Читать книгу Vergeben und Vergessen - Jenny Kutzner - Страница 8
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ОглавлениеDer 22. November war eigentlich ein Tag wie jeder andere auch. Es war bitterkalt und es regnete schon seit Tagen ununterbrochen. Am liebsten wäre ich den ganzen Tag im Bett geblieben. Der Wind pfiff durch die Spalten der Mauer unseres Hauses und der Regen trommelte auffordernd gegen die Scheiben. Doch ich wollte nicht aus dem Bett vertrieben werden. Ich hatte diesen Tag frei, also kuschelte ich mich noch fester in meine Decke und zog sie bis über die Ohren. Ich lauschte meinem Herz, wie es langsam und stetig vor sich hinpochte. So eingepackt blieb ich noch eine ganze Weile liegen, bis sich ganz langsam ein mir nur allzu bekanntes Geräusch in meine Träume schlich. Peter rief an und mein Telefon klingelte unaufhörlich direkt neben mir auf dem Nachttisch, obwohl ich mir sicher war, es gestern Abend lautlos gestellt in der Küche zurückgelassen zu haben. Ich war der Versuchung nahe, ihn wegzudrücken oder das Telefon zumindest wieder auf lautlos zu stellen. Ich wollte nicht mit ihm reden und wenn ich ehrlich bin, wollte ich es weder jetzt noch irgendwann. Bei dem Gedanken daran überkamen mich wieder diese schrecklichen Schuldgefühle. Warum war ich nur so abweisend zu ihm? Er war mein Ehemann, ich müsste ihn doch lieben. Ich konnte mir nicht erklären, wie sich meine Gefühle für Peter so verändert haben konnten. Besonders weil er, nach allem was geschehen war, so liebevoll und fürsorglich zu mir war. Aber genau das war, glaube ich, der Punkt. Ich wollte nicht, dass er so war und deswegen nahm ich das Gespräch auch an, bevor er aus Sorge um mich noch hergekommen wäre. Da war ein Telefonat die wesentlich bessere Alternative. Ich atmete also tief ein und begrüßte ihn so liebevoll ich konnte.
»Hi, mein Schatz.«
»Oh, habe ich dich geweckt? Das wollte ich nicht! Ich rufe nur an, um zu fragen ob bei dir alles in Ordnung ist.«
»Alles bestens! Und geweckt hast du mich auch nicht. Ich bin schon seit einer halben Stunde wach. Ist gestern wieder spät geworden.«
»Du hättest mich ruhig wecken können! Wir haben uns seit Tagen kaum gesehen. Weißt du, ich..., ich vermisse dich!« Es entstand eine kleine Pause und mir wurde klar, dass ich ihm eigentlich sagen sollte, dass ich ihn auch vermisste. Doch ich konnte nicht.
»Weißt du was, ich mache heute eher Feierabend und dann gehen wir zwei mal wieder aus. Was essen, ins Kino und vielleicht…«
»Das hört sich wirklich nett an, aber es geht nicht«, unterbrach ich ihn, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. »Weißt du, Maggie ist krank geworden und ich hab versprochen einzuspringen.«
Lüge! – blinkte es in grellen roten Buchstaben in meinem Kopf auf. Gott sei Dank konnte er mich jetzt nicht sehen.
»Kannst du nicht absagen?«
»Das geht nicht, ich hab`s versprochen, und zur Zeit ist die Hölle los!«
Lüge! In Wirklichkeit, war am Monatsende nie etwas los. Aber um das Gespräch zum Ende zu bringen versprach ich ihm, dass wir den Abend bald nachholen würden. Er war absolut nicht glücklich mit meiner Absage, aber er nahm sie hin.
»Hannah, ich liebe dich!«
»Ich dich auch, Peter.«
Und damit war das Gespräch beendet. Ich stellte das Handy auf lautlos und legte es auf den Nachttisch zurück, bevor ich mich wieder ins Bett fallen ließ. Gott, was war ich nur für eine schlechte Ehefrau! Wie oft hatte ich ihn während diesem einen Telefonat angelogen? Ich zog das Kissen unter meinem Kopf hervor und drückte es mir ins Gesicht, bis mich diese schrecklichen Gefühle verließen und die Welt begann zu verschwinden.
Als ich gegen 17 Uhr in die Kälte trat, um eine Schicht anzutreten, die ich gar nicht antreten musste, überkam mich Wut und Traurigkeit. Es war erbärmlich und feige und ich wusste, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Dieses ständige aus dem Weg gehen war weder für Peter noch für mich erträglich. Ich musste irgendwann mit ihm darüber reden. Aber was sollte ich ihm sagen, wie es ihm erklären? Für gewöhnlich lief ich die paar Kilometer. Doch an diesem Tag rief ich mir ein Taxi. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter und daran war nicht nur der eisige Regen schuld. Anfänglich war es nur ein leichter Nieselregen. Doch als ich endlich bei der Bar ankam, war er bereits in einen kräftigen Regenschauer übergegangen. Ich rannte den kurzen Weg vom Taxi bis zur Tür und als ich die trockene, warme Zuflucht erreichte, meldete das Glöckchen über der Tür gehorsam mein Eintreten. Marti, mein Chef, der hinter dem Tresen mit dem Rücken an das Schnapsregal gelehnt stand und las, blickte über seine Brille hinweg schielend auf. Die Bar hatte bereits seit einer Stunde geöffnet, doch bis auf eine kleine Gruppe im hinteren Bereich, war der Laden leer. Als Marti mich erkannte, wirkte er sichtlich irritiert.
»Was machst du denn hier?«, schoss es etwas barsch aus ihm heraus und ich musste schmunzeln. Es sah wirklich zu komisch aus, wie dieses 38 Jahre alte Muskelpaket, das die Sonnenbank liebte und fast täglich ins Fitnessstudio ging, mit seiner Lesebrille auf der Nase so dastand und las. Er legte die Zeitung weg und kramte nach etwas in der Schublade unter der Kasse.
»Hab ich dich etwa für die Schicht eingeteilt? Also wenn es so ist, dann tut´s mir echt leid, dass muss ein Fehler gewesen sein. Siehst ja selber, was hier los ist.«
»Ich weiß, ich bin heute zur Abwechslung mal hier, um deinen Umsatz ein bisschen anzukurbeln.« Marti hörte auf zu suchen und schaute mich eine ganze Weile an. Seine fragenden Blicke schienen mich zu durchbohren, als ich mich auf einen der Hocker am Tresen setzte.
»Hattest ´nen scheiß Tag, was?«
»Einen? Ne ganze Reihe!« Als ich mit dem Kellnern anfing, war eines der ersten Dinge, die mir Marti beibrachte, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann es angebracht war, sich dem Gast als Gesprächspartner und Hobbytherapeut anzubieten und wann lieber nicht.
»Einen Whiskey Sour für die Dame?!« Ich nahm das Glas in die Hand und setzte es an. Den ersten Schluck nippte ich nur, um mir im zweiten Anlauf das komplette Glas die Kehle hinunterzustürzen. Ich konnte den Whiskey den ganzen Weg, bis hinunter in meinen Bauch, spüren. Kaum dort angekommen, schoss er mir in den Kopf, aber irgendwie genoss ich auch diese Wärme in mir. Es fühlte sich gut an und ich wollte mehr.
»Hey Marti, machst du mir noch so einen?«
Marti sah auf einmal besorgt aus. Ich kannte den Ausdruck auf seinem Gesicht von Peter und ich hoffte, dass er mir einfach nur meinen Drink bringen würde, doch ich wurde enttäuscht.
»Also, ähm...wenn du darüber...«
Mein Blick schien zu genügen und er sprach nicht weiter. Ich nahm ihm das neue Glas aus der Hand und überlegte, ob ich mich an einen der leeren Tische am Fenster setzen sollte – für den Fall, dass Marti weitere Fragen stellte. Doch ich blieb wo ich war. Ich genoss die Stille und meinen immer höher werdenden Promillewert und spielte immer und immer wieder das anstehende Gespräch mit Peter in Gedanken durch. Mir wurde klar dass, egal wie ich es ihm beibringen würde, es zwangsläufig in einer Katastrophe enden würde. Ich wollte gerade Marti rufen, um meine Rechnung zu bezahlen, als das Glöckchen über der Tür anfing einen Besucher anzukündigen. Aus Reflex drehte ich mich um.
In der Tür stand ein Mann. Er war groß und hatte braunes, mittellanges Haar, das ihm vom Regen nass im Gesicht klebte. Er schien einige Zeit draußen gewesen zu sein, denn sein Mantel fing an kleine dunkle Pfützen auf dem Holzboden zu hinterlassen. Als mir bewusst wurde, dass ich ihn anstarrte, drehte ich mich abrupt wieder weg. Marti, von der Glocke aus dem Kämmerchen gelockt, schaute den neuen Gast argwöhnisch an, als er sich mit zwei Hockern Abstand zu mir an die Bar setzte. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn neben sich. Für diese Jahreszeit trug er ein viel zu dünnes Sweatshirt, das an den Schultern ebenfalls schon durchnässt war.
»Was darf´s denn sein?«
»Wodka!«
Marti holte ein Glas und eine Wodkaflasche aus dem Regal und goss dem neuen, wortkargen Gast ein. Er wollte gerade die Flasche zurückstellen und wieder in seine Kammer gehen, als sich der Fremde noch einmal zu Wort meldete.
»Noch einen!«
»Wie wär´s denn mal mit „Bitte“!«, brummte Marti halblaut in sich hinein.
»Noch einen...BITTE!«
Es war sonst nicht Martis Art sich wegen fehlender Umgangsformen aufzuregen, aber es war halt einer dieser Tage, an dem er auch wohl besser im Bett geblieben wäre. Marti schenkte ihm nach, blieb aber diesmal mit der geöffneten Flasche vor ihm stehen und wartete. Der Fremde trank auch das zweite Glas in einem Zug leer und Marti schenkte ein weiteres Mal nach, um die Flasche dann neben ihm stehenzulassen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Marti wieder den Raum. Ich spürte, wie ich nervös wurde und rief nach Marti, um mir nachschenken zu lassen, aber nichts rührte sich. Also beschloss ich, mir meinen Drink selbst zu machen. Eine ganze Weile blieben der Fremde und ich schweigend nebeneinander sitzen. Nachdem er das fünfte oder sechste Glas geleert hatte, unterbrach er die Stille mit einem frustrierten Seufzen. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und strich sich die noch immer nassen Haare zurück.
»Warum ist dieser Mistkerl nur so verdammt stur?!«
Ich wollte etwas darauf erwidern, doch stattdessen starrte ich ihn wieder nur an, bis sich unsere Blicke trafen. »Oh Gott, bitte entschuldige! Ich wollte dir keine Angst machen!«
Ich wollte ihm antworten, aber als ich ihn anschaute, fing er an zu lächeln und mir blieben die Worte im Halse stecken.
»Ich heiße John.« Er streckte mir seine Hand entgegen. Ich zögerte einen Augenblick und stellte mir vor, wie sie sich wohl anfühlen würde. Ich beschloss es herauszufinden und legte meine Hand in seine.
»Hannah.«
Es fühlte sich wirklich gut an, sein Griff war fest und warm.
»Freut mich dich kennen zu lernen...Hannah!«
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor und ich betete, dass dieser Moment nie zu Ende gehen würde.
Doch dann löste sich sein Griff. Er stand auf, doch nur, um den Abstand zwischen uns zu verringern und setzte sich auf den Hocker direkt neben mir.
»Was tust du denn hier?«
»Arbeiten.«
Er schaute mich verwundert an.
»Wenn du das Arbeiten nennst... OK!«
»Also, normalerweise meine ich. Nicht jetzt. Heute trinke ich nur.« Ich kam mir blöd vor, wie ich da so rumstotterte.
»Ja, das erklärt dann auch die Erstürmung der Theke.« Kleine Fältchen umspielten seine Augen, als er lächelte und ich spürte, wie ich mich langsam entspannte.
»Und wer oder was hat dich dann heute zum Trinken gebracht?«
»Mein Mann.« Hörte ich mich sagen und wollte es sofort wieder zurücknehmen. Ich hatte eigentlich gerade überhaupt keine Lust mehr über meine Probleme mit Peter zu reden. Wenn ich ehrlich war, wollte ich nicht einmal, dass John wusste, dass ich verheiratet bin.
»Hör zu John, sei mir nicht böse, aber ich will wirklich nicht darüber reden!«
Sein Lächeln erlosch und er wandte sich wieder seinem Glas zu. Vielleicht war es besser so. Ich würde austrinken und morgen mit Peter reden.
»Dann muss ich deinem Mann wohl dankbar sein.«
»Wie bitte?« Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich nicht verhört hatte.
»Na ja, ich bin irgendwie lieber zu zweit alleine und ich bin verdammt froh, dass mir kein bierbäuchiger, alter Säufer dabei Gesellschaft leistet!«
»Alt und bierbäuchig kann ich schon mal ausschließen. Mit dem Säufer hingegen, bin ich mir da noch nicht so sicher«, antwortete ich halbtrocken, während ich an mir hinunter schaute.
»So lange der Humor stimmt, kann ich damit leben!« John fing wieder an zu lächeln und ich war dankbar.
Da saßen wir nun, zwei Fremde, die sich an einem verregneten Novemberabend in einer verrauchten Kneipe zufällig über den Weg gelaufen waren. Keiner von uns beiden wollte, dass diese Nacht vorüber ging, obwohl wir beide mit dem Vorhaben in die Bar gekommen waren, den vorhergegangenen Tag so schnell wie möglich aus unserem Leben zu streichen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Meine Unsicherheit verflog mehr und mehr. Wir scherzten eine Weile herum und allmählich schien sich die Art unseres Gespräches zu verändern und zumindest John gab mit zunehmender Stunde immer mehr über sich und sein Leben preis.
»Weißt du, in den zehn Jahren, in denen ich nun schon als Agent unterwegs bin, ist mir nur ein Einziger treu geblieben.« Seine Zunge wurde immer unbeweglicher und die Aussprache fiel ihm zunehmend schwerer. »Und er ist wirklich richtig gut und das nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Freund!« Er schenkte sich ein weiteres Glas ein, wobei er das meiste daneben schüttete und ich hinter die Bar ging, um ein paar Papierservietten zu holen.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte John, kaum dass ich wieder saß und warf mir sein bezauberndes Lächeln zu.
»Ich glaub du wolltest mir gerade erzählen, was dich in diese Bar getrieben hat.«
»Ja genau!« John ließ plötzlich den Kopf hängen. Er tat mir leid, wie er dort so traurig saß und legte tröstend meine Hand auf seine.
»Doch dann kam L.A.«
Ich hatte gerade einen Schluck aus meinem Glas genommen, als mich seine Worte zusammenzucken ließen. »Alles in Ordnung?« John schaute mich besorgt an.
»Ja, alles bestens. Mir ist nur ein Stück Limette im Hals hängen geblieben.«
Ich räusperte mich noch ein paar Mal, doch dann ging es wieder. John ließ mich währenddessen nicht aus den Augen.
»Sag mal kenn ich ihn vielleicht?«, versuchte ich das Thema zu wechseln.
»Das ist sogar sehr wahrscheinlich! Du liegst laut aktuellen Umfragen genau in seiner Zielgruppe.«
John begann etwas ungelenk in seinem Mantel zu wühlen und reichte mir ein postkartengroßes Foto, das an den Rändern bereits etwas ausgefranst war. Mir stockte der Atem.
»Max!«
»Du kennst ihn also.«
Ich kannte ihn in der Tat. Er spielte in einer meiner Lieblingsserien mit und ich war ein riesiger Fan. Doch es war nicht der Gedanke an die heile Serienwelt, der meine Finger unbewusst über das Foto dieser ramponierten Autogrammkarte streichen ließ. Vielmehr waren es eigenartig verschwommene Bilder, die plötzlich in meinem Kopf aufblitzten und ein Kribbeln durchschoss meinen Körper. Ich spürte auf einmal einen pochenden Schmerz hinter den Schläfen und eine eigenartige Kälte trieb mir eine Gänsehaut auf meine Arme.
John hatte in der Zwischenzeit weiter geredet. Doch nun unterbrach er sich und seine Miene verfinsterte sich.
»Es tut mir leid, hab ich etwas falsches gesagt?«
»Nein! Es ist nur... « Ich überlegte was ich sagen sollte.
»Kompliziert?« Versuchte John meinen Satz zu Ende zu führen, während er seine Hand hob und mir eine Haarsträhne aus der Stirn wischte.
»Da hast du Glück. Mit komplizierten Dingen kenne ich mich aus. Außerdem hab ich dir schon so ziemlich alles von mir erzählt, aber von dir weiß ich nur, dass du hier arbeitest und das du verheiratet bist.«
»Reicht das denn nicht?«
Seine Hand streichelte noch immer mein Gesicht.
»Was willst du denn wissen?«
Er tastete sich weiter in Richtung meines Nackens, während seine linke Hand anfing die andere Hälfte meines Gesichtes zu streicheln. Sein Kopf war schon so dicht an meinen herangerückt, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Er sah mir tief in die Augen und anstatt zu antworten, küsste er mich. Den Rest der Nacht, redeten wir nicht mehr viel.