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1. AKT: CHARAKTERMODELL

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Seit es Theater, Oper oder Film gibt, suchen Autoren und Dramaturgen nach Modellen, die erklären, warum einige Theaterstücke erfolgreicher sind als andere, warum gerade dieser Kinofilm die Zuschauer so stark bewegt hat und jener nicht. Dahinter steht natürlich der Wunsch nach einem Rezept für ein erfolgreiches Kunstwerk. Daher gibt es immer wieder neue Versuche, Strukturen und Proportionen von zeitbasierten Kunstwerken in Modellen zu erfassen und dabei herauszuarbeiten, welche Entwicklungsbögen, Wendepunkte, Konfliktkonstellationen offensichtlich erfolgreich sind. Der älteste uns überlieferte Text dieser Art ist das Fragment POETIK von Aristoteles. Auf seinen Spuren haben Dramaturgen wie Gotthold Ephraim Lessing, Gustav Freytag und Béla Balász über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart Aristoteles’ Theorie weiterentwickelt.

Als Syd Field 1984 sein Werk THE SCREENWRITERS WORKBOOK veröffentlichte, löste er geradezu einen Boom an Sachbüchern zu strukturellen Fragen des Drehbuchschreibens aus, der bis heute ungebrochen ist. Alle diese Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie intensiv erfolgreiche Strukturmuster von Filmen und Drehbüchern untersuchen, aber sie haben auch alle die gleiche Schwäche: Sie vernachlässigen die Bedeutung der Figur gegenüber der strukturellen Fragen. In Büchern mit einem Umfang von teilweise über 300 Seiten findet sich mitunter nur ein einziges, recht allgemein gehaltenes Kapitel über Figuren, Charaktere und Typen. Das halte ich für ein Versäumnis oder mehr als das – für einen Denkfehler. Die starke Orientiertheit auf Strukturfragen blendet nämlich etwas Wesentliches aus.

Es sind vor allem die Charaktere der Figuren, welche die Handlung vorantreiben. Sie handeln auf ein Ziel hin, getrieben von ihrem inneren Wesen, weil sie genau so und nicht anders können. Glaubwürdige Charaktere sind das Rückgrat jeder Handlung.

Das Drama (die Komödie, Tragödie und so weiter) kann sich erst entfalten, entwickeln und auflösen, wenn die Figuren konsequent ihren Verhaltensmustern folgen, wenn sie dem Konflikt nicht ausweichen können und sich auch ihren eigenen Abgründen und Grenzen stellen müssen.

Othello ist als farbiger Heerführer ein Außenseiter. Er ist es gewöhnt, von Intrigen und Feinden umgeben zu sein. Umso mehr vertraut er seinen wenigen echten Freunden. Als Jago ihm weismacht, dass Desdemona ihn mit Cassio hintergeht, schlägt seine tiefe Liebe in grenzenlosen Hass um. Othello kann nicht aus seiner Haut heraus, er muss seinem Verhaltensmuster folgen. Nur diese Konsequenz der Figur macht die Tragödie des Othello erst möglich.

Auch Billy Elliot ist ein Außenseiter. Er will Tänzer werden, obwohl Jungen in seinem Alter in einer englischen Bergarbeitersiedlung Mitte der 1980er Jahre eher zum Boxen geschickt werden. Aber Billy hat im Tanzen seine Möglichkeit gefunden, sich auszudrücken – er kann gar nicht mehr anders. Und er setzt sich durch, gegen seinen Vater, seinen Bruder, sein soziales Umfeld, gegen seine Herkunft. Die Figur Billy Elliot kann von ihren Wesen her dem Konflikt gar nicht ausweichen. Genau deshalb hat der Film so eine Kraft, so eine Fallhöhe. Der Film schließt mit einem Happy End für Billy, aber die Figur handelt so kompromisslos, dass auch ein tragischer Ausgang im Bereich des Möglichen gelegen hätte.

OTHELLO und BILLY ELLIOT – I WILL DANCE, beide Stoffe ziehen ihre magische Kraft aus der konsequenten Anlage ihrer Charaktere. Erst sie machen das Drama möglich! Die Struktur beider Stoffe entsteht, indem die Autoren die Figuren glaubhaft handeln lassen und ihre Potentiale voll ausnutzen.

An dieser Stelle möchte ich mein Verständnis einiger dramaturgischer Begriffe erklären. Wenn ich mich hier an Autoren wende, meine ich damit Urheber von Figuren im weitesten Sinne. Dies können durchaus auch Schauspieler und Regisseure sein oder etwa Szenenbildner, die einen Raum für eine Figur erfinden müssen.

Wir müssen klar unterscheiden zwischen Menschen und Figuren. Während Menschen von unendlich vielen Einflüssen geprägt sind, sehr vielfältig handeln können und sehr kompliziert strukturiert sind, verhält sich das bei Figuren völlig anders. Figuren sind von Autoren erdacht. Sie können Charaktere oder Typen sein. Charaktere sind möglichst individuell angelegt und können sich im Verlauf der Handlung entwickeln. Bei Typen wird dagegen das Individuelle vernachlässigt. Meist stehen sie stellvertretend für eine Gruppe (der Taxifahrer, der Kellner, das Mitglied einer Bande) und haben nicht den Raum sich zu entfalten, aber eine wichtige Funktion innerhalb einer Szene oder des ganzen Buches. Typen sind also keine schlecht gebauten Charaktere, sondern eine notwendige andere Art von Figuren.

Nun können Figuren so sorgsam und tiefgründig erdacht sein, wie es die Kunst des Autors vermag, sie werden niemals so facettenreich und individuell sein wie ein Mensch. Im Gegenteil – auch Charaktere sollten nur so individuell sein wie nötig. Sie sollten genau die Eigenschaften besitzen, die sie brauchen, um in diesem Stoff glaubwürdig zu handeln, während für die Geschichte unwichtige Eigenschaften sogar weggelassen werden müssen, um nicht die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Wesentlichen abzulenken.

Der Begriff „Charakter“ kann sehr verschieden aufgefasst werden. Mitunter wird er so verwendet, dass jemandem der Charakter abgesprochen wird. Hier wird der Begriff also moralisch wertend verstanden. Dann gibt es den dramaturgischen Begriff „Charaktere“ als Antonym von „Typen“. Wenn ich in diesem Text die Mehrzahl des Wortes benutze, dann ist der dramaturgische Begriff gemeint, sonst steht er ganz wertfrei für die Summe der geistigen Eigenschaften einer Figur.

Neben dem Charakter (den geistigen Eigenschaften) gibt es noch zwei weitere Komponenten einer Figur, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Erstens hat die Figur ein physisches Erscheinungsbild, nach dem die Zuschauer sie beurteilen werden. Dazu gehören Aspekte wie Geschlecht, Alter, Haarfarbe, körperliche Gestalt, subjektive Schönheit und so weiter. Zweitens hat die Figur einen sozialen Gestus. Dieser äußert sich in Gestik, Mimik, Kleidung, Bildung, Beruf, Statussymbolen und so weiter. Ich werde diese beiden äußerlich sichtbaren Komponenten einer Figur ein bisschen vernachlässigen, weil sie vom Autor leicht zu erschaffen sind und mich hier vor allem auf die unsichtbare Seite der Figur konzentrieren – ihren Charakter.


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