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UNFREIWILLIG EINMALIG

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Es ist der zwanzigste März, also habe ich heute Geburtstag! Ich werde zwölf. Ich gehe von elf, was die Atomnummer für das Element Natrium ist, zu zwölf, das ist die Atomnummer für das Element Magnesium. In der Schule nehmen wir zurzeit die Elemente durch. Oder die GRUNDELEMENTE, wie Cecilia übertrieben begeistert betont. Natrium finde ich gut, weil das so was wie Salz ist. Und ich liebe Salz. Wenn ich mich für den Rest meines Lebens zwischen süß oder salzig entscheiden müsste, würde ich auf jeden Fall salzig wählen. Fast alle in meiner Klasse würden süße Sachen wählen. Auf die Art bin ich einmalig. Leider bin ich auch auf andere Art einmalig. Unfreiwillig einmalig.

Papa ist siebenundvierzig, und das ist die Atomnummer für Silber, das gefällt mir.

Aber ich weiß nicht, was ich von Magnesium halten soll, weil ich noch nichts darüber weiß.

Ich liege unter der Bettdecke und stelle mich schlafend. Draußen in der Küche klappern Papa, Omi und Papas Bruder Onkel Ossi mit dem Geschirr und unterhalten sich flüsternd. Das Wort Onkel klingt irgendwie so alt, aber Ossi ist viel jünger als Papa, ungefähr neunundzwanzig oder dreißig, hab vergessen, wie alt genau, darum weiß ich nicht, welches Element er eigentlich ist.

Ein kleiner Spalt grauweißes Licht an der Seite des Rollos erhellt das Zimmer. Papa muss alles, was auf dem Boden herumlag, aufgesammelt haben, nachdem ich gestern eingeschlafen bin. Das macht mich immer wieder leicht verwirrt. Beim Einschlafen – schlimmstes Durcheinander. Beim Aufwachen – pedantische Ordnung.

Die Ziffern auf dem Darth-Vader-Wecker stehen bei 06.47. Und jetzt immer noch bei 06.47.

Und immer noch. Wie kann es so lange 06.47 Uhr sein? Unfassbar! Papa nennt solche langsamen Minuten S-Bahn-Minuten. Und zwar, weil, wenn wir S-Bahn fahren wollen, steht manchmal »3 Minuten« leuchtend rot auf der Anzeigentafel am Bahnsteig, und dann, drei Minuten später, steht IMMER NOCH »3 Minuten« auf der Tafel. S-Bahn-Minuten, das bedeutet die langsamsten Minuten der Weltgeschichte.

Immer noch 06.47. Haben sich die Ziffern vielleicht verhakt? Ich schüttle Darth, doch das hilft nichts, also stelle ich ihn wieder hin. Er guckt mich mit seinen schwarzen glänzenden Augen an.

»Auf geht’s, Darthy boy«, flüstere ich.

Und da endlich: 06.48.

Und plötzlich höre ich:

»Lang soll sie leben, lang soll sie leben, lang soll sie leben, Hunderte von Jahr!«

Ist doch echt krass, dass manche Sachen einen die ganze Zeit nur an das erinnern, woran man nicht denken will! Hundert Jahre leben. Ja, wenn Mama das hätte tun dürfen, das wäre schön gewesen. Hundert Jahre. Oder wenigstens fünfzig. Dann wäre ich bei ihrem Tod erwachsen. Das wäre doch einfacher? Oder? Es fällt mir schwer, nicht an meinen letzten Geburtstag zu denken, als ich elf wurde. Daran, wie Mama in mein Zimmer kam und sang. Und typisch nach Mama roch, wie immer, wenn sie gerade aufgewacht war. Immer, wenn sie mich dann in den Arm nahm, presste ich meinen Kopf an ihren Hals und schnupperte an ihren Nackenhaaren. Dort roch sie am meisten nach Mama. Da musste sie lachen, sagte, das würde kitzeln. Ich hab solche Angst, ich könnte ihren Duft irgendwann vergessen.

Mama blieb bei sechsunddreißig Jahren stehen. Ich werde immer älter werden, sie aber nicht. Sie wird immer sechsunddreißig bleiben. Sechsunddreißig ist die Atomnummer für Krypton. Krypton ist ein Edelgas, das in der Erdatmosphäre sehr selten ist. Genau wie Mama. Selten. Ich hätte gewünscht, Mama wäre wenigstens neunundsiebzig geworden. Neunundsiebzig ist die Atomnummer für Gold. Gold hält ewig.

Jetzt drängeln sich Papa, Omi und Ossi in der Türöffnung und singen, dass die Fensterscheiben nur so klirren. Papa steht ganz vorne und hält ein Tablett in den Händen. Gestern durfte ich mir mein Geburtstagsfrühstück wünschen: Heiße Schokolade mit Schlagsahne. Obstsalat und Joghurt. Eine Scheibe Toast mit Erdbeermarmelade. Auf dem Tablett sind außerdem noch: eine brennende Kerze, eine Serviette mit einem Leoparden drauf und ein lila Blümchen in einem Eierbecher. Das hat Papa garantiert vom Usambara-Veilchen in der Küche abgezwickt. Ich setze mich im Bett auf. Ossi drängt sich an Papa vorbei. Er hat die Ärmel an seinem geblümten Hemd hochgekrempelt, jetzt kann man seine vielen Tätowierungen sehen.

»Du hast gar nicht geschlafen! Gib’s zu!«, sagt Ossi und umarmt mich. Er riecht nach Zigarettenrauch, aber bei ihm regt mich das nicht so auf. Außerdem riecht er immer danach, und es hat ja keinen Sinn, sich immer aufzuregen. Vor allem nicht über Ossi.

»Ein bisschen schwierig zu schlafen, wenn gewisse Typen morgens um halb sieben laut an der Tür klingeln«, sage ich. »Er ist wirklich ein hoffnungsloser Fall!«, sagt Papa. »Ich hab ihm direkt davor gesimst: ›Leise reinschleichen! Die Tür ist offen!‹ Manchmal hab ich den Verdacht, dass du meine SMS gar nicht liest?«

Papa dreht sich zu Ossi um, und Ossi fährt sich mit der Hand durch das schwarze Elvis-Haar. Vielmehr fährt er sich nicht mit der Hand DURCH das Haar, sondern eher ÜBER das Haar. Irgendwie streichelt er es, ganz vorsichtig, so wie man ein Kaninchen streichelt. Vermutlich weil er so viel Wachs und Spray und Zeugs draufgetan hat. Draußen könnte der totale Orkan sein, Ossis Haare würden trotzdem absolut unverändert aussehen.

»Hey, natürlich LESE ich sie, aber dann … also, vielleicht vergesse ich sie manchmal. Du weißt schon … ADHS.«

Ossi hat ADHS und redet sich immer irgendwie damit heraus. Wenn er zu spät kommt: ADHS. Wenn er vergessen hat, etwas zu besorgen: ADHS. Wenn er nicht zuhört: ADHS. Also, natürlich glaube ich nicht, dass er lügt. Garantiert fällt ihm manches schwerer, weil er ADHS hat. Aber gleichzeitig kommt mir unwillkürlich der Gedanke, dass es unglaublich praktisch sein muss, immer für alles eine Ausrede zu haben!

Jetzt verwuschelt er mir die Haare.

»Ehrlich, ich fahr echt auf deine neue Frisur ab!«, sagt er.

»Und ich fahr auf deine alte Frisur ab!«, sage ich und grinse. Ossi macht Platz für Omi, die brav hinter ihm gewartet hat. Sie lässt sich schwer auf die Bettkante sinken. Das ganze Bett knarzt. Omi wiegt über hundert Kilo. Behauptet aber, sie würde achtundneunzig wiegen. Papa meint, in Sachen Gewicht sei es problematisch, wenn man in den dreistelligen Bereich rutscht, und darum würde sie ein bisschen flunkern. Sie legt mir ein großes weiches Paket auf den Schoß. Es ist in weißes Papier mit hellblauem Blümchenmuster eingepackt, wie alle Geschenke von Omi. Eigentlich ist das kein Geschenkpapier sondern Tapetenpapier. Alle Geschenke, die ich je von Omi bekommen habe, sind in diese Tapete verpackt. Irgendwann vor fünfzehn Jahren hat sie aus Versehen zwanzig Rollen Blümchentapete gekauft, dann aber festgestellt, dass ihr das Muster nicht gefällt, und da war es zu spät, die Tapete zurückzugeben.

Omi nimmt meine Hand und hält sie fest. Schaut mir lange in die Augen, so lange, dass es fast ein bisschen lästig wird, und sagt:

»Sasha, wie FÜHLST du dich jetzt? An deinem zwölften Geburtstag?«

Es ist, als würde sie eine sehr tiefsinnige Antwort erwarten. Eine Art Weisheit, das Leben sei ein Geschenk, oder was auch immer. Aber da habe ich gerade nichts Passendes auf Lager.

»Äh … ja, das ist wohl … das ist so, wie wenn man von Natrium zu Magnesium geht.«

Omi sieht mich fragend an.

»In der Schule nehmen sie gerade die Elemente durch«, erklärt Papa. »Das Element mit der Nummer Zwölf ist Magnesium.«

»Aha. Ehrlich gesagt, nehme ich Magnesium gegen saures Aufstoßen«, teilt Omi mit.

Na super. Danke für die Info, Omi. Jetzt weiß ich also auch über Magnesium Bescheid.

Papa stellt das Tablett auf den Boden und drückt mich ganz fest.

»Glückwunsch, mein Schatz!«

In seiner Schlafanzugshose und dem abgetragenen T-Shirt sieht er froh und entspannt aus. Keine Brille. Ohne Brille kommt mir sein Gesicht immer verändert vor, irgendwie schutzlos, oder vielleicht so, als wäre er gerade erst aufgewacht. Ungefähr wie ein Panda ohne die schwarzen Ringe um die Augen.

»Ossi, die Geschenke!«

»Ja! Genau!«

Ossi stürzt aus dem Zimmer und kommt fünf Sekunden später mit drei Paketen im Arm zurück, die er aufs Bett kippt. Eins ist eine kleine Schachtel mit einer roten Samtschleife, eins ist ein weicher Karton, vielleicht etwas zum Anziehen, und das Dritte ist ein bisschen größer und härter, in blaues Papier eingepackt, irgendwas Buchmäßiges. (Aber hoffentlich nicht. Vergiss nicht Punkt 3 auf der Liste: Keine Bücher lesen.)

»Was ist von wem?«

Ich schaue von Papa zu Ossi.

»Alle sind von mir«, sagt Papa.

Ossi macht ein verlegenes Gesicht.

»Hm, also, gestern hab ich es irgendwie nicht rechtzeitig geschafft, und dann … hm… heute morgen hatten sie nicht auf.«

»Bekanntlich gibt es nur wenige Läden, die um sechs Uhr früh offen sind«, sagt Papa.

»Aber ich weiß GENAU, was ich dir kaufen werde, du kriegst es in allernächster Zukunft!«

Papa rollt die Augen.

»Das macht nichts«, sage ich.

»ADHS«, sagt Ossi entschuldigend und zuckt die Schultern. Aus Omis Paket kommen eine weiße superweiche kuschlige Decke und ein weißes superweiches Kissen, die aussehen, als wären sie aus Kaninchenfell, und sich auch so anfühlen (sind sie aber nicht, zum Glück!). Gefallen mir sehr. Von Papa bekomme ich einen Atlas (perfekt – ein Buch, das man nicht lesen muss, sondern nur anzuschauen braucht) und eine coole tighte Jeans (dunkelblau, aber ich werde versuchen, sie in eine rote oder vielleicht gelbe umzutauschen). Die kleine Schachtel hebe ich bis zuletzt auf. Alle drei starren mich erwartungsvoll an. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sie wissen, was in dieser Schachtel ist.

»Vielleicht eine Uhr? Oder eine Halskette?«, sage ich, aber als ich die Schachtel schüttle, fühlt sie sich ganz leicht an, und nichts rasselt. Fast aufreizend langsam ziehe ich am Band der Schleife.

Als ich den Deckel öffne, begreife ich zuerst null. In der Schachtel liegt ein Foto, sonst nichts. Ein Foto von einem Hund. Von einem Welpen. Ein Cockerspaniel, glaube ich, hellbraun wie ein Sahnebonbon. Er ist so süß, dass man einen Zuckerschock kriegt. Ich drehe das Foto um. Da steht: Gratuliere! In sechs Wochen gehöre ich dir!

»Versteh ich nicht?«, sage ich und sehe zu Papa hoch. Denn ich kapiere überhaupt nichts.

Papa strahlt vor Begeisterung.

»Du bekommst ihn!«, sagt er. »Den Hund! Ich hab so unglaublich viel über diese Sache nachgedacht, und ich glaube, das wird richtig, richtig gut. Für dich. Für uns. Nach … allem, was passiert ist.«

Langsam geht es mir auf. Ich bekomme einen jungen Hund. Einen Welpen! Watteweiche Wärme breitet sich in mir aus. Es fühlt sich an, als hätte man mir tatsächlich einen Welpen, so einen knuddeligen sahnebonbonbraunen Welpen direkt auf den Schoß gesetzt.

Ich starre Papa an.

Seit meinem ersten Lebensjahr habe ich um einen Hund gebettelt. Wauwau war mein drittes Wort. Zuerst »Mama«, dann »Lampe«, dann »Wauwau«. »Papa« kam erst an vierter Stelle. Mein armer Papa. Jetzt kommt er immerhin an erster Stelle. Mein Interesse für Lampen hat trotz allem erheblich abgenommen.

Papa sieht mich an. Seine Augen funkeln. Ich schiele zu Ossi rüber, der begeistert grinst und von einem Fuß auf den anderen tritt, hin und her, als würde er tanzen. Es fällt ihm schwer, stillzustehen. Omi sitzt, wo sie sitzt, auf meiner Bettkante. Schwer und unbeweglich, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ein Welpe, der nur mir gehören wird, nur mir. Ein kleiner Hundewelpe, mit dem ich schmusen und kuscheln darf und dem ich »Sitz« und »Bei Fuß« und Pfoten-high–five beibringen kann.

Aber.

Plötzlich ist es, als würde jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über mich auskippen. Ein Welpe. Ich kann mich nicht um einen Welpen kümmern! Ist doch klar! Das würde niemals klappen. Ich kann das nicht. Das ist unmöglich.

Punkt 2. Versuch gar nicht erst, dich um etwas Lebendiges zu kümmern.

Die weiche Wärme im Bauch verschwindet schlagartig. Als wäre ich aus einer Sauna direkt in den Schnee hinausgetreten. Ich zwinge mich dazu, den Deckel wieder auf die kleine Schachtel zu legen. Meine Hand zittert dabei, aber ich muss das Bild des molligweichen Hundchens verdecken. Ich binde das Samtband wieder um die Schachtel. Lasse mir Zeit beim Zubinden. Mache einen Doppelknoten. Einen doppelten Doppelknoten sogar.

»Papa. Das geht nicht. Das kann ich nicht«, sage ich.

Papa schaut mich an, zwinkert verwirrt.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine damit, dass ich mich nicht um einen Hund kümmern kann. Das geht nicht.«

Papa sieht aus, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen.

»Was … wie? Was sagst du da?«

»Nein. Ich sage Nein! Das geht nicht. Danke, aber nein.«

Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen. Aber ich weigere mich! Ich weigere mich zu weinen. Ich zwinge die Tränen zurück, so wie immer. Mein Hals schnürt sich zu. Ich kann nicht schlucken. Es ist, als könnte ich nicht atmen. Ich springe aus dem Bett und pralle auf dem Weg aus dem Zimmer gegen Ossi, der wiederum in meine verstaubte Legokonstruktion kracht, die seit gut einem halben Jahr dasteht. Dann schließe ich mich im Klo ein. Sehe mich im Spiegel an. Das hier bin ich. Sasha. Zwölf Jahre alt. Zwölf, die Ordnungsnummer für das Element Magnesium. Eingeschlossen im Klo. Viel zu kurze braune Haare, an die ich mich noch nicht gewöhnt habe. Braune Augen mit einem goldenen Ring um die Pupille.

Mamas Augen

Augen, die sich mit Tränen füllen. Ganz, ganz vorsichtig lege ich mich auf den Fußboden, damit die Tränen nicht überfließen. Ich starre an die Decke, wo die Farbe abzublättern beginnt. Ich will nicht blinzeln, weil dann die Tränen anfangen würden zu fließen. Ich weigere mich zu weinen. Und solange die Tränen noch in den Augen bleiben, ohne auf die Wangen hinunterzutropfen, gilt es nicht als Weinen. Um mich abzulenken, denke ich an die Liste. 1. Haare abschneiden. 2. Versuch gar nicht erst, dich um etwas Lebendiges zu kümmern. 3. Keine Bücher lesen. 4. Nur bunte Outfits tragen. 5. Nicht zu viel denken (am besten gar nicht). 6. Nicht spazieren gehen, meide den Wald. 7. Comedy Queen werden!

Liegt hier jemand, der den größten Fehler des Jahrhunderts gemacht hat?, frage ich mich.

Nein. Das hier ist richtig. Natürlich ist es das.

Comedy Queen

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