Читать книгу Zwischen "Lügenpresse" und konstruktivem Journalismus - Jens Brehl - Страница 6
Alles „Lügenpresse“ oder was?
ОглавлениеDer Handwerker in meiner Wohnung schraubt vor sich hin, während ich ihm interessiert über die Schulter blicke. Da meine handwerklichen Fähigkeiten positiv ausgedrückt ausbaufähig sind, im besten Marketing-Sprech also über enormes Entwicklungspotenzial verfügen, kann ich vielleicht beim Zuschauen noch etwas lernen. Zumindest ist der Handwerker froh, dass wir so unkompliziert einen Termin gefunden haben, an dem ich auch zu Hause bin. Ich erkläre als Freiberufler zu arbeiten und mir daher meine Arbeitszeit oft selbst einteilen zu können. Auf die Frage, was ich denn arbeite antworte ich wie aus der Pistole geschossen, dass ich Journalist sei. Daraufhin blickt mich der Handwerker mit ernstem Gesicht an „Dann gehören Sie ja auch zu denen“, wobei er „denen“ besonders betont. Oh nein, nicht schon wieder. Warum kann ich nicht einfach meine vorlaute Klappe halten? Schnell wird klar, mit „denen“ meint er diejenigen, die den Rest der Bevölkerung mit Lügen manipulieren. Es folgt ein Gespräch darüber, wo sich Medien tatsächlich nicht mit Ruhm bekleckern. Allerdings merke ich schnell, dass mein Gesprächspartner wenig Interesse an Fakten hat, sondern sein Weltbild lieber von einem „Insider“ bestätigt bekommen möchte. Nach weiteren Minuten erkenne auch ich, wie sinnlos unsere Diskussion ist.
Jahrelang habe ich meine Arbeit getan, ohne jemals mit Vorwürfen à la „Lügenpresse“ konfrontiert zu sein. Gibt es tatsächlich immer mehr unzufriedene Mediennutzer oder wird nur verstärkt über sie berichtet? Durch die sozialen Medien ist es deutlich leichter, Gleichgesinnte zu finden und sich dabei seine Standpunkte gegenseitig zu bestätigen – egal welcher Art sie sein mögen.
Der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Vowe bringt eine gewisse Ruhe in die teils deutlich aufgeheizte Diskussion. Es sei ersichtlich, dass in den letzten Jahren der Anteil der Nutzer, die Medien vertrauen und solchen, die es nicht tun, ziemlich stabil geblieben sei. In Deutschland hätten 40 Prozent großes bis sehr großes Vertrauen. Es gäbe durchaus bei einzelnen Themen kurzfristige Ausschläge nach oben oder unten. „Ein großer Teil der Bevölkerung ist also skeptisch. Das ist gut so. Niemand kann ernstlich wollen, dass die Bürger den Journalisten vorbehaltlos trauen und folgen.“ Ein Großteil der etwa zehn Prozent Misstrauischen stimme dem Vorwurf der „Lügenpresse“ ausdrücklich zu. Unter ihnen gäbe es einen harten Kern von ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, der seinen Unmut öffentlich laut formuliert, die Kommentarspalten von Onlinemedien intensiv nutzt und oft auch in sozialen Medien äußerst aktiv ist. „Es ist dieser harte Kern der Misstrauischen, der öffentliches Aufsehen erregt und insbesondere im Journalismus für Unruhe sorgt.“ Natürlich fände man in den Medien einiges, was es zu kritisieren gäbe: schlampige Recherche, arroganter Ton, deutliche Voreingenommenheit.
Man solle die Misstrauischen und ihren harten Kern zwar ernst nehmen, sich aber nicht von ihm treiben lassen, so Vowe. Denn: Eine ausgewogene Berichterstattung kann diese Wogen kaum glätten. „Die Misstrauischen sind vor allem deshalb misstrauisch, weil sie sehr profilierte politische Ansichten haben. Und diese finden sie in den Medien kaum wieder, was sie ärgerlich bis wütend macht. Das ist aber bei allen Streitfragen so, nicht nur bei den derzeit diskutierten Themen.“ Weiterhin führt Vowe aus: „Je konsequenter jemand in einer Streitfrage für oder gegen eine Position ist, desto kritischer ist er gegenüber den Medien in diesem Thema.“ Je nachdem, wie ein Medium demnach berichtet, gibt es immer Nutzer, welche die Beiträge einseitig, verzerrt oder gar als falsch empfinden. In Vowes Augen hat durch die „Lügenpresse“-Diskussion auch ein Lernprozess stattgefunden, hin zu mehr Transparenz und zum Hinterfragen der eigenen journalistischen Arbeit.7
„Unzufriedene Leser gab es immer“, stimmt Anton Sahlender zu. Auf Vorwürfe à la „Lügenpresse“ hatte die Main-Post nicht gewartet, sondern bereits 2004 die Stelle eines Medien-Ombudsmanns geschaffen. Die Idee hatte Sahlender eingebracht, da er das Konzept aus den Vereinigten Staaten kennt. Als er noch im Projekt-Team „Lokaljournalismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung war, traf er einen Kollegen aus Seattle. Dieser begleitete die Rolle des Leseranwalts bereits seit Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre. Nach einem langen internen Prozess schuf die Main-Post ebenfalls eine solche Stelle und besetzte sie mit Sahlender. Zu Beginn füllte er die Rolle des Leseranwalts als Mitglied der Chefredaktion aus. Nach seinem Ruhestand führt er seine Arbeit als Freiberufler fort. „Am Anfang habe ich alle Verrückten abbekommen – das war schlimm“, erinnert er sich. Daher ist er recht schnell dazu übergegangen, nur auf nachvollziehbare Beschwerden zu reagieren, bei denen die Leser auf Beleidigungen verzichten.
Wer den Protest der Leser ignoriert, beschädigt auf Dauer seine Marke und sorgt für stetigen Vertrauensverlust. „Im Laufe der Zeit sind immer mehr Missverständnisse entstanden und die hängen uns heute noch nach. Die angesammelte Unzufriedenheit schlägt auch durch, wenn es stellenweise um ‚Lügenpresse’ geht“, meint Sahlender. Daher sei neben einer guten Recherche auch wichtig, Einblicke in die Vorgehensweise zu geben, um Missverständnisse zu vermeiden. So zum Beispiel in einem Beitrag in der Main-Post über eine Frau, die durch einen ärztlichen Behandlungsfehler fast verstorben wäre. Das betroffene Krankenhaus war bewusst nicht genannt. „Jeder Leser fragt sich doch, warum. Man muss die Gründe für den Verzicht erklären.“ So wollte man die Klinik nicht aufgrund eines Einzelfalls generell anklagen und auch nicht in den beginnenden Rechtsstreit eingreifen. In seiner Kolumne klärte Sahlender die Hintergründe.8
Auf der anderen Seite produzieren Medien mitunter absichtlich Missverständnisse, wie auch Sahlender anprangert: Im Online-Auftritt der Main-Post entdeckt er regelmäßig Beiträge, die mit Reizworten in den Überschriften für hohe Leserzugriffe sorgen. Allerdings hält der Artikel nicht immer das, was die Überschrift suggeriert. Dies ist der perfekte Nährboden für weiteren Unmut. Vertrauen aufzubauen ist ein langer Prozess, ungleich schneller geht es jedoch verloren. Dabei ist gerade die Glaubwürdigkeit eine der wichtigsten Währungen der Medien.
Allerdings braucht auch Sahlender Fingerspitzengefühl, denn nicht jeder seiner Kollegen ist vom Leseranwalt begeistert. „Ich bin schon einigen auf die Nerven gegangen, was man mich auch hat wissen lassen“, sagt er und legt nach: „Ich würde mir nie anmaßen zu behaupten, Fakten würden nicht stimmen – schließlich habe ich die Recherchen nicht durchgeführt.“
Früher hat er häufiger Gespräche zwischen den Lesern und Redakteuren vermittelt, die nicht immer funktioniert haben. Schließlich müssen auch seine Kollegen mit Kritik umgehen können. „So manch einer zeigt wenig diplomatische Fähigkeiten, sobald Gespräche eine gewisse Schärfe aufweisen. Solche Auseinandersetzungen bekommt man nicht mehr in den Griff.“ Geht es jedoch um inhaltliche Fragen, die er nicht beantworten kann, bittet er auch heute noch den zuständigen Redakteur, sich beim Leser zu melden.
„Leser haben hohe Erwartungen, was jede Redaktion im Grunde ehren müsste. Mitunter kann man sie aber gar nicht erfüllen, wenn beispielsweise eine Recherche von einem zeitlichen Aufwand ist, der wenn überhaupt nur in Ausnahmefällen zu erbringen ist.“ Täglich muss sich die Redaktion entscheiden, in welche Geschichten sie Zeit, Personal und damit auch Geld investiert. „Man kann Lesern aber auch erklären, wo die Grenzen liegen.“
Im Gegenzug müssen Nutzer auch bereit sein, Medien beispielsweise mit dem Kauf von Zeitungen zu unterstützen. Wer eine Berichterstattung auf hohem journalistischen Niveau verlangt, muss wissen, dass es das nicht kostenlos gibt.
„Es ist unabdingbar, dass sich Medien verändern und auch Kosten einsparen müssen. Natürlich ist es nicht schön, wenn Stellen gestrichen und Mitarbeiter schlechter bezahlt werden.“ Zudem müssen Mitarbeiter oft immer mehr erledigen: Geschichten recherchieren und schreiben, Online-Beiträge mehrmals täglich aktualisieren, per Twitter und Facebook für Reichweite sorgen, sich noch um die Belange der Leser kümmern und vieles mehr. „Das ist einer der vielen Gründe, warum die Fehlerhäufigkeit in Zeitungen mitunter unerträglich ist.“
Auch für den Journalisten Daniel Bröckerhoff ist der Dialog das beste Mittel, um Vertrauen zurückzugewinnen. Es sei wie in einer Partnerschaft: „Wenn der eine dem anderen nicht mehr vertraut, kann man sich entweder ignorieren und nebeneinander her leben, sich trennen oder man redet miteinander und klärt die Situation auf. Hier lässt sich dann auch herausfinden, wie es zum Vertrauensverlust kam.“ Doch wie sieht es nun im Falle der Wahrheit aus? Können Medien die eine und für alle Menschen gleichermaßen gültige Wahrheit überhaupt abbilden? Oder anders gefragt: Wenn es eine Wahrheit gibt, wollen wir sie dann überhaupt hören? Bin ich bereit für Veränderung? Viel leichter, als sich im Denken zu wandeln, ist es doch, auf seinem Standpunkt zu beharren und alles, was diesen infrage stellt, anders zu interpretieren oder schlicht auszublenden.
„Das ist eine große Diskussion – wobei es darauf ankommt, wie man Wahrheit überhaupt definiert. Es gibt wahrscheinlich irgendwo eine universelle Wahrheit, die wir Menschen aber gar nicht wahrnehmen können. Wir sehen immer nur einen Ausschnitt und können auch nur den wiedergeben“, sagte Bröckerhoff im Interview.9 Zudem wird es auch schnell unbequem: „So hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit, wie auch ein Kämpfer des Islamischen Staats: Für ihn steht fest, sein Gott hat Gesetze erlassen, die alle Menschen auf der Erde befolgen müssen. Dies setzen die Kämpfer mit allen Mitteln durch. Diese Wahrheit gefällt mir nicht. In meinen Augen muss man sie kritisieren, aber zuvor muss ich sie leider so annehmen, wie sie ist.“ Und so folgt auch eine „schlechte“ Nachricht: „Die eine von Mediennutzern geforderte Wahrheit ist unmöglich zu erfassen. Wir Journalisten können nur so viele Wahrheiten wie möglich sammeln und sie gegenüberstellen. Auch Fakten sind mitunter schwierig, weil man sie unterschiedlich erheben und auswerten kann. In Syrien oder in der Ukraine ist die Lage zudem so verwirrend, dass man beispielsweise gar nicht mehr weiß, wer zuerst geschossen hat, wer involviert war und wer nicht. Natürlich wünscht man sich jemanden, der das alles aufklärt. Da es wohl aber niemand kann, sind Leser und Zuschauer mitunter frustriert. Wenn diese dann in den Berichten noch Fehler oder Tendenzen nur eine bestimmte Seite zu beleuchten entdecken, werden sie ungehalten.“
Für mich bleibt die Erkenntnis, dass wir Selbstkritik nicht nur in den Beiträgen diverser Branchenmagazine üben sollten, sondern verstärkt mit offenen Karten spielen müssen – Stichwort Transparenz. „Das ist genau das Paradoxe: Wir verlangen von anderen, dass sie uns hinter die Kulissen blicken lassen und selber wollen wir nichts preisgeben. Gerade was die Bereiche Sonderbeilagen von Zeitungen und Nähe zu Anzeigenkunden angeht, geben Verlage ungern Einblicke. Durch sie könnten Interessenskonflikte bekannt werden. Nicht alles wäre dann noch so sauber, wie man es nach außen propagiert“, sagte Bröckerhoff. Natürlich gefällt dem Ego die Aura des alles wissenden und unfehlbaren Journalisten. Aber wir sind Menschen und die können sich irren. Natürlich ist es mitunter schwer, öffentlich zu seinen Fehlern zu stehen. In unserer Gesellschaft ist das Scheitern viel zu oft Tabuthema. Dabei gehört es zum Leben dazu.
Im Umkehrschluss müssen einige Praktiken dringend auf den Prüfstand, da sie anfällig für kritische Fehler sind und damit die Diskussion um eine unfähige oder voreingenommene Presse nur befeuern. Zum Beispiel der Aktualitätsdruck in der Art „da müssen wir noch schnell unseren Senf dazu geben“, wie es der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ im März 2015 widerfahren ist, als in den französischen Alpen ein Flugzeug von Germanwings abgestürzt ist. „Die altehrwürdige Wochenzeitung ‚DIE ZEIT’ hatte sich auf andere Weise blamiert, weil sie an jenem Unglücks-Dienstag – das Flugzeug war um 10:41 Uhr zerschellt – kurz vor Redaktionsschluss noch schnell auf das Thema aufsprang. Die Absturzursache war noch völlig unklar, also tippten die Redakteure auf Sicherheitsmängel bei der Billigflug-Tochter der Lufthansa und schrieben fieberhaft eine suggestive Story mit dieser These zusammen, denn am Dienstagabend musste die Titelgeschichte schon in die Druckerei. ‚Absturz eines Mythos’ prangte dann an allen Kiosken auf der ersten Seite, zusammen mit einem blau-gelben Lufthansa-Kranich im Sinkflug, während die Weltöffentlichkeit inzwischen schon schlauer war. Absturz einer Wochenzeitung“, kommentiert der Medienwissenschaftler Dr. Uwe Krüger.10