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Bevölkerungswachstum, Verstädterung und soziale Dynamik

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Mit den Angaben zu den Wahlkreisen sind bereits die Bevölkerung und deren Entwicklung angesprochen, auf die ich nun etwas vertiefter eingehe. Nicht nur aus der Forschungsperspektive, auch für die Zeitgenossen war das ein wichtiges Thema: Kein Lexikon, keine Staatenbeschreibung aus jener Epoche kommt ohne Hinweise auf die Bevölkerungsentwicklung aus.

Teils wurde die Dynamik der eigenen Gesellschaft zeitgenössisch daran gemessen, teils die relative Schwäche eines anderen Landes damit begründet. Im Kaiserreich nahm man stets mit einer gewissen Befriedigung wahr, dass die französische Bevölkerungszahl mehr oder weniger stagnierte, während die eigene numerische Überlegenheit jährlich wuchs. Um 1870 besaß Frankreich etwa 36 Millionen Einwohner, bei einem Staatsgebiet, das nur unwesentlich kleiner war als das deutsche. Die Wachstumsrate betrug dort im Schnitt 0,16 Prozent jährlich (1860–1910), so dass es 1914 etwa 40 Millionen Einwohner zählte.

Die Bevölkerung im Kaiserreich dagegen wuchs jedes Jahr um etwa ein Prozent, und so lebten 1914 bereits etwa 65 Millionen Menschen in Deutschland. Im Durchschnitt waren das 1871 etwa 80 bzw. 1913 rund 126 Einwohner je Quadratkilometer – allerdings lebten die Menschen sehr ungleich verteilt. Bei den Flächenstaaten erreichte Mecklenburg-Strelitz 1871 gerade einmal eine Bevölkerungsdichte von knapp 33 Einwohnern je Quadratkilometer, in Sachsen waren es hingegen schon 170. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten dieselben Bundesstaaten die rote Laterne bzw. die Spitzenposition inne, dann aber bereits mit 36 bzw. 320 Einwohnern pro Quadratkilometer.20

Warum wuchs die Bevölkerung im Kaiserreich? Und wie verteilte sich diese Bevölkerung auf die Fläche? Bevölkerungen wachsen dann, wenn es – banal ausgedrückt – einerseits übers Jahr gerechnet mehr Geburten als Sterbefälle gibt und andererseits nicht mehr Personen ein Erfassungsgebiet verlassen als zuwandern. Für den gesamten Zeitraum von 1871 bis 1914 gilt die magere Tatsache eines Nettogewinns, während sich die Bevölkerungsverteilung auf der Fläche massiv räumlich veränderte.

Schauen wir uns zunächst die natürliche Bevölkerungsbewegung an. Sie lässt sich in zwei Aspekte gliedern: erstens die Fertilität (also Geburtenentwicklung) und zweitens die Mortalität (also Sterbeentwicklung). Das Bevölkerungswachstum verdankte sich einer abnehmenden Säuglings- und Kindersterblichkeit, aber auch einer abnehmenden Mortalität, d. h., die Menschen starben weniger (früh) an Krankheiten und wurden zunehmend älter. In Zahlen: Die Sterberate sank von 28,3 pro mille (1866–70) auf 16,3 (1909–13) – gegenwärtig liegt sie bei etwa 10 pro mille.

Die Geburtenrate lag 1871 bei 38,5 pro mille und erreichte 1876 einen Höhepunkt von 40,9. Danach sank sie langsam ab und erreichte schließlich 28,6 im Zeitraum 1909–13. Damit gemeint sind im Übrigen nicht die Geburten insgesamt, sondern lediglich die Lebendgeborenen. Es gab jedenfalls zwischen 1871 und 1914 nicht ein Jahr, in dem kein Geburtenüberschuss zu verzeichnen war – dieser schwankte allerdings jährlich. 1871 lag er auf seinem niedrigsten Niveau, um die Jahrhundertwende erreichte er seinen Höchststand.

Die Wachstumsraten lagen zumeist bei über einem Prozent, am höchsten im Jahrzehnt 1896–1905, am niedrigsten im Jahrzehnt 1871–80. Diese statistischen Durchschnittszahlen gilt es etwas aufzuschlüsseln, und zwar nach Regionen und sozialer Herkunft. Interessante Unterschiede finden wir beim Heiratsalter. Das ist deswegen bedeutsam, weil für die wirtschaftliche Situation und den sozialen Status einer Person eine eheliche Geburt wichtig und damit von erheblicher Bedeutung war.

Die hohen Unehelichkeitsquoten der früheren Jahrzehnte nahmen zwar ab,21 doch die Ehen wurden eher spät geschlossen: In den Städten waren die Männer bei ihrer Hochzeit im Schnitt 29 Jahre alt, die Frauen 25,7. Auf dem Land lagen die Heiratsalter bei 27 und 24,5 Jahren. Auch dort gab es aber größere Unterschiede. Gut gebildete Männer heirateten erst jenseits der 30 Jahre, und unter den Frauen traten die Lehrerinnen erst mit durchschnittlich 29 Jahren in eine Ehe ein. Der Lehrberuf gehörte zu den wenigen Berufen mit einer längeren Ausbildung, die Frauen offenstanden und für bürgerliche Frauen als »standesgemäß« gelten konnten. Frauen, die diesen Beruf ergriffen, riskierten durch die Eheschließung zudem, ihre Tätigkeit aufgeben zu müssen. Diese Faktoren zusammengenommen erklären das vergleichsweise hohe Heiratsalter von Lehrerinnen.

Das Alter der Eheleute wirkte sich naturgemäß auf die Kinderzahl aus; späte Heiraten führten dazu, dass die Kinderzahl innerhalb der Ehen sank. Das bemerkten auch die Zeitgenossen. So stieg zwar der Geburtenüberschuss – da die Kindersterblichkeit aus medizinischen, hygienischen und ernährungsphysiologischen Gründen zurückging –, gleichzeitig aber sank die Zahl der Geburten pro Frau: Auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 kamen 1890/91 noch 163 Geburten, diese Zahl sank aber bis 1912/13 auf 117. Auch diesbezüglich gab es ein Land-Stadt Gefälle. Dazu kamen konfessionelle Unterschiede: In katholischen Gebieten wurden mehr Kinder geboren als in protestantischen, obschon die Zahl dort später auch abnahm. Dieses Muster zeigte sich generell in Europa. In eher protestantischen, urbanisierten Gesellschaften setzte sich individuelle Geburtenkontrolle früher durch, da der Erziehung des einzelnen Kindes mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man investierte mehr in die Erziehung und Ausbildung der Kinder, und das Familienideal verschob sich hin zu kleineren Familien. Insgesamt handelt es sich um ein hochkomplexes vielfältiges Phänomen, das an dieser Stelle nur ansatzweise erklärt werden kann. Grob ist jedenfalls erkennbar, dass in ländlichen katholischen Gebieten die Geburten- und Sterbeziffern später sanken als in urbanen, protestantischen Räumen. Es existierte auch ein Ost-West- und ein Süd-Nord-Gefälle.

Für eine Reihe von Zeitgenossen waren dies alarmierende Anzeichen einer sich verändernden Gesellschaft, denn man fand, dass sich die Bürger, d. h. diejenigen, die sich für die Stütze des Kaiserreichs hielten, zu wenig reproduzierten, wohingegen Arme – darunter Arbeiter (potentielle Sozialisten also) – im Vergleich zu viele Kinder bekämen. Dem Rückgrat des Staates, der protestantisch-bürgerlichen Schicht, machte zudem Sorgen, dass Katholiken mehr Kinder hatten. Auf sehr lange Sicht schien dies die protestantische Dominanz zu gefährden. Neben der »Rückständigkeit« von Landvolk und Katholiken allgemein wurde die Großstadt als »Schuldige« am bürgerlichen Geburtenrückgang identifiziert. Und das war deswegen für die Zeitgenossen besonders bedenklich, weil die Urbanisierung im Kaiserreich rasch voranschritt.

Zusammengefasst ergibt sich für die natürliche Bevölkerungsentwicklung das Bild einer steten Zunahme, die in erster Linie der abnehmenden Säuglingssterblichkeit zuzurechnen ist, in zweiter Linie einer sinkenden Sterbeziffer (die Leute waren gesünder und lebten länger als früher). Interessanterweise waren zwar eine sinkende Geburtenrate und Fruchtbarkeitsziffer je Frau zu verzeichnen, da es aber insgesamt mehr Menschen gab, die länger lebten, blieb das Wachstum der Bevölkerung erhalten. Bevölkerungszunahme bedeutet aber auch immer, dass die Gesellschaft insgesamt relativ jung war; zur Zeit des Kaiserreichs waren immer über 40 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt.

Damit sind wir bei der räumlichen Bevölkerungsbewegung und können uns der Binnen-, Fern- und Auswanderung widmen. Die Menschen im Kaiserreich waren – freiwillig oder gezwungenermaßen – erstaunlich mobil. Viele blieben teils nur saisonal an einem Ort, zogen häufig um, bewegten sich vom Dorf in die Stadt und umgekehrt. Auch ein bemerkenswert großer Teil der Auswanderer kehrte wieder zurück ins Kaiserreich; aus den USA soll die Heimkehrerquote bis zu 20 Prozent betragen haben. Das alles hat die zeitgenössische Statistik sorgfältig erfasst, wenngleich unter den national zusammengerechneten Werten die großen lokalen und regionalen Unterschiede ebenso verschwinden wie die sozialen Zuordnungen.

Die Mehrheit der mobilen Personen gehörte den Unterschichten an; sehr viele jüngere Männer wechselten häufig ihren Wohn- und Arbeitsort. »Die Folge dieser riesenhaften Mobilisierung war, dass im Jahr 1907 die Hälfte der Deutschen nicht mehr an ihrem Geburtsort lebten, und ein Drittel außerhalb ihres [Bundes-]Staates oder ihrer Provinz«, hat der Historiker Thomas Mergel errechnet.22 Aus der Mobilität folgte jedoch nicht notwendig die endgültige Loslösung vom Herkunftsort oder der Familie – die saisonale Wanderung und die Rückkehrer deuten das schon an. Unter den verkehrs- und kommunikationstechnischen Bedingungen des Kaiserreichs (kurz: Eisenbahn und Post) konnten Beziehungen auch über längere Entfernungen und dauerhaft aufrechterhalten werden.

Dass sich die Verteilung der Bevölkerung in den 40 Jahren des Kaiserreichs erheblich veränderte, haben wir anhand der Wahlkreise schon gesehen. Als sichtbarstes Phänomen kann die zunehmende Verstädterung der Bevölkerung gelten. 1871 lebte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung noch auf dem Land, im Dorf oder in sehr kleinen Städten. Die zeitgenössischen Statistiker zogen die Grenze zur »Stadt« bei 2000 Einwohnern. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte sich das Verhältnis fast umgekehrt. Nun lebten 60 Prozent der Menschen in Städten mit über 2000 Bewohnern.

Den Begrenzungen bezüglich der Einwohnerzahl ebenso wie bezüglich der Definition dessen, was »Stadt« meint, muss natürlich Rechnung getragen werden. Es macht sicherlich wenig aus, ob man nun in einer »Stadt« mit 2500 Einwohnern oder in einem »Dorf« mit 1950 Einwohnern lebt. Entscheidend waren die Funktionen eines Ortes und seine Anbindung an die Infrastruktur. Und ein »Dorf« am Rande einer Großstadt hatte wenig mit einem Dorf gemeinsam, das Dutzende Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt lag.

Der Prozess der Verstädterung ist eindeutiger, wenn man die Orte betrachtet, die als Großstädte bezeichnet werden. In solchen Städten mit 100 000 und mehr Einwohnern lebten 1871 nur knapp 5 Prozent der Deutschen, 1910 waren es bereits über 21 Prozent. Großstädte gab es zu Beginn des Betrachtungszeitraums ganze acht; am Ende waren es 48. Die bevölkerungsreichsten blieben allerdings jene, die bereits zu Beginn am größten waren: Berlin und Hamburg. 1871 folgten Breslau, Dresden, München; 1910 lautete die Reihenfolge München, Leipzig und Dresden. Auffällig ist ferner, dass Agglomerationen entstanden, also Ballungsräume mit dicht beieinanderliegenden (Groß-)Städten. Besonders sichtbar wurde das im Rhein-Ruhr-Gebiet, aber auch die Regionen um Berlin oder Hamburg, das Rhein-Main-Gebiet, Sachsen und das westliche Schlesien verstädterten zusehends.

Wie insgesamt in der Bevölkerungsentwicklung ist auch bei der Urbanisierung ein Ost-West-Unterschied auszumachen. Der Osten blieb ländlicher, besaß weniger Agglomerationsräume, und die Wege vom Dorf in die Stadt waren länger (mit Ausnahmen, versteht sich, z. B. Oberschlesien).

Die Städte wuchsen vor allem, weil sie Wanderungsgewinner waren – Migration führte am Ende häufig in die Stadt, da es dort mehr Arbeit gab und die Löhne höher ausfallen konnten. Ein weiterer und oft sehr gewichtiger Grund war verwaltungstechnischer Art: Eingemeindungen führten zu schlagartigem Wachstum. In Köln kamen z. B. in den Jahren 1888, 1910 und 1914 oder in Dresden 1897, 1902 und 1903 neue Stadtteile hinzu – das war typisch für alle Großstädte. Daher war der Ausbau der regionalen und städtischen Infrastruktur bedeutsam. Die Urbanisierung wurde damit unübersehbar. Jeder konnte sie im Alltag beobachten oder war selbst Teil davon.

Die Mobilität der Deutschen äußerte sich auch in häufigen Wohnungswechseln. Das zeigen beispielsweise hohe Umzugszahlen innerhalb von Städten. Die Familie des damals recht bekannten Schriftstellers Julius Lohmeyer (1835–1903), der aus dem schlesischen Neisse stammte, zog zwischen 1880 und 1903 acht Mal innerhalb des Großraums Berlin um. Noch häufiger zogen alleinstehende junge Männer und generell Angehörige der Unterschichten um; besonders in den schnell wachsenden Städten fehlte es überall an Wohnraum, und die Wohnverhältnisse waren mehr als beengt.

Städte waren Laboratorien des Zusammenlebens. In ihnen ergaben sich zahlreiche neue Möglichkeiten. Das betraf nicht allein die Aussicht auf Arbeitsplätze oder Ausbildungsmöglichkeiten und zivilgesellschaftliches Engagement – etwa in Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen. Die Kommunen bemühten sich auch oft um bessere Lebensbedingungen und mehr Komfort im Alltag. Sie sorgten für zentrale Gas- und Wasserversorgungen, organisierten die Abfall- und Abwasserbeseitigung, verminderten die Staubentwicklung durch Besprengung der Straßen mit Wasser oder installierten Straßenlaternen. Auch boten Städte ein breiteres kulturelles Angebot, in dem für jeden Geldbeutel etwas dabei war. Aber sie bargen auch Probleme, die durch schnelles Wachstum entstanden waren, etwa mangelhafte Hygiene und Ernährung sowie bedenkliche Wohnbedingungen bzw. soziale Zustände. Die große Choleraepidemie in Hamburg 1892/93 mit 8600 Toten machte das drastisch klar. Hamburgs Frisch- und Abwassersystem war veraltet, und die engen Wohnverhältnisse in Hafennähe begünstigten die Verbreitung von ansteckenden Keimen. Zehn Tage nach dem Ausbruch der Krankheit wurde Robert Koch (1843–1910) in die Hansestadt entsandt und veranlasste dort umfangreiche Quarantänemaßnahmen, zu denen Schulschließungen und das Verbot von Versammlungen gehörten. Erst jetzt wurde in Hamburg der Vorläufer des heutigen Gesundheitsamts der Stadt gegründet, das Hygienische Institut. In dieser Hinsicht hinkte die Stadt der Reichsregierung gewaltig hinterher, die bereits 1876 das Kaiserliche Deutsche Gesundheitsamt ins Leben gerufen hatte, in das Robert Koch 1880 als Geheimer Rat berufen worden war. Es hatte beratende Funktion und sammelte zahlreiche gesundheitsrelevante Daten für das gesamte Reichsgebiet.

Die Urbanisierung war Teil der Binnenwanderung, die aber keineswegs nur in die Städte führte, sondern fast wie ein Kreislauf funktionierte. Sehr viele Menschen verließen im Kaiserreich ihren Geburtsort, um anderswo zu arbeiten und dort gegebenenfalls auch sesshaft zu werden. Viele kehrten aber auch wieder in ihre Heimat zurück. Es gab »Push-Faktoren«, also jene, die die Menschen vertrieben, und »Pull-Faktoren«, die zur Einwanderung in bestimmte Regionen verlockten. Man kann auch sagen, dass auf der einen Seite tatsächliche oder gefühlte Not und Perspektivlosigkeit, auf der anderen tatsächliche (oder gefühlte) Chancen und Perspektiven ausschlaggebend waren.

Beides wirkte bei den Wanderungsbewegungen zusammen. Wichtig war die Nahwanderung vom Land in die nächstgrößere Stadt bzw. in den nächsten Industrieort. Das hatte viel mit den Phänomenen zu tun, die auch für die Auswanderung verantwortlich waren, nämlich Armut, dem Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen und allgemeiner Perspektivlosigkeit. Auch wenn bereits Bekannte oder Familienangehörige in die fragliche Stadt gezogen waren, mochte das den Aufbruch erleichtern. Dabei spielten der Ausbau der Eisenbahnverbindungen und die abnehmenden Fahrpreise ebenfalls eine Rolle.

Ein auffälliges und gut erforschtes Beispiel ist das Wachstum des Ruhrgebiets. Viele der dortigen Industriestädte verdankten ihr Wachstum der Nahwanderung aus der Umgebung – so wurden aus Dortmund und Essen Großstädte oder aus Industriedörfern Städte. Das Muster des Ruhrgebiets zeigte sich aber auch in vielen anderen Regionen: Generell wuchs die urbane Bevölkerung stärker als die Gesamtbevölkerung. Da die Geburtenraten in Städten teils abnahmen, ist überdeutlich, dass es sich dabei oft um Wanderungs- und Eingemeindungsgewinne handelte.

Generell verschob sich die Bevölkerung allmählich gen Westen. War zu Anfang der 1870er Jahre der Osten noch relativ bevölkerungsreicher als der Westen gewesen, kehrten sich die Verhältnisse alsbald um. Die Zuwachsraten waren ebenfalls unterschiedlich. Der Osten des Kaiserreichs wuchs langsamer als der Westen, d. h., mittelfristig wurde der Westen immer bedeutender. Deutschland (oder besser: die Deutschen) rückten westwärts.

Das zeigte sich schlaglichtartig bei einer Erfassung von Herkunftsregionen aus dem Jahr 1907: Ostdeutschland hatte fast 2 Millionen Menschen verloren. Leichte Verluste hatten Süddeutschland und Mitteldeutschland zu verzeichnen. Größter Nettogewinner war der Raum Berlin/Brandenburg mit einem Zuwachs von 1,2 Millionen Menschen. Westdeutschland war der nächstfolgende Gewinner mit einem Plus von etwa 640 000 Personen. Nordwestdeutschland und Hessen verbuchten leichte Zuwächse.

Zuerst wanderten eher gut ausgebildete Personen von Ost nach West, später waren es zunehmend Arbeiter. Die Ziele waren oft nach Herkunftsorten differenziert: Aus Pommern und Mecklenburg ging man eher in den Hamburger Raum; von den ostelbischen Provinzen aus wurde eher Berlin oder Sachsen angesteuert; seit den 1890er Jahren dann zunehmend das Ruhrgebiet. Während Arbeiter und Unterschichten wanderten, um überhaupt in Lohn und Brot zu kommen, weil es am Herkunftsort kaum und andernorts vermeintlich bessere Chancen gab, war die (zahlenmäßig allerdings sehr viel unbedeutendere) bürgerliche Wanderung oft unmittelbar mit sozialem Aufstieg verbunden.

Das gilt für die Auswanderer ebenso wie für die Binnenmigranten (nah und fern). Insgesamt war die Bevölkerung also mobil, und die Erfahrung einer dynamischen Entwicklung teilten viele Menschen miteinander (zumindest zeitweise).

Die Mobilität machte nicht vor Staatsgrenzen Halt. Die deutschsprachigen Länder waren schon vor 1871 traditionelle Auswandergebiete gewesen. Das beliebteste Ziel waren die USA, alle anderen Länder – auch innerhalb Europas – folgten mit weitem Abstand. Den Ausschlag für eine solche Entscheidung gaben sowohl ökonomische als auch soziale oder politische Gründe, auch diesbezüglich wirkten Push- und Pull-Faktoren zusammen.

Die zweite Hälfte der 1870er Jahre war geprägt von geringerer Auswanderung – den niedrigsten Stand verzeichnete das Jahr 1877, in dem gerade einmal 23 000 Menschen das Land verließen – da die Wirtschaftskrise der 1870er auch die USA erfasst hatte, war ein Neuanfang dort in dieser Zeit kaum verheißungsvoll. Zumeist waren es ganze Familien, die dennoch ihre Heimat verließen, und sie kamen mehrheitlich aus den östlichen Teilen des Landes.

Die Zahlen stiegen nach Ende der 1870er Jahre wieder sprunghaft an und erreichten 1881 den Höchststand im 19. Jahrhundert überhaupt mit über 220 000 Personen, das waren fast 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Verglichen mit den Auswandererzahlen der Gegenwart ist das allerdings relativ wenig. Seit den 1990er Jahren lag diese Zahl in jedem einzelnen Jahr immer mindestens um das Zweieinhalbfache höher, auch relativ zur Gesamtbevölkerung betrug sie stets über 0,5 Prozent. Aber kehren wir zurück ins Kaiserreich: Nach 1893 nahm die Auswanderung ab, wofür die sich verbessernde wirtschaftliche Lage im Kaiserreich und eine restriktivere Einwanderungspolitik der USA ausschlaggebend waren. Zudem wanderten nun mehr Einzelpersonen als Familien aus. Zwischen 1871 und 1890 verließen insgesamt 1,9 Millionen Menschen Deutschland; bis 1914 folgten noch einmal rund 900 000. Insgesamt gingen also etwa 2,8 Millionen Menschen ins Ausland.

Das wichtigste Zielland waren die USA, die fast 96 Prozent der Auswandernden ansteuerten. Offenbar stellten sie tatsächlich ein Land der Verheißung dar, die Vereinigten Staaten lockten die Menschen aber auch durch die bereits vorhandene deutsche Infrastruktur. Die meisten deutschen Auswanderer steuerten ein Gebiet an, das geographisch grob von New York bis in den mittleren Westen der USA reichte und in dem es bereits viele deutschsprachige Einwohner gab. In Städten wie Cincinnati besaß über die Hälfte der Einwohner einen direkten »deutschen Migrationshintergrund« (und in mehreren nordamerikanischen Städten existierten große deutsche Kolonien). Dass bereits Menschen aus der Heimat vor Ort waren, erleichterte den Neuanfang in einem fremden Land erheblich, zumal gut funktionierende Netzwerke diesseits wie jenseits des Atlantiks die Migration förderten.

Andere Ziele waren Lateinamerika mit Brasilien als zweitattraktivstem Ziel für deutsche Auswanderer (rund 2 Prozent gingen dorthin) und Australien, das etwa 0,9 Prozent der deutschen Auswanderer aufnahm – das waren wesentlich mehr als die Menschen, die in sämtliche deutsche Kolonien auswanderten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten in Deutsch-Südwestafrika nur gut 12 000 Deutsche, und davon gehörte ein Viertel (fast 3000 Personen) der Beamtenschaft und der Schutztruppe an – Letztere waren also nicht als eigentliche Auswanderer in das Land gekommen.

Der Auswanderung stand immer auch eine Einwanderung entgegen, die zeitgenössisch aber weniger auffiel. Im Kaiserreich lebten immer auch zugewanderte Menschen. 1871 wurden offiziell 207 000 fremde Staatsangehörige gezählt (weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung). Die größte Gruppe, bis zu 50 Prozent, kam aus Österreich-Ungarn, gefolgt von Niederländern, Russen und Italienern. Diese Reihenfolge blieb auch bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs bestehen. 1910 lebten offiziell 1,2 Millionen Ausländer im Kaiserreich, was einer Quote von etwa 1,8 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.23

Allerdings wurden Saisonarbeiter und – logischerweise – Illegale nicht mitgezählt. Gerade die sozialdemokratische und gewerkschaftsnahe Presse kritisierte immer wieder, wie niedrige Löhne den Arbeitern aus Italien, Russland, Österreich-Ungarn, aber auch aus Schweden, gezahlt wurden, so dass diese angeblich den einheimischen Arbeitern Lohn und Brot nahmen. »So berichteten wir«, schrieb das sozialdemokratische Berliner Volkblatt am 7. August 1885, »kürzlich noch aus Bayern, daß dort zahlreiche italienische Arbeiter beschäftigt würden, und in Oberschlesien wimmelt es ja bekanntlich von polnisch-russischen Arbeitern.« Vor allem die Lohndrückerei und ein nicht näher beschriebener »schlechter Einfluss« waren Thema des Artikels; gleichwohl beeilte sich der Autor zu betonen, »daß uns ausländische talentvolle und bedürfnisvolle Arbeiter willkommen in Deutschland sind«.24

Saisonarbeiter waren gerade in der preußischen Landwirtschaft wichtige Arbeitskräfte, die meist aus dem Zarenreich und Österreich-Ungarn kamen. Und diese spezielle Migration zog sehr wohl zeitgenössische Aufmerksamkeit auf sich. Weite Teile der Öffentlichkeit und die Regierung wollten vermeiden, dass sich diese Menschen dauerhaft im Kaiserreich niederließen – und das gelang ihnen im Allgemeinen auch. Dass es diese Einwanderer und Saisonarbeiter dennoch gab, belegt jedoch, dass das Kaiserreich verhältnismäßig attraktiv war – dementsprechend übertraf spätestens seit 1900 die Zahl der Einwanderer jene der Auswanderer. Das Kaiserreich war zu einem Einwanderungsland geworden.

Fassen wir zusammen: Die vier Jahrzehnte waren geprägt vom Wachstum der Bevölkerung, die zudem jünger, urbaner und (in Maßen) westlicher wurde. Doch trotz des Wachstums wurden auch Bedenken laut: Die Fertilität ließ nach, die Stadt galt vielen als »ungesund«. Ebenso prägend für die Zeit war die hohe Mobilität der Menschen innerhalb des Landes, aber auch die Auswanderung blieb ein gesellschaftliches Thema: In den 1870ern machte sich das Phänomen weniger bemerkbar, doch in den 1880ern bis Mitte der 1890er war es sehr ausgeprägt und blieb auch danach (in geringem Umfang, aber kontinuierlich) sichtbar und ein stetiges Gesprächsthema.

Einwanderung ins Kaiserreich hatte es ebenfalls immer gegeben, und in den späteren 1890er Jahren begann sie die Auswanderung zu übertreffen, was aber in der Öffentlichkeit nicht oder nur wenig zur Kenntnis genommen wurde. Kritische Blicke wurden eher auf Saisonarbeiter aus dem Osten gerichtet, die die Deutschen nicht dauerhaft im Land haben wollten. Auch die ab den 1880er Jahren vermehrte jüdische Durch- oder Einwanderung aus dem zaristischen Russland wurde eher abgelehnt. Die meisten anderen Zuwanderer hingegen scheinen damals nicht als überlokales Problem wahrgenommen worden zu sein.

Das vernetzte Kaiserreich

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