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Einleitung

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Der Amerikaner Samuel Langhorne Clemens (1835–1910) reiste erstmals 1867 durch Europa. 1878 folgte eine weitere Reise und 1891 eine dritte. Sein letzter Aufenthalt sollte neun Jahre dauern und führte ihn samt Familie unter anderem für mehrere Wochen nach Berlin. Clemens reiste viel und ausgiebig. Er benutzte die regelmäßigen Transatlantikverbindungen zwischen Europa und Nordamerika und konnte problemlos mit der Eisenbahn innerhalb Europas weite Strecken zurücklegen. Gleichzeitig publizierte er in den USA, was ihm die weltweiten Postverbindungen zuverlässig ermöglichten.

Clemens war aber nicht nur ein weitgereister Mann, sondern auch jemand, der genau beobachtete und zugespitzt schrieb. Die deutsche Sprache beherrschte er zwar und hatte sie in gewisser Weise auch gern, doch er hatte oft seine liebe Mühe mit ihr. Dann machte er sich über ihre Wortungeheuer lustig, zusammengesetzte Nomen wie »Stadtverordnetenversammlungen« oder »Generalstaatsverordnetenversammlungen« erklärte er zu »alphabetischen Prozessionen«.1

Clemens, weit besser unter seinem Pseudonym Mark Twain bekannt, profitierte nicht nur von der engeren Vernetzung des atlantischen Raumes, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Realität wurde. Er bemerkte auch die unübersehbare Modernisierung in dieser Zeit, die für ihn gerade in Deutschland, namentlich in Berlin, offenkundig war: Er hielt es für die »neueste Stadt, die er je gesehen«2 habe, und meinte sogar, dass Chicago dagegen ehrwürdig wirke. Berlin werde zudem sehr gut, wenngleich ein wenig zu sehr, verwaltet. Bei aller Ironie wird deutlich, wie modern ihm die Stadt erschien.

Natürlich war Twain keineswegs der erste amerikanische Schriftsteller, der in Europa publizierte und über den Kontinent reiste. Aber seit den 1870er Jahren war dies einfacher, bequemer, schneller, billiger und zuverlässiger möglich als jemals zuvor. Gleichzeitig konnte er dank effizienter Kommunikationskanäle von Europa aus weiterhin in den USA publizieren und seine Angelegenheiten regeln. Seine Artikel erschienen parallel zu seinen Reisen in den USA, und sicherlich ließ er sich Geld von dort überweisen. Seit den 1870er Jahren wurden seine Werke auch ins Deutsche übersetzt, und mehrere deutsche Verlage brachten seine Erzählungen heraus, die auch als Fortsetzungsgeschichten in Zeitschriften erschienen.

Nicht nur als Reisender steht Twain exemplarisch für die guten Verbindungen, die im Übrigen innereuropäisch noch enger verwoben waren als über den Ozean. Der Schiffsverkehr über den Atlantik ist lediglich ein Aspekt der zunehmenden internationalen Vernetzung, die die Periode des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs prägte. Nicht die simple Tatsache, dass es Passagen zwischen Nordamerika und Europa gab, ist entscheidend – regelmäßiger Schiffsverkehr fand auch schon in den Jahrhunderten zuvor statt. Ausmaß, Frequenz und Geschwindigkeit wuchsen allerdings rasant. Bekanntermaßen stieg die Zahl der europäischen Auswanderer in Richtung Nordamerika ab den 1850er Jahren, also mit Einsetzen und Ausbau der Dampfschifffahrt, rapide von etwa 2,7 Millionen zwischen 1851 bis 1860 auf etwa 7,3 Millionen allein zwischen 1881 und 1890. Im Jahrzehnt von 1901 bis 1910 wanderten über 12,2 Millionen Menschen nach Amerika aus.

Das alles war nur machbar, weil es eine entsprechend ausgebaute Infrastruktur gab, zu der auch Kommunikationskanäle (Post- und Telegraphenverkehr) gehörten. Schließlich mussten die Menschen, die Europa verlassen wollten, zunächst die vergleichsweise wenigen Hafenstädte auf dem Alten Kontinent erreichen, sich dort registrieren lassen, untergebracht und durch die Behörden geschleust werden; in Deutschland waren das vor allem Bremen und Hamburg. Das ging in den geschilderten Dimensionen nur mit einem engmaschigen und leistungsfähigen Netzwerk, das zumindest grob mit den Abfahrtszeiten der Schiffe abgestimmt war.

Dabei waren Eisenbahn- und Kommunikationsnetz ursprünglich keineswegs zu diesem Zweck ausgebaut worden. Dass sie nun die Auswanderermengen bewältigen konnten (und im Übrigen auch die hohen Passagierzahlen in umgekehrter Richtung), hängt eher damit zusammen, dass der inner- und zwischenstaatliche Austausch auch abgesehen von der Auswanderung massiv zugenommen hatte. Die wachsende Mobilität von Personen, aber auch von Gütern und Informationen war ein prägendes Phänomen der Zeit. Diese allgemeine Mobilisierung war Teil der intensiven Vernetzung der Gesellschaft im neugegründeten Kaiserreich, die nicht nur jene betraf, die sich auf Reisen begaben, sondern auch jenen zugutekam, die ihren Geburtsort nie verließen – auch wenn deren Anteil ziemlich schrumpfte. Postdienste und Medien knüpften ebenfalls immer engere Bande zwischen dem Einzelnen und der Welt. Vernetzung, gerade durch technisch basierte Formen des Transports und der Kommunikation, ist ein Grundprozess der Modernisierung.

Dass die Zeit des Kaiserreichs mit einem erheblichen Modernisierungsschub zusammenfällt, ist in der Forschung unstrittig. Diese Dynamik erfasste das alltägliche Leben, die politische Ordnung, die Wirtschaft und die Kultur gleichermaßen. Verwissenschaftlichung und Technisierung gehören ebenso dazu wie der Ausbau von Verwaltung, Bildungseinrichtungen und Medien. Das erfolgte freilich nicht überall gleichzeitig und mit gleicher Intensität, lässt sich aber tatsächlich im globalen Maßstab nachweisen.

Modernisierung beschreibt eine tiefgreifende Transformation, die durch die Mobilisierung sowohl der Gesellschaft als auch von deren Ressourcen bewirkt wird. Aber ein solcher Prozess führt keineswegs automatisch zu Demokratisierung, größerer individueller Freiheit, Gleichberechtigung, Toleranz, gesünderen und hygienischeren Lebensverhältnissen. Ebenso wahrscheinlich ist, dass bewusste Abschottung (von sozialen Milieus bis hin zu nationaler Abgrenzung), ein Rückzug ins Kleinräumige, effektivere Kontrolle, Unterdrückung, Radikalisierung, Intoleranz und Umweltzerstörung daraus folgen. Dieses Janusgesicht von Modernisierungsprozessen hat die frühere Forschung zur Modernisierung oft ausgeblendet – stattdessen wurden die Entwicklungspfade der USA, Großbritanniens oder auch Frankreichs als Norm wahrgenommen, woraufhin man dem Kaiserreich Defizite nachsagte.

Hans-Ulrich Wehler hat dieses Argument in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte noch einmal verdichtet und vor allem der politischen Ordnung des Kaiserreichs ein fatales Modernisierungsdefizit attestiert, welches letztlich die katastrophale Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert ausgelöst habe.3 Wehler hat damit zwar immer noch an seiner Grundidee einer Fehlentwicklung im Modernisierungsprozess festgehalten, letztlich aber rückte auch bei ihm die Modernisierung an sich aus dem Fokus der Analyse. Stattdessen ging er von einer politischen Ursache für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus.

Generell wird in der historischen Forschung an der »Modernität« des Kaiserreichs eigentlich kein Zweifel mehr geäußert, vielmehr betonen GeschichtswissenschaftlerInnen, dass Modernisierung weder ein normativer Begriff sei noch einen »Normalweg« bezeichne, sondern eine globale Entwicklung, die spezifische Transformationsprozesse von Gesellschaften erfasse. Je nach Konstellation hätten Letztere aber unterschiedliche Konsequenzen gehabt.

Die Zeitgenossen im Kaiserreich dachten selbst darüber nach, wie sehr sich ihre Welt veränderte. Sie waren überzeugt, »dass sie modern seien oder dass sie in einer modernen Welt lebten, ob sie das mochten oder nicht«, wie es Christopher A. Bayly ausgedrückt hat.4 Diese Selbstreflexion begleitete die Entwicklungen. Tatsächlich wurden im Kaiserreich die Worte ›modern‹ und ›Moderne‹ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer häufiger verwendet. Die Konjunktur der Worte in gedruckten Texten lässt sich statistisch auswerten, und das verweist auf einen wichtigen Aspekt von Modernisierung: Printmedien wurden immer alltäglicher, und das hatte weitreichende Konsequenzen. Das gedruckte Wort erreicht nicht nur sehr viel mehr Menschen, es verbindet die Menschen auch untereinander.

Eine Voraussetzung jeglicher Modernisierungsprozesse, nicht zuletzt natürlich für die oben erwähnte Selbstreflexion, war die zunehmende Vernetzung der Gesellschaft durch bessere Kommunikationsmöglichkeiten. Nicht nur der Gedankenaustausch zwischen Individuen durch die Post, Telegraph und Telefon, sondern auch der Kontakt zwischen allen möglichen Druckerzeugnissen, vom Kalender über die Zeitung bis hin zur Enzyklopädie, und ihrer Leserschaft intensivierte sich. Gleichzeitig vervielfältigten sich die Möglichkeiten, Menschen und Dinge über weite Entfernungen zuverlässig und regelmäßig zu transportieren. Beides zusammen brachte Menschen, Güter und Ideen in bis dato unerhörtem Maß in Bewegung, es beschleunigte und intensivierte alle Austauschprozesse. Tatsächlich dürfte die außerordentliche Erweiterung direkter und indirekter (realer wie virtueller) Kontakte ein grundsätzlicher Baustein jeglicher Modernisierung sein. Zunehmende Vernetzung, ob nun gewollt oder nicht, war das Schicksal jedes Einzelnen.

In der Forschung zum Kaiserreich ist dies auch immer wahrgenommen worden. Allerdings haben sich die Geschichtswissenschaften vor allem für drei Ebenen interessiert: die wirtschaftliche, die soziokulturelle und die politische. Noch dazu wurden diese lange Zeit, teils ausschließlich, bezüglich ihrer Bedeutung für die »innere Nationsbildung« (Hans-Peter Ullmann) betrachtet. Die zunehmende Verflechtung von Wirtschaft, Kultur, sozialen Beziehungen und Politik über Ländergrenzen hinweg wurde zwar bemerkt, aber im Vergleich mit den Entwicklungen innerhalb des Kaiserreichs weniger beachtet.

Seit die Geschichtswissenschaft sich transnationalen und globalhistorischen Ansätzen geöffnet hat, hat sich ihr Fokus nachhaltig verschoben. Nun wird das Verhältnis zwischen Prozessen der Globalisierung, also der Vernetzung weit über die politischen Grenzen eines Staates hinaus, und der Nationalisierung neu untersucht, immer wieder mit Verweis auf die Bedeutung der sich rasch ändernden Verkehrs- und Kommunikationssysteme. Johannes Paulmann hat den Begriff einer »Kommunikations- und Verkehrsrevolution« geprägt, deren Konsequenzen für alle gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereiche er hervorhebt.

Bislang weniger untersucht ist, wie sich die Vernetzung auf lokale und regionale Verhältnisse auswirkte, die sich ja ebenfalls neu ausrichteten. Überhaupt spricht vieles dafür, dass die lokal organisierte Heimatbewegung gerade deswegen Zulauf erhielt, weil die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Dynamik den Blick für die Verhältnisse vor Ort schärfte. Nicht nur die Honoratioren in Kleinstädten und Dörfern stellten sich nun die Frage, wer man war und sein wollte. Es ging um nichts weniger als die Neubestimmung der eigenen Identität angesichts von Nationalisierung und Globalisierung. Obwohl ihre politisch-ideologische Ausrichtung oftmals traditionalistisch-konservativ mit einem Hang zum Chauvinistisch-Völkischen war, sind die Heimatbewegungen auch moderne Erscheinungen gewesen. Sie organisierten sich zeitgemäß und hatten Entwicklungen außerhalb Deutschlands im Blick.

Das Deutsche Kaiserreich war also eine Gesellschaft, die sich immer weiter verknüpfte, d. h. Beziehungen über immer weitere Entfernungen pflegte und intensivierte. Das fand auf mehreren Ebenen statt: erstens einer individuell geprägten, die persönliche Beziehungen betraf; zweitens einer kollektiven, in der Massenmedien eine entscheidende Rolle spielten, drittens einer administrativen, in Gestalt neuer Rechtsnormen und Standardisierungen (etwa von Zeit und Maßeinheiten), sowie viertens einer dinglichen, die infrastrukturelle Maßnahmen beinhaltete – wozu der Anschluss an Verkehrs- und Kommunikationsnetze ebenso gehörte wie die Anbindung an Ver- und Entsorgungsnetze. Kurz: »alles Stabile, das notwendig ist, um Mobilität und einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen zu ermöglichen«, wie es der Historiker Dirk van Laak ausdrückt.5

Diese vier Ebenen überschnitten einander, und insbesondere die »dinglich« genannte Vernetzung ist ohne administrative Begleitung kaum vorstellbar. Besagte Ebenen werde ich kurz aufzählen, um die Vielfalt der Verknüpfungen aufzuzeigen, die im Kaiserreich mehr oder weniger alle Menschen betrafen.

Eine besondere Form der Verflechtung ist die Nationsbildung in einem Staatsgebiet. Das ist eine zugegebenermaßen etwas eigentümliche Art, einen Nationalstaat zu bezeichnen, der von seinen Verfechtern ja als natürliche Gemeinschaft definiert wurde. Aber schließlich war das Kaiserreich nicht von selbst oder gar folgerichtig in der Form entstanden, in der es im Januar 1871 proklamiert wurde. Das Deutsche Kaiserreich legitimierte sich laut seiner Verfassung als »ewiger Bund« souveräner Staaten. Es war in keiner Weise natürlich zusammengewachsen, und tatsächlich hatten deutsche Staaten nur fünf Jahre zuvor, 1866, einander im preußisch-österreichischen Krieg noch feindlich gegenübergestanden. Thomas Nipperdeys oft gescholtener Satz »Am Anfang war Bismarck« verweist darauf, welche entscheidende Rolle der politischen Elite bei der Staatsgründung zukam. Zwar basierte das Kaiserreich auf bereits vorhandenen Strukturen (darunter Zollverein und Norddeutscher Bund) sowie einer zumeist bürgerlich geprägten Nationalbewegung, deren eigenes Modell eines Nationalstaats jedoch 1848/49 gescheitert war. Der Staat von 1871 war aber eben auch einer eher zufälligen politischen Konstellation geschuldet, die sich aus einer relativen Schwäche Österreich-Ungarns, dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich und dem Wohlwollen Großbritanniens und Russlands zusammensetzte.

Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) war nicht der Einzige, der diesen Akt als Ergebnis sowohl des Zufalls als auch des politischen Willens der herrschenden Elite sah. Mit Blick auf die Geschichtsschreibung zu Deutschland schrieb er 1872 an seinen Freund, den in Bruchsal lebenden Stadtdirektor Friedrich von Preen (1823–1898), dass es wohl nicht allzu lange dauern würde, bis »die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/71 orientiert« werden würde.6 Damit hob er hervor, wie viel speziell die Geschichtswissenschaft zur spezifischen nationalen Bewusstseinsbildung beitrug, und machte den konstruierten Charakter des deutschen Staatswesens von 1871 deutlich. Tatsächlich haben Historiker nach 1871 die Geschichte oft vom Standpunkt der Reichsgründung aus neu betrachtet und versucht, im Nachhinein eine zielgerichtete Entwicklung dorthin zu begründen. Auch wurde die deutsche Nation zunehmend mit dem Kaiserreich gleichgesetzt, obwohl anerkannt wurde, dass es auch zahlreiche Deutsche außerhalb seiner Grenzen gab. Das Bekenntnis zum Kaiserreich stabilisierte die bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Dieses Bekenntnis fußte aber nicht allein auf der Deutung der Geschichte, sondern bedurfte der An- und Einbindung der Menschen an und in den Staat. Und schon haben wir es wieder mit einem Prozess der Verflechtung und Vernetzung zu tun.

Die nationalstaatliche Gemeinschaft wurde zeitgenössisch durch sprachliche und kulturelle, zunehmend auch ethnische sowie historische Gemeinsamkeiten definiert, die sich idealerweise in einem politischen Gebilde als Staat ausdrückten; nur musste dies aktiv so kommuniziert werden und zumindest ansatzweise auch im Alltag spürbar sein, damit die Nation zusammenwuchs. Der Staat wurde zumeist als eine geschlossene geographische Einheit gedacht, die durch klare Grenzen definiert war. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert begriff man die Übereinstimmung von »Nation« und »Staat« als erstrebenswerte politische Ordnung, die gleichwohl überaus vielfältige Formen angenommen hatte. Eine Nation zu sein oder werden zu wollen kennzeichnete multi-ethnische Imperien ebenso wie kleine bis winzige Staaten.

Dementsprechend bestanden in Europa am Vorabend der Reichsgründung von 1871 sehr unterschiedliche Staatsgebilde. Zunächst gab es mehrsprachige und geographisch eher kleine Staaten wie die Schweiz, das Königreich Belgien oder das Großherzogtum Luxemburg. Dagegen erschienen Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, Portugal, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Griechenland eher als homogene Nationen – was aber keineswegs bedeutete, dass innerhalb dieser Staaten nicht zuweilen große sprachliche und/oder kulturelle Unterschiede bestanden. Letztere waren wiederum geradezu kennzeichnend für das Kaiserreich Österreich-Ungarn und schließlich sich weit über Europa hinaus erstreckende multi-ethnische und vielsprachige Gebilde wie das Osmanische oder das Russische Reich.

Gemeinsam war all diesen Staaten jedoch, dass sie sich historisch zu legitimieren suchten und sich administrativ möglichst klar von den anderen abgrenzten. Dazu gehörte die Grenzsicherung gegenüber Personen und Dingen ebenso wie angesichts neuer Ideen, wobei Letzteres überaus schwierig bis überhaupt nicht zu bewerkstelligen war. Ferner war zu definieren und rechtlich zu kodifizieren, wer Angehöriger des Staates war und wer nicht. Auch die Statistik, die im 19. Jahrhundert einen außerordentlichen Aufschwung nahm, orientierte sich an den Staatsgrenzen und fasste ihre Erkenntnisse stets für ein Staatsgebiet zusammen, differenziert nach administrativen Einheiten.

Rechts- und Wirtschaftsordnung schufen einen Binnenraum, der das Handeln der Bevölkerung rahmte und bestimmte. All dies signalisierte den Zeitgenossen die Eigenständigkeiten nationaler Entwicklungen und lud zu ständigen Vergleichen mit den Nachbarn ein. Bestimmend war der Blick durch die »nationale« Brille; ein Blick, der lange Zeit und teils bis in die Gegenwart auch die Geschichtswissenschaft bestimmte. Deutsche Geschichte zu schreiben bedeutete, eine Innenperspektive einzunehmen, und das hieß auch, dass man alle Entwicklungen, ob politisch, ökonomisch, sozial, wissenschaftlich oder kulturell, vornehmlich aus dieser Perspektive betrachtete. Einflüsse von »außen« nahm man zwar wahr, beschrieb sie aber kaum je als treibende oder entscheidende Faktoren. Das hatte durchaus seine Berechtigung, weil der Staat die Rahmenbedingungen setzte und sich die Bevölkerung innerhalb dieses Rahmens bewegte und handelte. Impulse von »außen« wurden von inländischen Akteuren verarbeitet und in Debatten eingespeist; nur auf diese Weise schlugen sie sich in den Quellen nieder. Diese scheinbar klare Trennung zwischen »innen« und »außen« ist bei näherer Betrachtung alles andere als zwingend, da vielfältige offene und unterschwellige, kurz- und langfristige Prozesse unauflöslich miteinander vermengt sind. Gerade unter der Bedingung zunehmend vernetzter Kommunikation sind durchgängig und ausschließlich lokale Lösungen von Problemen eher die Ausnahme als die Regel.

In den vergangenen Jahrzehnten sind transnationale und globale Perspektiven entstanden, die dieses Phänomen in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts zu Deutschland verdeutlichen. Verflechtungen sind nicht dadurch weniger relevant, dass sie über Staatsgrenzen hinausreichen. Wenn es um Ideen- oder Ideologiegeschichte geht, war das auch immer offensichtlich: Liberalismus, Konservatismus und Marxismus beispielsweise sind niemals rein nationale Phänomene gewesen, wenngleich sie unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen jeweils spezifische Ausprägungen und Konsequenzen hatten. Politische Bewegungen entfalten sich immer in einem internationalen Austausch.

Ebenso sind wirtschaftliche Verflechtungen unter den Bedingungen der Globalisierung überaus weitreichend – Weltmarktpreise für Agrarprodukte wirken auf exportorientierte Landwirte ebenso ein wie auf Kleinbauern und haben für alle Konsumenten Konsequenzen, selbst beim Einkauf auf dem örtlichen Wochenmarkt. Der Vorwärts rechnete z. B. 1900 vor: »Die Entwicklung der Preise [für Getreide] hängt auch in Deutschland von der Lage des Weltmarkts ab« und kritisierte nach längeren statistischen Betrachtungen zu Durchschnittspreisen auf wichtigen deutschen Getreidemärkten, dass die deutschen Getreidezölle (die es ab 1879 gab) »dem deutschen Brotverbraucher« stets unnötig hohe Preise bescheren würden.7

Das Deutsche Kaiserreich von 1871 ist dadurch gekennzeichnet, dass es durch den immensen Ausbau der Infrastruktur und die zunehmende Verfügbarkeit von Medien, kurz: die immer stärkere Vernetzung der Gesellschaft, immer weniger »autonom« blieb. D. h., es wurde von mehr oder weniger entfernten Prozessen abhängig, selbst wenn die Zeitgenossen das so nicht wahrnahmen. Das weitverbreitete nationale Konkurrenzdenken im Hinblick auf Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur unterstreicht das nur – denn Konkurrenz setzt ja voraus, dass man etwas über jene erfährt, mit denen man sich im Wettbewerb wähnt.

Bereits bestehende Verknüpfungen wurden ausgebaut; neue Möglichkeiten kamen hinzu. Netzwerke konnten tendenziell räumlich immer weitläufiger und in sich immer enger werden, so dass persönliche Kontakte intensiver gepflegt werden. Nicht zu unterschätzen sind jene Verbindungen, die sich aus den Medien ergaben. Mit der stetigen Ausweitung des Pressewesens und Buchhandels gelangten immer mehr Informationen aus der Ferne zum lesenden Publikum, das zugleich ein schauendes Publikum war, weil die Verbreitung von Bildern aller Art ebenfalls stetig zunahm. Darin liegt der Kern des 1983 von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson geprägten Begriffs der »vorgestellten Gemeinschaft« (imagined community). Eine solche kann nur existieren, weil Medien die ihr zugrunde liegenden Vorstellungen verbreiten. Anders ausgedrückt: Je weiter sich Medien verbreiten und je umfangreicher ihr Angebot wird, desto größere Gruppen können solche Vorstellungen teilen und mitgestalten. Allerdings entwerteten neue »vorgestellte Gemeinschaften« keineswegs die bestehenden, ebenso wenig verhinderten sie, dass parallel andere Gemeinschaften entstanden.

Konkret für das Deutsche Kaiserreich bedeutet dies, dass der neu entstandene Staat eben nicht die bestehenden Gemeinschaften ersetzte, sondern eine zusätzliche schuf – freilich eine, die besondere Loyalität forderte und die bestehenden überwölbte. Der Akt der Staatsgründung war erst der Beginn einer Entwicklung, die weder sofort noch konfliktfrei erfolgte. Auch war ja der neue Staat ausdrücklich als ein Bund souveräner Einzelstaaten nach dem Muster des Norddeutschen Bundes von 1867 und dessen Erweiterung 1870 gegründet worden. Wie damals blieben auch 1871 die jeweiligen Staatsangehörigkeiten erhalten, wenngleich diese von allen anderen Ländern des Kaiserreichs als gleichwertig zur eigenen Staatsangehörigkeit zu betrachten waren (Art. 3 der Verfassung). So war beispielsweise ein Hamburger Bürger einem preußischen Bürger gleichgestellt, blieb aber Hamburger Bürger, sofern er sich nicht entschloss, die preußische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Deren Erwerb war unter der Voraussetzung, dass er für sich selber sorgen konnte, allerdings relativ problemlos möglich. Im Übrigen galt das formal gesehen auch für Nicht-Deutsche; die Kenntnis deutscher Sprache und Kultur wurde von Einwanderern nicht gefordert, lediglich die Fähigkeit zur Selbstversorgung und Unbescholtenheit. Das schloss freilich Diskriminierungen aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen nicht aus. Eine reichsunmittelbare Staatsangehörigkeit, die nicht unmittelbar an einen Wohnsitz in einem der Bundesstaaten geknüpft war, wurde erst mit der Novellierung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes 1913 eingeführt. Staatsangehörigkeiten stellen einen besonderen Fall von Vernetzung dar und sind zunächst ›nur‹ eine Einbindung in einen übergeordneten rechtlichen Raum, der einerseits durch international anerkannte Staatsgrenzen und andererseits durch Zugehörigkeit definiert ist.

Da Menschen immer nur begrenzte Ressourcen haben, müssen sie wählen, welche der zur Verfügung stehenden Vernetzungsmöglichkeiten sie nutzen. Manche sind allerdings unvermeidlich, da sie keiner Zustimmung des Einzelnen bedürfen: Unter der Voraussetzung, dass die Person vor Ort bleibt, wird ihr die Einbeziehung in den neuen Staat, der Anschluss an Infrastruktur und Kommunikationsnetze, der Zugang zu Ver- und Entsorgung (Gas, Wasser, Müll) usw. automatisch zuteil. Andere Netzwerke werden bewusst – teils auch unter sozialem Druck – gewählt, etwa Vereine, Parteien oder Gewerkschaften. Andere Vernetzungsmöglichkeiten sind womöglich aufgrund mangelnder Geld- und Zeitmittel nicht wählbar.

Angesichts der großen Vereinsfreudigkeit der Zeit waren zahllose Mitgliedschaften einer einzelnen Person keine Seltenheit. Auch im Arbeitermilieu finden sich solche multiplen Mitgliedschaften. So konnte ein Arbeiter natürlich Mitglied der SPD, einer Gewerkschaft, eines Arbeiter-Bildungsvereins, eines Arbeiter-Rudervereins und eines Arbeiter-Gesangsvereins sein. Das dürfte neben Arbeit und Familie seine Freizeit weitgehend ausgefüllt haben. Das Beispiel verdeutlicht gleichzeitig ein weniger auffälliges Phänomen: Zunehmende Vernetzung bedeutet mitunter eine tiefere Verankerung in einem bestimmten Milieu, sie bringt somit auch eine Abschottung nach außen mit sich. Da ferner viele der verfügbaren Medien auf einzelne politische und soziale Milieus zugeschnitten waren, konnten sich gesellschaftliche Blasen bilden, innerhalb derer bestimmte Überzeugungen, Lebens- und Denkweisen verabsolutiert wurden. Der Umstand, dass sich die Milieus oft sozial voneinander abgrenzten, erklärt, weshalb sich immer radikalere Interessenvertretungen und eine Intoleranz gegenüber anderen Vorstellungs- und Lebenswelten herausbilden konnten. Das hat die einschlägige historische Forschung gerade für die Zeit ab den 1880/90er Jahren immer wieder festgestellt. Da dies sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Globalisierung gerade der Medien vollzog, waren viele davon überzeugt, sie verdankten ihre eigene Sichtweise umfassenden Kenntnissen der Welt. Mit anderen Worten: Vermehrte Vernetzung kann eine Homogenisierung nach innen und eine Abgrenzung nach außen fördern.

In diesem Buch will ich jedoch keine neue Geschichte des Kaiserreichs vorstellen, sondern exemplarisch dessen zunehmende Vernetzung betrachten. Dazu ist es häufig notwendig, auf Statistiken zurückzugreifen und mit Zahlen zu jonglieren, die massenweise von den Zeitgenossen erhoben wurden. Wie bei allen statistischen Angaben gilt es, die teils erheblichen Fehlerquoten stets zu berücksichtigen und sich darüber im Klaren zu sein, dass Durchschnitts- oder Globalwerte immer große Differenzen verschleiern, die sich lokal, regional und auch individuell dahinter verbergen. Aber eine rein qualitative Darstellung der Vernetzungen über mehr als vier Jahrzehnte ist schwerlich möglich. Vielmehr steht die Gesamtgesellschaft im Zentrum meiner Aufmerksamkeit, sowohl was Potentiale der inneren Vernetzung als auch was die Verflechtung über Staatsgrenzen hinweg betrifft.

Das Buch ist auch kein Versuch, einen netzwerkanalytischen Zugriff auf die Epoche von 1871 bis 1914 vorzustellen. Mein Blick richtet sich auf die Voraussetzungen des Netzwerks, d. h. die massive Veränderung der Infrastruktur und der Kommunikationsmittel. Sie bestand nicht allein im Ausbau – wie anhand der Eisenbahn (deren Streckennetz zwischen 1871 und 1914 von knapp 20 000 auf über 62 000 Kilometer wuchs) schon oft beschrieben wurde –, sondern auch in der Verbilligung, Verdichtung und Beschleunigung vorhandener Verbindungsmöglichkeiten. Das Gleiche gilt für die immer effektivere Post, die 1881 insgesamt 1,4 Milliarden, 1913 aber schon über 10 Milliarden Sendungen statistisch erfasste. Pro Kopf und Jahr ist das eine Steigerung von 30 auf über 150 Sendungen. Der immens zunehmende Briefverkehr verweist zudem darauf, wie viele Menschen im Kaiserreich lesen und schreiben konnten. Der Alphabetisierungsgrad hatte schon 1870 nahe 90 Prozent gelegen und rückte bis 1914 dicht an die 100 Prozent heran. Überhaupt sind Lesefähigkeit und Bildung wichtige Voraussetzungen dafür, sich in einer vernetzten Gesellschaft zurechtzufinden und deren Möglichkeiten auch aktiv auszuschöpfen.

Das Kaiserreich erlebte eine Reihe bedeutsamer Harmonisierungsprozesse, die teils nach innen gerichtet waren, teils aber auch auf internationale Vereinbarungen zurückgingen. Viele dieser Standardisierungen betrafen technische Maßeinheiten: Das metrische System war vom Norddeutschen Bund 1868 eingeführt worden und wurde mit der Reichsverfassung von 1871 auf den gesamten neuen Staat ausgedehnt. Meter, Kilogramm und Liter – deren Ursprung in der Französischen Revolution liegt – wurden nun verbindliche Messgrößen, die für Wissenschaft, Technik und Handel wichtig waren und es bis heute sind. Um die Vergleichbarkeit und Sicherheit von Maßangaben zu gewähren, mussten Messinstrumente geeicht werden, wofür im Kaiserreich staatliche Stellen zuständig waren. Regionale Gewichtseinheiten blieben zwar noch im Alltagsgebrauch gängig, wurden jedoch auch in metrischen Äquivalenten ausdrückbar; damit konnte man wesentlich einfacher überregionale Vergleiche anstellen.

Nationale Regelungen, wie die Vereinheitlichung von Maßen, waren maßgeblich durch internationale Übereinkommen angestoßen worden. Und staatenübergreifend wurden sie auch fortentwickelt, wie etwa auf der Internationalen Meterkonvention (Convention internationale du mètre) 1875 in Paris. Alternative Systeme blieben zwar bestehen, wie das englische und das russische, verloren aber global an Boden.

Eine weitere Standardisierung betraf die Zeit. Wenngleich Sekunde, Minute und Stunde schon lange die global vorherrschende Zeiteinteilung waren (jedenfalls dort, wo Europäer und Amerikaner großen Einfluss besaßen), waren die Zeitrechnungen der einzelnen Regionen noch nicht aufeinander abgestimmt. Für die Fahrpläne von Fernzügen war allerdings eine einheitliche Bestimmung der Zeit vonnöten. Solche einheitlichen Zeiten wurden oft als »Eisenbahnzeit« eingeführt und wichen von der Ortszeit teils noch erheblich ab. Während die Ortszeiten sich anhand des Sonnenumlaufs bestimmten, setzte die Eisenbahnzeit (später die »Einheitszeit«) für ein Staatsgebiet bzw. größere geographische Region eine mittlere Zeit fest, die dann überall gleichermaßen galt.

Die Grundlage bildete eine Vereinbarung, die auf einen Vorstoß der nordamerikanischen Eisenbahngesellschaften zurückgeführt werden kann. Auf einer internationalen Konferenz 1884 in Washington wurde eine geographische Einteilung des Globus in 24 Zeitzonen in Ausdehnung von je 15 Längengraden vorgeschlagen. Dabei sollte der Längengrad von Greenwich bei London als Anfangslinie dienen, wie es in der Schifffahrt schon länger üblich war. Je 7 ½ Grad westlich wie östlich davon sollte eine einheitliche Zeit gelten.

Diese Vereinbarung wurde im Kaiserreich mit Inkrafttreten des Gesetzes betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung am 1. April 1893 verbindlich und schloss auch jene Gebiete innerhalb der Staatsgrenzen mit ein, die eigentlich außerhalb der Zeitzone zwischen 7°30' und 22°30' östlicher Länge lagen – das betraf eine Reihe von Städten im Westen, unter anderem Aachen, Köln und Straßburg. Nun galt zwischen Aachen und Memel die gleiche Uhrzeit, die Mitteleuropäische Zeit (MEZ).

Maße, Gewichte, Währung, Zeit wurden vereinheitlicht und harmonisiert. Zeit und Währung waren zwar primär innerhalb des Kaiserreichs homogenisiert, fügten sich aber doch in eine europäische und tendenziell globale Ordnung ein. Maßeinheiten wie Meter und Kilogramm sowie die davon abgeleiteten Größen – wie später auch andere physikalische und chemische Einheiten – entsprangen hingegen transnational ausgehandelten Regelungen, die freilich europäisch-amerikanisch dominiert waren. Sie vereinfachten den wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Austausch, erleichterten Vergleiche und sind sowohl Ausdruck als auch Antrieb der Vernetzung.

Diese Wirkung blieb nicht nur auf Expertengruppen beschränkt, sondern griff auch stark in den Alltag aller Menschen ein. Zwischen 1871 und 1875 musste sich die Bevölkerung des Kaiserreichs auf Mark und Pfennig als alleinige Geldeinheiten umstellen. Vertrauten Maßangaben wie Pfund (500 Gramm), Scheffel (50 Liter), Kanne (1 Liter), Schoppen (0,5 Liter) oder Zentner (50 Kilogramm) wurden metrische Definitionen ›untergeschoben‹, so dass der Sprachgebrauch zwar unverändert bleiben konnte, die Angabe aber eine überall gleiche Größe bezeichnete. 1893 schließlich mussten auch die Uhren umgestellt werden.

Diese Veränderungen erfolgten oft recht reibungsarm und hatten den Vorteil, dass sich das Kilo Kartoffeln nun überall gleich bemaß, zwei Meter Stoff überall die gleiche Länge hatten, der Preis sich in leicht vergleichbaren Mark und Pfennig ausdrückte und es 12 Uhr Mittag eben in Aachen und Memel zur gleichen Zeit schlug. All diese Vereinheitlichungen ließen den Nationalstaat enger zusammenwachsen, banden ihn aber auch in eine transnationale Ordnung ein.

Gleichzeitig nahm die Verfügbarkeit von Medien nicht nur zu, sondern diese umfassten bald auch weit mehr als nur gedruckte Schriften. In den 1910er Jahren hatte die Bevölkerung Zugang zu allen möglichen Bildformen, Tonaufzeichnungen und Filmen. Die Medien übermittelten ein unübersehbares Angebot an Information und Unterhaltung; oder anders ausgedrückt: Von kostbaren lateinischen Bibeldrucken bis hin zu pornographischen Postkarten gab es nun alles. Ob Politik, Vereine, Lobbyorganisationen oder Unternehmen – sie erreichten mittels Medien ihre »Zielgruppen«, wie man es heute ausdrücken würde. Nur so konnten sich Menschen effektiv, dauerhaft und auch über große Entfernungen hinweg organisieren.

In den folgenden Kapiteln möchte ich zunächst die räumlichen Grundlagen darstellen, da das Kaiserreich als zentraler mitteleuropäischer Staat über sehr viele Nachbarstaaten verfügte. Das bedeutete auch, dass es breite »Kontaktzonen« mit den Nachbarn gab. Die vergleichsweise sehr offenen Grenzen erlaubten einen intensiven Austausch. Daraufhin befasse ich mich mit dem Ausbau der Infrastruktur, dem Verkehrs- und Kommunikationswesen, sowohl im Hinblick auf transnationale Verbindungen als auch auf die nationale Verdichtung. Den Medien, die eine so wichtige Rolle in allen Vernetzungsprozessen spielen, gehört das anschließende Kapitel. Das Augenmerk liegt dabei vor allem auf den technisch basierten Massenmedien, vom Buchdruck bis hin zu Tonaufzeichnung und Film.

Der politische Wille war für die Grenzziehung des Kaiserreichs verantwortlich gewesen, aber damit gab es noch lange kein Bewusstsein für dieses neue Deutschland, welches ja letztlich ohne historisches Beispiel war. Gleichzeitig mit der Integration im Inneren erfolgte aber auch eine Internationalisierung, die zunächst langsam in Gang kam, dann aber nach 1880 zunehmend dynamisch wurde. Die Nationalbewegung in Deutschland, die 1871 bereits mehrere Generationen alt war, musste und wollte sich der politischen Realität anpassen. Was aber geschah mit den alten regionalen Identitäten? Überhaupt stellte sich die Frage, wo der Einzelne im großen Gefüge stand. Daher werde ich neben der Nationalbewegung die gleichzeitig florierende Heimatbewegung betrachten. Beide kamen – kaum überraschend – ohne moderne Medien nicht aus, um sich zu organisieren und ihre Ideenwelt zu verbreiten. Das fünfte Kapitel betrifft den Kolonialismus und die imperialen Ansprüche des Kaiserreichs, die beide zwar dazu dienen sollten, die nationale Souveränität auf überseeische Territorien auszudehnen, damit aber keinen erweiterten Nationalstaat schufen. Vielmehr wurden auf allzu oft gewalttätige Weise Gebiete in das europäisch dominierte System von Handel und Politik gezwungen, die sich ihm wohl kaum freiwillig und zu diesen Bedingungen und diesem Zeitpunkt angeschlossen hätten.

Anschließend möchte ich anhand zweier Beispiele die Vernetzung von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie deren Effekte aufzeigen. Die zunehmend vernetzt agierende Polizei und die Frauenbewegung werde ich ausführlicher beschreiben; eine zugegeben etwas willkürliche Auswahl. Ich will aber damit veranschaulichen, dass ein staatlicher Apparat, der wie kaum ein anderer (mit Ausnahme des Militärs) als allein innenpolitisch bestimmt erscheint, ebenso nach »außen« vernetzt war wie eine soziale und politische Emanzipationsbewegung, die ohnehin sehr starke Impulse durch ihre grundsätzlich internationale Ausrichtung erhielt.

Wenngleich die Tatsache massiv zunehmender Vernetzung (und Verdichtung) sich sowohl innerhalb der Grenzen des Staates zeigte, ja, ihn als Nationalstaat erst »erlebbar« machte, als auch transnational bis global niederschlug, dürfen wir das Phänomen nicht einseitig betrachten. Vernetzung erfolgte keineswegs immer allgemein und transnational mit Tendenz zur Globalisierung; sie konnte auch dazu dienen, dass man sich explizit von einem wie auch immer definierten »Außen« abschloss. Gleichermaßen konnte sie den Bürgern Sorgen machen, indem sie den Einzelnen noch unscheinbarer und unsouveräner erscheinen ließ, als er oder sie sich gegenüber dem letztlich anonymen Staat ohnehin fühlte.

Das Fremde rückte durch die Vernetzung dichter heran, ohne dass das übermittelte Wissen seine Fremdheit abzumildern vermochte oder automatisch mehr Toleranz nahelegte. Das Gegenteil konnte die Folge sein – das ließ sich auch im Kaiserreich beobachten. Radikaler Nationalismus sowie Rassismus grassierten gerade ab den 1890er Jahren, und das lag wohl auch und gerade an der gewachsenen Verflechtung des Kaiserreichs mit der Welt. Hinzu kam die Vorstellung, dass sich Nationen und Völker in einer scharfen und tendenziell gewaltsamen Konkurrenz miteinander befänden. Angesichts dessen hatten es Vorstellungen eines friedlichen Wettbewerbs, dessen Ergebnisse letztlich allen zugutekämen, wesentlich schwerer. Dementsprechend blieb auch die Friedensbewegung, die an sich immer international gewesen war, eine Minderheitenangelegenheit im Kaiserreich und anderswo.

Das vernetzte Kaiserreich

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