winken gibt die Herrin des Sees mir zu verstehen, dass ich zu ihr kommen soll.
Ich will ihr gehorchen! Möge sie mich unterwerfen und in die ewige Dunkelheit führen!
Doch genau in dem Moment, als ich entscheide, vom Rücken des Pferdes zu springen und dem Befehl meiner Gebieterin zu folgen, schnellt der Kelpie davon. Seine Hufe berühren kaum mehr die Wasseroberfläche. Nur die auffliegenden Gischtflocken und der enorme Gegenwind geben mir einen Hinweis darauf, wie schnell er mich davonträgt.
»Nein, lass mich zu ihr!«, schreie ich und will abspringen. Doch etwas hält mich fest! Es ist die Mähne des Kelpies, die sich wie schwarze Fesseln um meine Taille schlingt. Mit aller Kraft versuche ich, sie loszuwerden, doch es gelingt mir nicht.
Komm!, höre ich die Stimme der Herrin in meinem Kopf. Komm zu mir, mein Kind!
Sie winkt mir mit goldschimmernden Händen. Mein Herz zerspringt fast vor Kummer und Schmerz, weil ich nicht bei ihr sein kann! Doch die Bestie, auf deren Rücken ich sitze, kennt keine Gnade. Unbarmherzig trägt sie mich davon und tritt meine Sehnsucht mit stampfenden Hufen. Hätte ich nur meinen Brautschleier, um sie zu unterwerfen, doch so kann ich nichts tun, außer meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Ich sehe den Berg am anderen Ufer nicht mehr, die aufgewühlten Wassermassen, über die wir schneller als der Wind hinwegfliegen. Selbst das goldene Leuchten hinter uns verblasst und mit dem Strudel verschwindet schließlich auch mein unbändiges Verlangen, der Herrin des Sees untertan zu sein. Ungläubig reibe ich mir die Augen und blicke zurück, während das Pferd unter mir von schnellem Galopp in einen langsamen Trab fällt. Nichts deutet mehr darauf hin, dass noch vor wenigen Augenblicken die begehrenswerteste aller Verführerinnen dort auf der Lauer lag, um ihre Beute anzulocken. Hätte der Kelpie mich nicht abgehalten, so wäre ich ihr direkt in die goldenen Fangarme geschwommen. Langsam lösen sich die Schlingen seiner Mähne um meinen Bauch, während er die letzten Meter bis zum Ufer zurücklegt. Mit einem Satz springt er an Land und ich lasse mich von seinem Rücken gleiten.
Der Hengst senkt den Kopf, beide Ohren aufmerksam auf mich gerichtet. Ich lege eine Hand auf seine Nüstern. Sie sind kalt wie der See und feurig wie der Mann, der er einmal gewesen ist. Wie gern würde ich ihm all die Fragen stellen, die er nun nicht mehr beantworten kann.
»Danke«, sage ich daher nur. »Ich werde den Menschen in meinem Dorf erzählen, dass du kein Ungeheuer bist. Sie sollen von deinem Schicksal erfahren, auf dass deine Braut und du niemals vergessen werdet.«
Er zeigt ein majestätisches Nicken, dann wendet er sich ab und galoppiert über den See davon. Schon nach wenigen Augenblicken ist er in dem Nebel verschwunden, der vom gegenüberliegenden Ufer herüberweht. Lediglich seine Hufschläge bleiben als kräuselnde Wellen auf dem Wasserspiegel zurück.
Ob ich all das nur geträumt habe? Ein Griff an meinen Hinterkopf bestätigt mir, dass der Brautschleier wirklich verloren ist – entrissen von einem Wesen, das mich direkt in den Untergang getragen hätte, wenn ich es geschafft hätte, es zu zähmen und zu beherrschen. So aber hat es mir ein neues Leben geschenkt. In Gedenken an die Liebe, die in seinem Herzen niemals erloschen ist.
Ich wringe das Wasser aus meinem Kleid, dann wende ich mich ab und blicke nach vorn. Nach oben, auf den Gipfel des Berges, dorthin, wo meine eigene Geschichte nun weitergeht. Schon morgen gehöre ich meinem Liebsten allein, und er gehört mir. Ich muss mich sputen.
Denn er wartet auf mich.