Читать книгу Von Flusshexen und Meerjungfrauen - Jennifer Estep - Страница 14
Der freundliche Nachbar vom See Anika Beer
ОглавлениеAnika Beer
Meine erste Schreibmaschine bekam ich zu meinem achten Geburtstag«, berichtet Anika Beer, Jahrgang 1983, auf ihrer Website. Sie wusste schon immer, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Inzwischen schreibt sie Romane nicht nur unter ihrem echten Namen (beispielsweise Als die Schwarzen Feen kamen), sondern auch als Franka Rubus und Ana Jeromin.
Nach dem Abitur verschlug es sie zunächst als Kindermädchen nach Spanien; anschließend studierte sie Neurobiologie. Auf beide Erfahrungen konnte sie bereits für ihre Bücher zurückgreifen. So spielt ihr Buch um eine kinderfangende Hexe (Amaias Lied) in Barcelona und in ihrer Trilogie Die Blutgabe geht sie das Thema Vampirismus wissenschaftlich an.
Im September 2021 erscheint ihr nächster großer Jugendroman Euphoria City – ein Buch über die Manifestation geheimer Wünsche. Da ich das große Glück hatte, es schon lesen zu dürfen, kann ich es euch bereits heute wärmstens empfehlen.
Obwohl Anika in der Bergstadt Oerlinghausen am Teutoburger Wald aufwuchs, bezeichnet sie sich als Wassermensch: »Im Urlaub habe ich so viel Zeit wie möglich im Wasser verbracht – oder noch lieber unter Wasser. Es fasziniert mich, wie sich die Geräusche und die Farben verändern, wie die Sonne Lichter auf den Grund malt und wie die Bewegungen gleichzeitig träge und schwebend sind.«
Genau diese Atmosphäre fängt sie wunderbar in ihrer nachfolgenden Geschichte ein.
Der freundliche Nachbar vom See
Aoyama-gō, Provinz Iga, Japan im August 1863,
dem 2. Jahr der Bunkyu Ära.
Das Schwert war weg.
Fassungslos starrte Taro auf seine leeren Hände. Unter der zerbrochenen Planke des alten Bootsstegs, die wenige Augenblicke zuvor unter seinem Fuß nachgegeben hatte, zitterte das Wasser noch in konzentrischen Kreisen. Die leere Schwerthülle an seinem Gürtel wog wie ein Stein.
Einfach weg.
Der Abendwind vom See her wisperte leise im hohen Schilfgras, das den Steg umschloss. Die Zikaden hatten ihr Sommerabendlied angestimmt. Doch Taros Herz übertönte sie mit der Wucht eines Schmiedehammers.
Yae würde ihn umbringen.
Seine ältere Schwester hatte das Schwert selbst erst vor wenigen Wochen bei der jährlichen genpuku des Dorfes erhalten, als sie und die anderen Sechzehnjährigen von Aoyama-gō in die Gemeinschaft der Erwachsenen initiiert worden waren. Daher hatte sie sich nur sehr widerwillig überzeugen lassen, es ihm wenigstens ein einziges Mal auszuleihen. Es war umso schwieriger gewesen, da Taro mit seinen dreizehn Jahren bereits nahezu sämtliche kindliche Niedlichkeit verloren hatte, die ihm früher in solchen Fällen zugutegekommen war. Aber Yae liebte ihn dennoch wie keinen anderen, deshalb hatte sie am Ende zugestimmt.
Und jetzt war es weg.
Dabei hatte Taro doch bloß ein einziges Mal ausprobieren wollen, ob er die Techniken, die Mina-sensei ihn und die anderen Ninjutsu-Schüler des Tsukimi’kan Tag für Tag mit ihren Holz- und Bambusschwertern üben ließ, auch mit einer Klinge aus Stahl ausführen konnte.
Die bittere Wahrheit war: Er konnte es nicht. Nicht mit einer deutlich zu langen Waffe, deren Griff zu dick war für seine Hände, und schon gar nicht auf dem morschen, glitschig feuchten Holz des stillgelegten Bootsstegs im Schilf, den er sich als geheimen Übungsplatz ausgesucht hatte. Und so hatte sich das Schwert bei der letzten Drehung selbst aus seinem Griff gehebelt und war mit einem unbeteiligten Platschen einfach versunken. Taro fiel auf die Knie und umklammerte mit beiden Händen die Überreste der morschen Planke, unter der es verschwunden war. Was sollte er nur tun?
Das Wasser zitterte. Kleine Blasen stiegen an die Oberfläche und durchbrachen Taros wackelndes, verschwommenes Spiegelbild, als wolle der See ihn für seine Einfältigkeit auslachen. Als starre sein eigenes, zuvor noch so stolzes Gesicht, von den kleinen Wellen zu einer jämmerlichen Grimasse verzerrt, höhnisch zurück zu ihm herauf.
Doch erst als eine grüne Hand platschend durch die Wasseroberfläche brach und sich dicht neben seiner an das glitschige Holz des Steges klammerte; als ein wuchtiger Kopf mit strähnigem algenbraunem Haar und glotzenden Augen folgte und Taro prustend eine Fontäne schlammigen Wassers entgegensprühte, begriff er, dass es gar nicht sein Gesicht war. Mit einem überraschten Keuchen wich Taro zurück und fiel sehr unelegant auf sein Hinterteil.
Das Wesen starrte derweil aus blutunterlaufenen Triefaugen zu ihm hoch, die grünen Finger mit den Schwimmhäuten noch immer um die zersplitterte Planke geschlossen. »Heda, Menschenjunge. Was machst du denn für einen Lärm?«
Ein Kappa! Taro starrte den Froschmann an. Sein Atem beruhigte sich nur langsam. Jedes Kind kannte die Geschichten über diese Wassergeister, die in Seen und Flüssen lebten und jene, die sich beim Schwimmen zu weit hinauswagten, mit sich in die Tiefe rissen. Oder die ganze Dörfer ausrotteten, indem sie aus den drei Löchern an ihrem Hinterteil unfassbar stinkende Gase entweichen ließen. Taro hatte noch nie einen Kappa gesehen und wusste nicht, wie viel von diesen Geschichten der Wahrheit entsprach, aber mit einem hatten sie in jedem Fall recht: Dieser Kappa stank zum Himmel. Nach verwesendem Seetang und faulen Eiern. Nach schimmelndem Buchweizen, der bei der Lagerung feucht geworden war.
Das Wesen schwang sich mit einer seltsam grotesken Eleganz aus dem Wasser, blieb dem Jungen gegenüber auf der anderen Seite des Lochs im Steg hocken und glotzte Taro misstrauisch an. »Was heulst du so, he?« Seine Stimme war ein schleimiges Blubbern tief aus seinem Rachen. Selbst das stank. Nach altem Fisch.
»Ich hab etwas verloren«, murmelte Taro beschämt und drehte sich halb zur Seite, ohne sich ganz dazu bringen zu können, den Blick von dem Froschwesen zu lösen.
Der Kappa musterte ihn, das unförmige Gesicht in skeptische Falten gelegt. »Verloren, wie? Was könnte das sein? Und was würdest du wohl tun, um es wiederzubekommen?«
Seine Augen waren erstaunlich klar und fast schon menschlich, wenn man sich die blutigen Tränensäcke wegdachte. Aber sein Blick, listig funkelnd und geradezu heimtückisch, jagte Taro einen Schauer über den Rücken. »Was meinst du damit?«
Der Kappa richtete sich ein Stück auf. »Ich meine, dummes Menschenkind, dass du meine Hilfe brauchen kannst mit dem, was du verloren hast. Oder willst du reinspringen ins Wasser und es selbst suchen? Wir Kappa kennen die Strömung, die alles hinauszieht in die Tiefen des Sees. Wir kennen den Grund und die Seegrashöhlen. Was auch immer du verloren hast – ich kann dir helfen, es wiederzufinden.«
»Ehrlich?!« Im ersten Moment wäre Taro am liebsten jubelnd aufgesprungen vor Erleichterung. Aber die Freude verging ihm rasch. Das war ein Kappa! Ein Wasserkobold, der Menschen ertränkte! »Warum solltest du das tun?«, fragte er misstrauisch. »Was willst du dafür von mir?«
Der Kappa grinste verschlagen. »Nicht viel, gar nicht viel. Du musst mich nur im Armdrücken besiegen, dann helfe ich dir.«
Taro dachte angestrengt nach. Davon handelten die Geschichten auch: Dass Kappa, wenn man ihnen begegnete, die Menschen gern zu einem Wettstreit herausforderten, also sagte dieser Frosch vielleicht die Wahrheit. Trotzdem musste er wachsam bleiben. Er war ja nicht dumm. »Und wenn ich verliere?«
Das Grinsen des Kappa wurde breiter und entblößte zwei Reihen winziger, nadelspitzer Zähne. »Dann sagst du mir, was du verloren hast, und ich darf es behalten.«
Taro musterte den Kappa von oben bis unten. Er sah schmächtig aus mit seinen mageren Ärmchen und der dürren Brust, über der die ledrig grüne Haut faltig herunterhing, als hätte der Kappa sie wie ein nachlässig angezogenes Kleidungsstück übergeworfen. Taros eigene Arme waren nicht viel weniger dünn, aber er war stärker, als er aussah, und er war deshalb selbst schon ziemlich oft im Kampf unterschätzt worden. Schwer zu sagen also, wie stark dieser Kappa wirklich war. Viel mehr Sorgen machten Taro allerdings seine listigen Augen. Er würde bestimmt nicht ehrenhaft kämpfen – was Taro grundsätzlich nicht viel ausmachte. Ehre war ein Ideal für einfältige Samurai. Die Shinobi von Aoyama-gō hatten klügere Werte. Aber es bedeutete, dass Taro noch listiger sein musste.
Er holte tief Luft. »Einverstanden.«
Der Kappa blinzelte ihn schlau an. »Fabelhaft. Also komm rüber und lass uns anfangen!« Damit tauchte er die Hände durch das Loch im Steg und schüttete sich aus der Handschale eine beachtliche Ladung Wasser über den Kopf. Fasziniert beobachtete Taro, wie es von den Algenhaaren abperlte und sich in einer Mulde oben auf dem Kopf des Kappa zu einer funkelnden Pfütze sammelte, die leicht hin und her schwappte, als der Froschmann zum Ende des Stegs hüpfte, wo er sich flach auf den Bauch legte und seinen Arm in Position brachte.
Entschlossen machte Taro einen großen Schritt über das Loch im Steg hinweg und legte sich dem Kappa gegenüber. Es kostete ihn ein wenig Überwindung, nach der grünen Hand zu greifen, die glitschig aussah und kalt – und sich auch genauso anfühlte, als er es schließlich doch tat. Aber Taro ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken und packte stattdessen noch etwas fester zu.
»Bereit?« Der Kappa lächelte siegessicher.
Taro nickte grimmig. »Bereit.«
Sie begannen zu drücken. Doch Taro musste schnell einsehen, dass der Kappa, ganz wie befürchtet, längst nicht so schwach war, wie er aussah. Das Wasser in seiner Kopfmulde funkelte, und wo ein Tropfen über den Rand kullerte, schien er sich zu vertausendfachen und strömte über die Arme des Kappa wie Sturzbäche von kaltem Schweiß, sodass Taro kaum Halt an den glitschigen Fingern fand. Und so dauerte es auch gar nicht lange, da hatte der Froschmann seine Hand schon ein gutes Stück in Richtung der Planken gedrückt. Taro schnaufte und schwitzte und versuchte vergeblich, seinen Griff zu festigen. Das Wasser … es musste mit irgendeinem Kappa-Zauber belegt sein! Wenn es so weiterging, würde er verlieren!
Da kam ihm eine Idee. Eine kühne oder vielleicht sogar aberwitzige Idee. Aber er musste es wenigstens versuchen.
»Halt!«, keuchte er. »Wir müssen noch einmal von vorn anfangen!«
Der Kappa lachte ein gurgelndes Lachen und drückte Taros Hand noch ein Stück weiter herunter. »Ha! Du willst mich wohl austricksen!«
»Nein!« Taro biss die Zähne zusammen und versuchte verzweifelt gegenzuhalten, während er log, so überzeugend er nur konnte. »Aber ein Wettstreit ist ohne Ehre, wenn sich die Kämpfenden nicht formell begrüßt haben. Ich bitte dich! Ich bin Samurai. Wenn du mich jetzt besiegst, wo wir uns nicht einmal den Regeln gemäß begrüßt haben, verliere ich mein Gesicht.«
Der Kappa ließ nicht sofort in seinem Druck nach. Doch Taro sah das Zögern, das in seinen Augen aufblitzte. »Ich habe viele Samurai kennengelernt«, sagte er. »Aber davon habe ich noch nie gehört.«
Taro zog eine Grimasse. Seine Hand war nur noch wenige Fingerbreit vom Holz des Steges entfernt. »Vielleicht, weil sie dich nicht respektiert haben«, brachte er hervor. »Ich aber respektiere dich, wie ich jeden Krieger respektieren würde.«
Der Griff des Kappa lockerte sich ein winziges bisschen. Und in seinem Blick meinte Taro nun zu sehen, dass er sich von seinen Worten geschmeichelt fühlte. Ausgerechnet Respekt brachten ihm bestimmt nicht viele Menschen entgegen.
»Also schön«, quakte der Froschmann schließlich und ließ Taros Hand los, richtete sich ein Stück auf und beäugte ihn misstrauisch. »Zeig mir, wie ihr Samurai euch begrüßt.«
Taro nickte hastig, während er sich noch bemühte, wieder zu Atem zu kommen und zugleich ein wenig Zeit zu schinden. Er wusste doch selbst nicht genau, wie die Regeln der Samurai waren. Aber er hatte genug Geschichten über sie gehört, um sich selbst eine ausdenken zu können. Wenigstens eine kleine.
»Wir sitzen im seiza.« Er zog die Knie unter den Körper, hielt sich sehr gerade und legte die Hände auf die Oberschenkel. So wartete er, bis der Kappa es ihm gleichgetan hatte. »Und dann verbeugen wir uns.« Er verneigte sich tief, bis seine Nase beinahe das feuchte Holz des Steges berührte. Dabei ließ er den Kappa nicht einen Moment aus den Augen. Auch der Froschmann verneigte sich nun. Tiefer. Noch tiefer. Bis das Wasser aus seiner Kopfmulde über seine Stirn auf den Steg tropfte. Immer mehr und mehr, bis der Tümpel beinahe leer war, doch er schien es gar nicht zu bemerken, so konzentriert auf die Begrüßung war er.
Taro jubelte innerlich. Es hat funktioniert!
»Ich danke dir«, sagte er schnell. »Dann lass uns jetzt anfangen. Keine Verzögerungen mehr, ich verspreche es!« Rasch legte er sich wieder auf den Bauch, in der Hoffnung, dass der Kappa keine Gelegenheit bekäme, über den Verlust seines kleinen Kopfteiches nachzudenken, und schon gar nicht daran, sich einen neuen anzulegen, bevor sie in ihrem Wettstreit fortfuhren. Der Kappa schoss ihm einen funkelnden Blick zu, und wieder dachte Taro, dass diese klaren Augen gar nicht zu dieser schrumpelig-faltigen, grünschleimigen Gestalt passen wollten.
»Mit Vergnügen«, sagte der Kappa und packte Taros Hand erneut.
Taro bemerkte den Unterschied sofort. Es war, als wäre der Film auf der Haut des Kappa ein wenig rau, fast krümelig geworden. Diesmal würde er zumindest nicht abrutschen, da war er sich sicher.
»Fertig? Los!«
Der Kappa war immer noch sehr stark. Vielleicht zu stark. Darüber hatte Taro sich von Anfang an keine falschen Hoffnungen gemacht. Eine schiere Ewigkeit, so fühlte es sich an, stand Kraft gegen Kraft, und ihre ineinander verschränkten Hände bewegten sich weder in die eine noch in die andere Richtung. Taro spürte, wie seine Muskeln zu zittern begannen.
Doch als sei es eine Fügung zu seinen Gunsten, sank nach und nach die Sonne immer tiefer in das Schilfgras, das den Steg umschloss, und blinzelte zwischen den Halmen hindurch, als wolle sie ebenfalls den Ausgang dieses ungleichen Wettstreits miterleben. Als die Strahlen die inzwischen fast völlig trockene Haut des Kappa trafen, stöhnte er leise auf, als hätte er Schmerzen, und für einen winzigen Moment ließ er in seinem Druck gegen Taros Hand nach, die ihrerseits mittlerweile unangenehm glitschig vor Schweiß war. Es war nur ein Augenblick, nicht länger als ein Blinzeln, doch Taro biss die Zähne zusammen und bündelte mit einem zischenden Laut alle Kraft, die ihm noch geblieben war. Dumpf schlug der Handrücken des Kappa auf dem Steg auf.
»Gewonnen!« Weit hallte Taros Jubelschrei über den abendlich stillen See.
Der Kappa starrte ihn aus seinen blutunterlaufenen Augen an. Sein Gesicht war starr, geradezu blank. Dann richtete er den Blick auf seine Hand. Und schließlich sah er wieder hinauf zu Taro, der auf die Füße gesprungen war in seiner Begeisterung. »Ja, es stimmt«, sagte er endlich langsam, als könne er es selbst noch nicht glauben. »Du hast gewonnen.«
»Dann holst du mir jetzt, was ich verloren habe!«, triumphierte Taro.
Der Kappa verzog das Gesicht, sodass es sich in noch unmöglichere Falten legte als zuvor. »Wer hat gesagt, ich würde es dir holen? Hol es dir gefälligst selbst!«
Taro riss die Augen auf. Er hatte es doch gewusst! Dieser glitschige Frosch versuchte ihn reinzulegen! »Was sagst du da? Wie soll ich das machen? Ich kann unmöglich so tief tauchen!«
Der Kappa lachte auf, es klang geradezu bösartig. »Keine Angst, Menschenkind. Ich habe versprochen, ich würde dir helfen. Und ich helfe dir auch. Komm mit.« Schon war der Kappa an ihm vorbeigehüpft in Richtung Ufer.
»He!« Taro sprang ebenfalls über das Loch im Steg und setzte ihm nach, ehe er im mehr als mannshohen Schilfgras verschwinden konnte. »Warte!«
Aber der Kappa wartete nicht. Taro rannte ihm hinterher, so schnell ihn seine Beine trugen. Dieser verräterische Frosch! Er würde ihn auf keinen Fall entkommen lassen.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Nur der Vollmond stand klar und hell am Himmel. Der Sommernachtwind sang leise in den Schilfhalmen, als Taro sich hinter dem in unfassbarer Geschwindigkeit vorauseilenden Froschmann durch das Seegewächs schlug. Erst als es nur noch wenige Schritte sein konnten, bevor sie erneut auf das Seeufer stoßen mussten, blieb der Kappa so plötzlich stehen, dass Taro beinahe in ihn hineingelaufen wäre, und drehte sich zu dem Jungen um, um den Finger auf die Lippen zu legen.
Schnaufend blieb Taro stehen. Er hätte ohnehin nicht sprechen können vor lauter Atemnot, also nickte er bloß. Da winkte der Kappa ihn noch näher zu sich heran, dass Taro schon schwindelig wurde von dem durchdringend fauligen Fischgeruch, und deutete zwischen den Schilfhalmen hindurch in eine winzige Bucht.
Taro beugte sich ein wenig vor und spähte durch die monddurchwirkte Dunkelheit, bis seine Augen tränten. In der Bucht, fast vollständig verborgen zwischen einigen großen Felsen nahe dem Ufersaum, lag eine Gestalt im schimmernden Mondlicht und schlief. Es war eine Frau von kleiner, fast graziler Statur, mit schlanken Gliedern, einem schmalknochigen Gesicht und einem lang geschwungenen Wimpernkranz über hohen, scharfen Wangenknochen, der außergewöhnlich schöne, ausdrucksstarke Augen versprach. Selbst im Schlaf wirkte sie anmutig, und sogar ihr Atem, der die muskulöse Brust in gleichmäßigen Zügen wölbte, sprach von Kraft und Eleganz. Aber was Taro vor allem anderen den Mund offen stehen ließ, war das faltige Päckchen, das sorgsam zusammengelegt und verschnürt bei den Füßen der Frau lag. Taro erkannte es fast sofort, weil er dieselbe Textur so unfreiwillig lange und fasziniert bei seinem Wettstreit gegen den Froschmann angestarrt hatte, der gerade neben ihm hockte – nur dass sie in seinem Fall noch an seinem Körper hing.
War diese Frau also … eine Kappa-Frau? Sahen Kappa so unter ihrer Haut aus?
»Nimm sie mit«, hörte er in diesem Moment die Stimme des Kappa dicht an seinem Ohr wispern. »Wenn du ihre Haut anziehst, kannst du unter Wasser schwimmen und atmen.«
Taro drehte sich ruckartig um und starrte in sein triefäugiges, fischstinkendes Gesicht. Was sollte er tun? Eine Kappa-Haut stehlen und sie anziehen?
»Jetzt nimm sie schon«, zischte der Kappa ungeduldig und stieß ihn so heftig an, dass Taro mit einem erstickten Laut aus der Deckung des Schilfgrases herausstolperte. »Bevor sie aufwacht!«
Taro stand da wie angewurzelt. Mit angehaltenem Atem starrte er auf die schlafende Kappa-Frau, als könne selbst der leiseste Luftzug sie wecken.
Doch die Kappa rührte sich nicht.
Ihm blieb keine Wahl, dachte Taro verzweifelt. Er musste Yaes Schwert wiederbekommen. Die Hilfe des Kappa war die einzige Hoffnung, die ihm blieb. Um das Schwert zu finden, musste er in den See hinab, und dorthin würde er nicht gelangen, ohne die Haut der Kappa-Frau anzuziehen. Er konnte sie ja danach zurückgeben, versuchte er sich zu beruhigen, genau wie das Schwert. Was ihm bloß nicht in den Kopf wollte, war, warum der Froschmann so versessen darauf war, dass er mit ihm ging, statt einfach selbst nach dem Schwert zu tauchen und seine Schulden so schnell wie möglich einzulösen. Irgendetwas stimmte da nicht.
Aber weil er ja wirklich keine Wahl hatte, beschloss Taro kurzerhand, nicht länger darüber zu grübeln, sondern zu handeln. Entschlossen machte er ein paar Schritte nach vorn, ergriff das glitschige Haut-Päckchen mit beiden Händen und hastete zurück ins schützende Schilf. Kaum dort, packte der Kappa ihn auch schon am Handgelenk und zerrte ihn erneut mit sich, und wieder rannten sie durchs Schilf, immer weiter, ohne anzuhalten, bis sie endlich den alten Steg mit der zerborstenen Planke erreichten und sich keuchend auf die klammen Planken sinken ließen.
»Also jetzt erklär mir das noch einmal«, japste Taro, als er wenigstens halbwegs wieder zu Atem gekommen war. »Ich kann mit dieser Haut unter Wasser atmen? Heißt das, diese Frau kann das jetzt nicht mehr? Warum hat sie sie dann ausgezogen?« Noch immer umklammerten seine Finger das schlabbrige Hautpäckchen, als wollten sie es nie wieder loslassen. Er konnte noch gar nicht glauben, dass er es wirklich getan hatte. Eine Haut gestohlen, um sie sich selbst anzuziehen! Eine stinkende Kappa-Haut noch dazu!
»Unser Volk lebt im Wasser, aber wir schlafen an Land«, erklärte der Kappa, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Unbequeme Häute legt man ab, wenn man schläft. Macht ihr Menschen das nicht so? Sonst fühlt man sich ja danach steif wie ein Stück Treibholz.«
Taro starrte ihn ungläubig an. Das stimmte natürlich in gewisser Weise. Aber eine Haut war doch kein Kleidungsstück!
Der Kappa starrte triefäugig zurück. »Wir müssen allerdings nicht sehr oft schlafen. Nur zweimal im Jahr. Du hattest echtes Glück, Menschenjunge. Also was nun? Ziehst du sie an oder nicht?«
Taro sah wieder hinunter auf die Haut in seiner Hand. Sie war glitschig. Schleimig und feucht, aber eigentümlich warm. Und sie stank. Sie stank abscheulich. Aber er musste stark sein! Er musste das Schwert zurückholen, und zwar noch heute Nacht. »Ja«, sagte er und stemmte sich auf etwas zittrige Beine. »Ich ziehe sie an.«
Erneut zeigten sich die Nadelzähne des Kappa, als er grinste. »Fabelhaft.«
Taro bemühte sich, möglichst flach zu atmen, während er das Päckchen auseinanderfaltete und vorsichtig ein Bein nach dem anderen in den schwabbeligen Hautsack hineinschob, und dann auch noch die Arme. Augenblicklich spürte er, wie das weiche, warme Innere sich an seine eigene Haut schmiegte, sich dort mit leisem Schmatzen ansaugte wie ein übergroßer Blutegel, und die Yakisoba vom Abendessen drohten in einem dicken Klumpen seine Kehle wieder hinaufzurutschen.
Aber der Kappa ließ ihm nun keine Gelegenheit mehr, seine Meinung zu ändern. Schon packte er das obere Ende der Haut und stülpte es über Taros Kopf wie das sehr weiche Kopfteil einer Fechtmaske. Taro schnappte nach Luft, doch es drang nur Gestank in seinen Mund, und weiches, glibbriges Gewebe heftete sich an seine Lippen und Wangen. Nun übergab er sich wirklich. Japsend vornübergebeugt erbrach er sein Abendessen ins Schilfgras, und jedes Mal, wenn sein Blick auf die blaugrünen Hände mit den Schwimmhäuten fiel, setzte der Würgereiz von Neuem ein. Hinter sich hörte er den Kappa stöhnen und etwas murmeln, das weder freundlich noch geduldig klang.
Im nächsten Augenblick traf ihn ein kräftiger Stoß von hinten in den Rücken und er stürzte. Kopfüber ins eiskalte Wasser hinein.
Für einen Moment wusste Taro nicht, wo oben oder unten war. Das Wasser umfing und ergriff ihn, und er spürte, wie die Hände, die ihn zuvor gestoßen hatten, ihn nun hinabdrückten, immer weiter, bis die Unterströmung ihn erfasste und mit sich zerrte, hinaus in die Tiefen des Sees. Für schreckliche Augenblicke ergriff Taro Panik. Der Frosch hatte ihn überlistet! Er würde ihn ertränken!
»Augen auf!«, hörte er da eine gurgelnde Stimme neben seinem Ohr, die gar nicht mehr schleimig klang, sondern tief und schwingend. Taro riss die Augen auf. Und er sah.
Er sah den Seegrund mit seinem wogenden Teppich brauner Algen, der gen Norden steil und steiler abfiel, er sah Fische, schillernd im Mondlicht, das in gebrochenen Strahlen durch die Oberfläche hinabdrang und das Wasser mit silbrig weißem Schimmer erhellte. Große Seerosenblätter trieben weit über ihm vorüber und warfen ihre Schatten wie langsam ziehende Wolken auf die Berghänge von Taros Heimat an Land, und selbst von hier unten konnte er die zarten Erschütterungen sehen, wenn die Wasserläufer über die nächtlich spiegelglatte Oberfläche huschten. Taro musste ein bisschen lachen. Vor Verblüffung, vor Staunen, vor Bewunderung für diese fremde, verborgene Schönheit, die er niemals unter der Oberfläche seines so vertrauten Sees vermutet hätte. Und in diesem Moment, als sich die Atemsäcke unter den Backen seiner neuen Haut beim Lachen blähten, wurde ihm bewusst, dass es tatsächlich funktionierte. Er konnte schwimmen. Er konnte atmen, so mühelos, als wenn er oben an Land in der lauen Sommernachtsluft herumliefe.
Eine kräftige Faust knuffte ihn in die Rippen. »Was hängst du hier rum und gaffst, Junge? Schwimm weiter!«
Taro wandte sich zu dem Kappa um. »Da unten ist der Schatz, den ich verloren habe?«
Der Kappa musterte ihn mit einem seltsamen Blick und wies hinab zum tiefsten Punkt der Senke. »Die Strömung trägt alles dorthin. Spürst du es nicht?«
Und tatsächlich bemerkte Taro, dass er, auch ganz ohne selbst etwas dazu zu tun, immer weiter hinabtrieb, langsam, aber stetig. Es war keine starke Strömung, und in der gestohlenen Kappa-Haut hätte er ohne Weiteres dagegen anschwimmen können, wenn er gewollt hätte. Aber wenn der Strom ihn nach dort unten trug, dann hatte er vielleicht auch das Schwert dorthin getragen, ganz wie der Kappa sagte.
Taro nickte entschlossen. »Ich spüre es. Lass uns hinschwimmen.«
Mit kräftigen Stößen schwammen sie weiter, immer dem Weg der Strömung folgend, bis sie schließlich den Grund des Sees erreichten. Ein buckliger Hügel aus Fels, Schlamm und Kieseln erhob sich dort, beinahe unsichtbar unter den sich sanft wiegenden Algenfäden, die darauf wuchsen. Kleine Fischschwärme schwammen durch eine geduckte Öffnung hinein und auf der anderen Seite durch einige scheinbar sehr viel kleinere Löcher wieder heraus.
»Das ist die Grotte der stetigen Strömung«, erklärte der Kappa. »Auf seinem Weg nach Norden, hin zum großen Fluss, fließt das Wasser unablässig hindurch. Sie ist wie ein Fischernetz, das verlorene Schätze aus dem Strom fischt.« Er lächelte sein verschlagenes Lächeln. »Schwimm ruhig hinein. Was immer du suchst – das Glück könnte an diesem Ort auf deiner Seite sein.«
Taro beäugte den Kappa misstrauisch. Sein Lächeln gefiel ihm nicht. Trotzdem entschied er sich, dem Rat zu folgen. Die Strömung trieb ihn ja wirklich genau auf die Grotte zu. Und was sprach dagegen, dort drin nach dem Schwert zu suchen? Irgendwo musste er ja anfangen. Mit einer kräftigen Bewegung seiner Arme und Beine glitt er durch den engen Eingang in die Grotte hinein.
Er hatte die Öffnung kaum passiert, als ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Der Kappa hatte von einer Grotte gesprochen, die wie ein Fischernetz die angespülten Schätze fing. Doch was Taro sah, als er einen ersten Blick umherwarf, wirkte überhaupt nicht wie eine Schatzhöhle. Vielmehr wie … ein kleines Haus. Verschiedene Gegenstände, deren Nutzen Taro nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, waren auf Boden und Wänden verteilt, nach einem Muster, das keineswegs willkürlich wirkte – eher wie ein äußerst ungewöhnlich eingerichtetes Zimmer, mit Flechtnetzen aus Algen an den Wänden, weichen Seegrasnestern und allerlei dekorativen Teilen aus Steinchen und blank poliertem Holz hier und da. Taro hielt inne, trieb schwebend in der Mitte des Raums und sah sich staunend und zugleich ein wenig ratlos um. »Bist du sicher …?«, begann er – doch in diesem Moment hörte er ein Geräusch, das ihm sämtliche Haare an Kopf und Körper zu Berge stehen ließ: Er hörte, wie sich ein großer Stein vor den Eingang schob. Und auch ohne sich umzuwenden, wusste Taro sofort, dass das nicht von innen geschah; sondern dass der Kappa, der ihn hergelockt hatte, den Felsen, der in Wahrheit eine Tür war, von draußen in seine perfekt angepasste Fassung aus undurchdringlichem Algengeflecht drückte – und dass das hässliche Schaben, das auf der anderen Seite ertönte, das Geräusch eines vorgeschobenen Riegels war. Taro schoss zur Tür hinüber und drückte mit aller Kraft dagegen … Nichts.
»Oi! Froschmann!«, brüllte er. »Lass mich raus!«
Immer noch nichts. Nicht ein Laut. Bis im nächsten Moment der Kopf des Kappa in einer der winzigen Öffnungen auf der anderen Seite der Hütte erschien und einen beachtlichen Teil des matten Lichtes aussperrte, das noch von draußen hereindrang. »Nimm’s nicht persönlich, Menschenjunge«, sagte er. »Aber ich kann auf keinen Fall zulassen, dass diese Frau, der deine neue Haut gehört, hierher zurückkehrt. Deshalb wirst du leider hierbleiben müssen, bis sie oben am Ufer vertrocknet ist.«
Taro starrte ihn entsetzt an. »Was!? Aber … wieso?«
Das Gesicht des Kappa verzerrte sich in hässlicher Wut und er stieß ein blubberndes Zischen aus. »Weil sie einfach nicht aufhört, auf ihrer Flöte zu spielen!« Er fuchtelte wild mit den Armen und zerrte an den Algenhaaren, dass die schlabbrige Haut über seinem Gesicht Falten schlug und ihn noch wilder und bösartiger aussehen ließ. »Tag und Nacht, Nacht und Tag, seit der Zeit der Kirschblüten geht das schon so! Bis ans andere Ende des Sees bin ich gezogen, um ihr zu entkommen, aber es hilft nichts, durch das Wasser höre ich jeden Ton, es ist einfach nicht zu ertragen! Ich habe es im Guten versucht, oh ja, habe sie gebeten, damit aufzuhören, und seither spielt sie nur noch mehr und nur noch lauter. Aber damit ist jetzt Schluss! Schluss, sage ich! Ich habe eine Ewigkeit darauf gewartet, dass dieses Salamanderweib endlich zum Schlafen an Land geht, und ich werde nicht zulassen, dass sie zurückkommt!«
Taro konnte es kaum glauben. Darum ging es hier? Um eine Flöte? Seine Kehle wurde eng, als ihm etwas dämmerte. »Dann war das die ganze Zeit dein Plan? Du wolltest mich hier einsperren? Hast du also absichtlich gegen mich verloren?«
»Und ob ich das habe!« Der Kappa grinste sein wildes Grinsen. »Jetzt wird sie mir büßen, dass sie für all meine Klagen taub war!«
»Aber ich verstehe das nicht! Warum hast du ihr nicht selbst die Haut gestohlen, wenn du es schon tun musstest? Was habe ich damit zu tun? Bitte, lass mich gehen!«
»Ganz einfach.« Der Kappa funkelte ihn listig an. »Eine leere Kappa-Haut lebt und atmet und wird stets den Weg zu ihrem Kappa zurück suchen. Solange du aber darin steckst, wird das nicht passieren. Die Haut wird schön mit dir zusammen hier unten bleiben, und du wirst ja wohl nicht dumm genug sein, sie am Grund des Sees einfach auszuziehen, nicht wahr?« Er lachte glucksend. »Keine Sorge, ich werde dich füttern und umsorgen, bis ich dich wieder herauslassen kann – nämlich wenn diese Pest endlich Geschichte ist!« Der Kappa sang nun fast, seine Augen leuchteten.
»Nein!«, rief Taro heftig. »Ich werde dir nicht helfen, eine unschuldige Frau zu töten, die nichts Schlimmeres verbrochen hat, als Musik zu machen!«
Der Kappa lachte höhnisch auf. »Natürlich wirst du das nicht. Du hast es nämlich schon getan. Und du wirst mich jetzt auch nicht mehr daran hindern. Bis später, Menschenkind.« Damit verschwand er von dem winzigen Fenster und ließ Taro allein.
»He! Warte!« Taro paddelte hastig zum Fenster und sah den Froschmann eben noch in einem Dickicht aus Wasserpflanzen verschwinden, das hinter der Hütte wuchs wie ein kleiner Wald. »WARTE!«
Aber seine Menschenstimme verklang schnell im Wasser und der Kappa hörte ihn nicht – oder wollte ihn wohl auch einfach nicht hören. Taro starrte verzweifelt den Luftblasen hinterher, die aus seinem Mund entwichen und zu der plötzlich so unerreichbar fern scheinenden Wasseroberfläche hinauftrieben. Was sollte er nur tun? Er musste hier irgendwie rauskommen! Aber die Fensteröffnung war zu klein, die Tür fest verschlossen, und die Algenwände so viel unnachgiebiger, als sie auf den ersten Blick aussahen. Rastlos schwamm Taro hinüber zum nächsten Fenster, das in eine Art winzigen Garten aus Seegras und Sternpflanzen blickte. Auch dieses war viel zu klein, als dass er sich hätte hindurchzwängen können. Wie zum Hohn schwammen ein paar Fische an ihm vorbei in die Hütte, drehten eine kleine Runde und schwammen wieder hinaus. Taro hätte weinen mögen.
In diesem Moment jedoch geschah ein kleines Wunder. Als Taro den Fischen mit dem Blick folgte, wie sie ruhig und glitzernd im Unterwassergarten ihre Kreise zogen, sah er plötzlich im Seegras unter dem Fenster etwas funkeln. Ein verirrter Strahl gebrochenen Mondlichtes fing sich im blanken Metall einer … Schwertklinge?
Taro schnappte nach Luft. Yaes Schwert! War das möglich? Konnte das wirklich wahr sein? Konnte seine Rettung wirklich, wie der Kappa gesagt und doch eigentlich gelogen hatte, von der Strömung bis hierher und in Reichweite seines Armes getrieben worden sein? Oder zumindest beinahe in Reichweite. Denn sosehr Taro sich auch streckte und sich gegen die Algenwand presste, um den Arm noch ein Stück weiter durch das kleine Fenster zu schieben, er schaffte es nur gerade eben, den Schwertgriff mit seinen Fingern zu streifen. Ein Werkzeug. Er brauchte ein Werkzeug!
Sein Blick fiel auf die Seegrasnester, die das Kappa-Haus dekorierten. Und wenn er sich eine Schlinge aus Gras knüpfte und sie an einen der dekorativen Stöcke band?
Entschlossen machte sich Taro an die Arbeit. Es brauchte eine ganze Weile, bis er mit den Schwimmhaut-Fingern und in der ungewohnten Schwerelosigkeit des Wassers eine Art Angel zusammengebastelt hatte. Und noch länger dauerte es, bis er es tatsächlich schaffte, die Schlinge aus dem Fensterloch heraus und um den Schwertgriff zu manövrieren. Selbst unter Wasser schwitzte er inzwischen wie nach einem Tagwerk bei der Buchweizenernte. Wenn es ihm nun wieder abrutschte, wenn es weiter davontrieb, wenn …
Doch dann, endlich, schlossen sich seine Finger um den Schwertgriff, und er zog die Klinge vorsichtig durch das Fenster zu sich herein. Er hatte das Gefühl, noch nie in seinem kurzen Leben so erleichtert gewesen zu sein, obwohl er gar nicht wusste, wie genau ihm die Klinge helfen konnte. Es fühlte sich einfach unbeschreiblich gut an, sie wiedergefunden zu haben.
In diesem Augenblick hörte er vor dem anderen Fenster jemanden ein zufriedenes Liedchen pfeifen, das sich rasch näherte. Ein schneller Blick verriet Taro: Der Kappa kam zurück! Er trug eine Schale mit etwas, das seltsam schleimig und tentakelig aussah. Taro verbarg das Schwert hastig hinter einem der Seegrasbüschel. Er wusste es besser, als den Kappa offen mit der Waffe zu konfrontieren. Der Froschmann war hier im Wasser zu Hause. Er selbst war trotz seiner neuen Haut immer noch ein Mensch, der im fremden Element höchstens unbeholfen herumpaddeln konnte. Hier unten würde er den Kopfteich des Kappa nicht durch eine List leeren können, und kein Sonnenstrahl würde ihm zu Hilfe kommen. Er musste ihn also auf andere Art bezwingen, auch wenn er noch nicht wusste wie. Also hockte sich Taro auf das Seegrasbüschel, hinter dem er das Schwert versteckt hatte, und wartete, dass die Tür sich endlich öffnete.
Der Kappa kam sehr vorsichtig herein, als erwartete er, dass Taro hinter der Schwelle auf ihn lauern würde, um ihm einen Stein über den Kopf zu ziehen. Als er allerdings sah, dass der Junge nur scheinbar verzweifelt in einer Ecke hockte, breitete sich ein selbstgefälliges Lächeln auf seinem Gesicht aus. »So. Hast du verstanden, dass du nicht entkommen kannst? Gut für dich. Sieh her. Ich bringe dir Essen – ich halte meine Versprechen!«
Aber Taro hatte keinen Appetit, auch wenn sein leerer Magen sich bereits vor Hunger verknotete. Wie lange war er bloß schon hier unten? Dem Licht nach zu urteilen, war der neue Tag noch nicht angebrochen, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Das nachtblaue Wasser begann bereits langsam seine Farbe zu verändern. Er musste unbedingt bald nach Hause. Wenn er nur irgendwie an dem Kappa vorbeikäme!
In diesem Moment erklang, wie zur Antwort auf seine Gedanken, ein lang gezogener, durchdringender und dabei leicht blubbernder Ton. Er kam von weit her, von oben herab, gefolgt von einigen weiteren, spielerisch hüpfenden und zugleich klagenden Klängen, die sich rasch durch den ganzen See verbreiteten und das Wasser ringsumher vibrieren ließen. Der Kappa erstarrte. Und auch ohne dass er die Musik zuvor je vernommen hätte, wusste Taro augenblicklich, was er da hörte. Die Kappa-Frau ließ sich durch ihr unfreiwilliges Landexil nicht davon abhalten, ihr Morgenlied zu spielen. Vielleicht weniger als je zuvor.
»Das ist doch nicht zu fassen!«, zischte der Kappa und schwamm halb aus der Tür hinaus, um hinauf zur Oberfläche zu starren. »Dieses Fischweib! Das tut sie nicht!«
Es war seine Chance. Taro hatte kaum Zeit, seine eigenen Gedanken zu hören, ehe er handelte. Entschlossen packte er das Schwert mit beiden Händen und riss es aus seinem Versteck im Seegras. Dann schoss er auf den Kappa zu, der zu spät bemerkte, wie ihm geschah, und zog die Klinge von unten nach oben über den Froschkörper. In der trägen Schwerelosigkeit des Wassers schien jede Bewegung wie in Zeitlupe abzulaufen. Das Schwert nahm kaum an Geschwindigkeit auf, und als es auf die zähe, faltige Haut traf, glaubte Taro für einen Augenblick, es würde sich einfach darin verfangen und stecken bleiben, um ihm zum zweiten Mal an diesem Tag aus den Fingern zu gleiten.
Aber nicht diesmal. Diesmal schloss Taro die Hände fest um den Griff, einen Finger nach dem anderen, wie Mina-sensei es ihm schon so oft verzweifelt zu erklären versucht hatte. Das Te-no-uchi – dieses eine, entscheidende Mal gelang es ihm. Und die Haut des Kappa riss.
Als müsse die Zeit die zuvor verlorenen Momente wieder aufholen, ging nun alles sehr schnell. Der Froschmann brüllte auf, vielleicht vor Schmerz, vielleicht vor Schreck. Dunkles Blut, fast schwarz im nachtfarbenen Wasser, blühte in schleierartigen Blumen auf und nahm Taro die Sicht. Er spürte mehr als er sah, wie der Kappa zu fliehen versuchte, und mehr aus Reflex denn aus einer klaren Absicht heraus ließ Taro das Schwert fallen, um seinen Feind zu packen. Seine Froschfinger sanken tief in die weiche Haut ein und saugten sich schmatzend daran fest. Und als der Kappa sich mit einem Fauchen zu ihm umdrehte, um sich zu befreien, da glitt die Haut mit einem lauten Schlürfen von seinem Körper, und eine sehnige, muskelbepackte und doch zugleich fast schlangengleich dünne Gestalt kam zum Vorschein, die Taro aus einem Maul voll spitzer Zähne wütend anbrüllte, bis der ganze See unter dem dröhnenden Laut vibrierte.
Doch schon im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen des nackten Kappa vor Entsetzen, als ihm klar wurde, dass er ohne seine Haut nicht würde einatmen können. Mit einem kräftigen Tritt seiner muskulösen Beine drückte er sich vom Boden ab und schoss wie ein Pfeil aufwärts, wo ein erster matter Lichtschimmer den Aufgang der Sonne anzeigte. Seine zurückgebliebene Haut flatterte durch den Druck des aufgewirbelten Wassers in Taros Hand wie ein groteskes Banner.
Taro zögerte nicht lange. Er ließ die Haut los, nahm sein Schwert wieder auf und machte sich ebenfalls auf den Weg nach oben. Dort war immer noch die Kappa-Frau, wahrscheinlich stark geschwächt von ihrer langen Zeit an Land. Und der Kappa-Mann hatte sehr deutlich seine Entschlossenheit gezeigt, sie loszuwerden. Taro fiel nur eine Möglichkeit ein, ihr zu helfen. Er musste ihr ihre Haut zurückgeben.
Als sein Kopf die Oberfläche des Sees durchbrach, leuchtete das erste Licht des neuen Sommermorgens in funkelndem Gold auf dem Wasser. In der Bucht, umgeben von blühenden Seerosen, standen sich die zwei nackten Kappa in geduckter Haltung gegenüber, die nadelspitzen Zähne gefletscht. Sie hatten ihn anscheinend noch nicht bemerkt. Taro schwamm rasch aufs Ufer zu. Als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, schälte er sich endlich aus der Kappa-Haut, die sich überraschend leicht von seinem Körper lösen ließ und leider noch genauso stank wie zu dem Zeitpunkt, als er sie angezogen hatte.
»Du rücksichtsloses, niederträchtiges Fischweib!«, hörte er den Kappa zischen. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder einen Fuß in meinen See setzt!«
»Dein See?«, fauchte die Frau. »Meine Familie lebt hier seit Jahrtausenden! Wann bist du hergezogen, vor hundert Jahren? Das ist doch lächerlich!«
»Und das gibt dir das Recht, mich zu terrorisieren? Gib es zu, du spielst diese Flöte nicht, weil du die Musik so liebst! Du versuchst, mich in den Wahnsinn zu treiben! Und das nur, weil dir meine Sternalgenwiese nicht gefällt.«
»Du hast meinen Nixenkrautwald dafür ausgerissen!«, schrie die Frau. »Es hat Jahrzehnte gebraucht, ihn in Form zu bringen!«
Der Kappa lachte höhnisch auf. »Dein dummes Nixenkrautgestrüpp! Man konnte nicht hindurchschwimmen, ohne sich die Haut aufzureißen! Nur gut, dass es weg ist! Ich werde die Reste auch noch ausrupfen!«
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da blies die Kappa heftig in ihre Flöte, so schrill und krumm, dass Taro und der Kappa heftig zusammenfuhren. Dann holte sie in einer fließenden Bewegung aus, als führte sie ein Schwert über den Kopf, und hieb ihrem Kontrahenten die Flöte über den Schädel, so kräftig, dass sie mit einem scharfen Knacken am unteren Ende brach. Stöhnend sackte der Kappa in sich zusammen und trieb reglos zwischen den Seerosenblättern. Die Frau stand über ihm. Plötzlich ganz still und seltsam ratlos sah sie auf ihn herab, dann auf ihre zerbrochene Flöte und schließlich zu Taro. Sie hatte blaue Augen. Unfassbar blaue, riesengroße Augen, die im Morgenlicht leuchteten. Taro hatte noch nie blaue Augen gesehen.
»Du hast etwas, das mir gehört«, stellte sie fest.
Taro nickte, noch völlig unschlüssig, was er von der Begegnung halten sollte, deren Zeuge er gerade geworden war.
Die Frau streckte die Hand aus, und weil Taro nicht wusste, was er sonst tun sollte, reichte er ihr die Haut. Die Frau schlüpfte rasch hinein, innerhalb weniger Augenblicke war ihre Gestalt völlig verändert und für Taros unbedarften Blick kaum von dem Kappa zu unterscheiden, den er zuerst kennengelernt hatte. Nur die blauen Augen leuchteten immer noch.
»Und seine?«, fragte die Froschfrau.
»Noch unten«, murmelte Taro.
Die Frau nickte. Dann packte sie den reglosen Kappa-Mann am Arm und verschwand ohne ein weiteres Wort mit ihm im See. Die Oberfläche schlug noch ein paar kleine Wellen. Dann wurde sie wieder glatt, als hätten hier niemals zwei zornige Wassergeister um die Gestaltung der Gärten am Seegrund gestritten.
Taro stand noch eine ganze Weile zwischen den Seerosen, das Schwert noch in der Hand, triefnass und wie benommen. Irgendwann watete er ans Ufer und schlug sich durchs dichte Schilf, bis er den alten Steg erreichte, an dessen Pfosten noch immer sein Übergewand im Morgenwind flatterte wie ein dunkelblauer Wimpel. Auch die Schwertscheide lag noch dort. Hinter der Uferböschung war das Dorf bereits erwacht. Yae würde sicher schon nach ihm suchen.
Taro wrang das Wasser aus seinen Haaren und band sie ordentlich wieder zusammen, zog das Übergewand an und schob das Schwert in die Scheide. Vielleicht würde er all das bald für einen seltsamen Traum halten, dachte er, als er auf die jetzt wieder völlig leere Oberfläche des Sees hinausstarrte.
Aber in seiner Hand lag unzweifelhaft die zerbrochene Flöte der Kappa-Frau. Vielleicht war sie ja verzaubert. Ob er sie damit wieder herbeirufen konnte, wenn er sie reparierte?
Doch obwohl Taro von diesem Tage an jeden Abend am See saß, um die zerbrochene Flöte zu spielen, sah er keinen der beiden Kappa jemals wieder.