Читать книгу Das vernetzte Kaiserreich - Jens Jäger - Страница 6

Ein Kaiser, viele Landesherren: Die politische Ordnung des Deutschen Reichs

Оглавление

Moderne Staaten definieren einen Binnenraum, der politisch und rechtlich klar »innen« von »außen« trennt. Laut der Reichsverfassung von 1871 bestand das Reichsgebiet aus den folgenden Staaten: Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.12 Das waren insgesamt 25 Bundesstaaten. Elsass-Lothringen wurde erst 1911 zum 26. Bundesstaat. Vorher hatte es den rechtlichen Status eines »Reichslandes«, war also unmittelbar den obersten Reichsbehörden unterstellt mit dem Kaiser als Landesherrn.

Diese Bundesstaaten waren von extrem unterschiedlicher Größe und entsprechend im politischen System unterschiedlich gewichtet. Preußen war mit 348 000 Quadratkilometern Fläche (64 Prozent) und 24,7 Millionen (60 Prozent) Einwohnern 1871 bei weitem der größte der Bundesstaaten. Auf Platz zwei folgte mit großem Abstand Bayern mit 75 000 Quadratkilometern (14 Prozent) und 4,9 Millionen (12 Prozent) Einwohnern. Alle anderen Länder waren noch kleiner. Das Kaiserreich war also immer – an den Grundverhältnissen änderte sich bis 1918 nichts – zu etwa zwei Dritteln preußisch.

Allerdings waren auch die größeren Bundesstaaten keine monolithischen Blöcke. Preußen bestand aus 13, ab 1881 mit Herauslösung Berlins aus Brandenburg, dann 14 Provinzen (diese wiederum waren unterteilt in 36 Regierungsbezirke). Territorial untergliedert waren daneben noch Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen. Diese politischen Zwischeneinheiten besaßen unterschiedlich ausgeprägte Zuständigkeiten und Grade an Autonomie. Das soll nochmals unterstreichen, dass das föderale Prinzip nicht allein das Kaiserreich insgesamt strukturierte, sondern auch dessen Glieder.

Diese geographische, ökonomische oder demographische Bedeutung spiegelte der Bundesrat, an sich das wichtigste Organ der Verfassung, allerdings nicht wider. Der Bundesrat war die erste Kammer des Parlaments. Er wurde nicht von Staatsbürgern gewählt, sondern setzte sich aus Regierungsvertretern der Bundesstaaten zusammen. Im Bundesrat waren 58 Delegierte vertreten, von denen lediglich 17 (30 Prozent) auf Preußen entfielen. Das entsprang dem Kompromiss, aus dem die Reichsgründung erfolgt war, und politischer Rücksichtnahme auf die vormals unabhängig regierten Bundesmitglieder, die sich an der Zeit des Deutschen Bundes 1815–66 orientierte. Gewissermaßen wurde damit der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses Rechnung getragen. Da Abstimmungen im Bundesrat mit einfacher Mehrheit stattfanden, suggerierte das, die anderen Bundesstaaten könnten Preußen leicht in Schach halten. Aber Art. 78 der Verfassung legte fest, dass konstitutionsändernde Gesetze vom Bundesrat mit 14 Stimmen abgelehnt werden konnten (d. h., lediglich Preußen konnte diese im Alleingang ablehnen). Zudem wurde der größte Bundesstaat noch auf verschiedentlich andere Art privilegiert, so dass er faktisch doch den Bundesrat kontrollierte. Ausnahmen waren Angelegenheiten, die verfassungsmäßig nicht alle angingen. Dabei durften nur jene abstimmen, die direkt betroffen waren.

Die politische Ordnung des Reichs verknüpfte unterschiedliche Traditionen. Die teils altertümliche patrizische Ordnung der Hansestädte und die leidlich erstarrte preußische, die konservative sächsische sowie die liberal geprägte südwestdeutsche mussten miteinander in Einklang gebracht werden. Die Ordnung, die 1871 ins Leben gerufen wurde, war aus Gewalt (und Siegeseuphorie) entsprungen und übernahm Bausteine aus der politischen Struktur des Teilstaates, der auch die Hauptlast des Deutsch-Französischen Kriegs getragen hatte. Mit anderen Worten: Preußen. Grundlage des neuen Staatswesens bildete indes nicht die preußische Verfassung, sondern die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867.

Es war eine föderale, konstitutionelle Monarchie, die in allgemeinen Prinzipien »westlicher« politischer wie staatsphilosophischer Art wurzelte. Männerwahlrecht, Gewaltenteilung, Zwei-Kammern-System, Parlamentarismus usw. waren Standards fast aller sich modernisierenden Territorialstaaten jener Zeit. Das entsprach auch der politischen Ordnung vieler Nachbarstaaten Deutschlands, freilich mit unterschiedlich gewichteten Kompetenzen der Verfassungsorgane und Partizipationsmöglichkeiten der Staatsbürger.13 Als wahlberechtigten »Staatsbürger« stellte man sich stets einen erwachsenen Mann vor, der zumeist auch über ausreichend Besitz und/oder Einkommen verfügte. Innerhalb Europas erlangten Frauen überhaupt nur in Finnland (1906) und in Norwegen (1913) vor dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht. Und das finnische war letztlich nur ein regionales Frauenwahlrecht – es bezog sich lediglich auf diesen autonomen Teil des Zarenreichs.

Was für ein Staat wurde nun durch die Verfassung von 1871 geschaffen? Nach Hans-Peter Ullmann war das Kaiserreich ein Verfassungsstaat, ein Rechts- und ein Verwaltungsstaat, schließlich auch ein Militärstaat und in Ansätzen ein Parteienstaat – darin glich es fast allen europäischen wie nord- und südamerikanischen Staaten. Ihm fehlte aber ein mächtiges Parlament, das die Regierung wählte oder abwählte (Parteien konnten daher Maximalforderungen stellen – da sie niemals in Regierungsverantwortung kamen, wurden sie nicht daran gemessen). Die Justiz war ein wichtiges Element des Staates – das öffentliche wie private Leben war verbindlich reglementiert, Rechtsmittel konnten eingelegt werden, der Instanzenzug war definiert und funktionstüchtig. Die Gesetzgebung lag in Händen zweier Kammern, Parlament und Bundesrat. Das Parlament hatte zwar (wenngleich begrenzt) Budgetrecht, kontrollierte die Regierung aber nicht. Dennoch waren das durchaus Voraussetzungen für eine demokratische Struktur. Vieles hing von der tatsächlichen Praxis ab.

Das Regieren im Kaiserreich war im Wesentlichen von vier Elementen bestimmt: Kaiser, Bundesrat, Reichstag und Reichskanzler.14 Der Kaiser war das Oberhaupt des Staates. Er musste aus dem Hause Hohenzollern stammen, daher handelte es sich um eine Erbmonarchie. Der Kaiser vertrat das Reich nach außen; er berief Reichstag und Bundesrat ein und hatte das Recht, beiden Häusern die Vertagung einer Sitzung oder die Schließung zu verordnen. Die Auflösung des Reichstages verfügen durfte er indes nur nach Beschluss des Bundesrates. Er berief auch den Reichskanzler und war in der Gesetzgebung die letzte Instanz (er verkündete die Gesetze und sorgte für deren Ausführung).

Der Kaiser war zudem Oberbefehlshaber der Armee und Marine – als solcher ernannte er Admiräle sowie Generäle und hatte Einfluss auf alle Offiziersstellen. Gleiches galt formal für die Reichsbeamten. Art. 68 gab ihm sogar die Befugnis, den Kriegszustand über Teile des Reichs zu verhängen, in denen die öffentliche Sicherheit gefährdet erschien. Ob und inwiefern der Kaiser sich mit dem Kanzler beriet oder eher auf seine eigenen Berater setzte – wie es vor allem Wilhelm II. (1859–1941) tat –, blieb dem Monarchen überlassen.

Da die Verfassung eine Bundesverfassung war, die souveräne Fürsten beschlossen hatten, kam dem Bundesrat eine wichtige Stellung zu. Erstens war er der eigentliche Sitz der Souveränität, denn er war ein Bund gleichgestellter Herrscher. Zweitens hatte er auch das Recht, Gesetze vorzuschlagen, die sogenannte Gesetzesinitiative. Drittens waren alle Gesetze an die Zustimmung des Bundesrats gebunden, und viertens stand dem Bundesrat zu, eine Auflösung des Reichstages anzuregen. Aus Sicht der Verfassungsväter sollte bei ihm also das Schwergewicht der Entscheidungen liegen.

Dagegen war der Reichstag ›nur‹ eine gesetzgebende Versammlung. Er verfügte zwar über das Budgetrecht – allerdings mit weitreichenden Ausnahmen, was das Militär betraf (und das betraf einen großen Teil des Budgets). Ferner war ihm jegliche Kontrolle der Regierung versagt, da der Kanzler, de jure der einzige Minister im Staat, vom Kaiser berufen wurde und keinerlei Bestätigung durch das Parlament bedurfte. Die Leitung der Reichsämter wurde Staatssekretären übertragen, die dem Reichskanzler unterstanden. Nicht Parteien stellten Regierungen, sondern das Parlament wurde mit Reichskanzlern und deren Kabinetten konfrontiert, die wechselnde Mehrheiten suchten, wenn es um die Durchsetzung von Maßnahmen oder Gesetzen ging.

Allerdings wurde der Reichstag in freier, geheimer und allgemeiner Wahl durch alle Männer ab 25 Jahren bestimmt. Die Legislaturperiode war zuerst dreijährig, ab 1888 fünfjährig. Wenngleich das Parlament also durch Kaiser, Bundesrat und Regierung beschränkt war, wuchs ihm über die Gesetzgebungskompetenz doch immer mehr Entscheidungsbefugnis zu, denn zunehmend wurden Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens per Gesetz geregelt. Ebenso wuchs der Finanzbedarf des Reichs stetig, so dass das Parlament immer stärker einbezogen wurde. De facto konnten die Reichskanzler nicht gegen den Reichstag regieren – sie mussten sich um Mehrheiten bemühen und Zugeständnisse an jene Parteien machen, die für die Mehrheiten sorgten. Die wachsende Bedeutung des Parlaments nahmen auch Interessenverbände und Parteien wahr, die sich darauf ausrichteten und sich professionalisierten.

Was zunächst widersprüchlich aussieht, ist das damalige Wahlrecht. Wie kam es – anders als in allen Bundesstaaten (mit Ausnahme Badens) – zu einem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht aller Männer ab 25 anstelle des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das stets für komfortable konservative Mehrheiten im preußischen Landtag sorgte? Das entsprang Bismarcks Kalkül der späten 1860er Jahre. Erstens konnte er so den Eindruck vermeiden, dass er einfach nur preußische Regelungen auf das Kaiserreich ausweite, zweitens war bereits die Verfassung des Norddeutschen Bundes mit diesem Wahlrecht versehen, die die Grundlage der Reichsverfassung bildete. Drittens rechnete er damit, dass die ländlichen, konservativen Wähler die liberalen Städter dominieren würden. Das Parlament, das er ohnehin als zweitrangige Kraft sah, wäre damit eher sein Verbündeter gegen liberale Kräfte als ein Gegner.

Die von Bismarck festgelegte Wahlkreiseinteilung, die bis 1918 bestand, ist ein zusätzlicher Beleg für seine Strategie. So wurden 1871 zunächst 382 Wahlkreise festgelegt (dazu kamen 1873 weitere 15 Wahlkreise für Elsass-Lothringen).15 Die Wahlkreiseinteilung sollte eine Einwohnerschaft von 100 000 pro Wahlkreis spiegeln. Die Daten beruhten aber auf Volkszählungen von 1864, und bis 1918 wurde auf der einmal geographisch festgelegten Einteilung beharrt. Dabei hatte sich die Zahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Wahlkreisen stark verändert. Dementsprechend gab es 1912 reichsweit zwölf Wahlkreise mit weniger als 75 000 Einwohnern, der kleinste Wahlkreis war das Fürstentum Schaumburg-Lippe mit nur 46 650 Einwohnern. Dagegen standen aber auch zwölf Wahlkreise mit mehr als 400 000 Einwohnern. Der größte Wahlkreis war Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg mit 1 282 000 Einwohnern – da die stark angewachsenen Wahlkreise eher die städtischen waren, wirkte sich diese Entwicklung zum Vorteil der von Bismarck bevorzugten Landbevölkerung aus.

Wie bereits erwähnt blieb die Hälfte der Bevölkerung völlig außen vor: Frauen waren von den Wahlen grundsätzlich ausgeschlossen. Von weitreichender Bedeutung ist ferner die Beschränkung auf Männer ab 25, obwohl die Volljährigkeit mit 21 Jahren erreicht war. Insgesamt waren über den gesamten Zeitraum immer etwa 50 Prozent der männlichen Bevölkerung des Kaiserreichs unter 25 Jahre alt und damit nicht wahlberechtigt. Von den potentiell wahlberechtigten Männern schloss das Wahlrecht außerdem all jene aus, die aktiv im Militär dienten, Strafgefangene waren oder Armenunterstützung empfingen. Entmündigte kamen noch hinzu. Insgesamt waren damit noch einmal 6–11 Prozent der potentiell Wahlberechtigten vom Urnengang ausgeschlossen.

Infolge all dieser Bestimmungen waren nie mehr als knapp 20 Prozent der Bevölkerung des Kaiserreichs wahlberechtigt, und davon gaben bei den ersten Wahlen zum Reichstag 1871 nur 51 Prozent ihre Stimme ab. In Zahlen: Der erste Reichstag war von 3,9 Millionen Männern gewählt worden. Bei einer Gesamtbevölkerung von über 41 Millionen entsprach das lediglich 9,5 Prozent der Bevölkerung. 1912 sah es zwar etwas besser aus: Zu diesem Zeitpunkt waren immerhin 14,4 Millionen Männer wahlberechtigt, und fast 85 Prozent davon gaben auch ihre Stimme ab. Doch bei einer Gesamtbevölkerung von bereits etwa 65 Millionen waren auch das nur knapp 19 Prozent der Einwohner des Kaiserreichs.

Wir sehen also, dass de facto immer nur eine Minderheit wählen durfte – aber diese Minderheit nahm ihr Wahlrecht zunehmend in Anspruch. Das weist auf eine anwachsende Politisierung der Bevölkerung ebenso hin wie darauf, dass das Parlament zunehmend als wichtige Institution geschätzt wurde. Geprägt war diese rudimentäre Demokratisierung aber von einer absoluten Diskriminierung der Frauen sowie vom Ausschluss zahlloser junger, bereits volljähriger Männer.

In den Bundesstaaten bestanden mit Ausnahme Badens und Württembergs (die seit 1869 bzw. 1906 das gleiche Wahlrecht auf Landes- wie auf Reichsebene besaßen) mehrheitlich weit restriktivere Wahlrechtsordnungen. Letztere basierten immer auf Besitz, beziehungsweise Wahlberechtigte mussten einkommens- oder grundsteuerpflichtig sein; sie schlossen also noch größere Teile der männlichen Bevölkerung aus als das Reichstagswahlrecht. Am bekanntesten ist das preußische Dreiklassenwahlrecht, das an Steuerleistungen geknüpft war. Zudem stand jeder »Klasse« die gleiche Anzahl an Wahlmännern zu, die dann erst Abgeordnete bestimmten. Das garantierte im preußischen Landtag eine relativ konstante konservative Mehrheit. Forderungen nach Wahlrechtsreformen standen daher in Preußen, aber auch fast jedem anderen Bundesstaat, dauerhaft auf dem Programm der diskriminierten Gruppen, die dieses Ziel aber nie erreichten. Zwar schaffte beispielsweise Sachsen 1910 das Zensuswahlrecht ab, doch es führte gleichzeitig Zusatzstimmen ein: Neben seiner Grundstimme konnte ein Mann durch Ableistung des einjährigen freiwilligen Wehrdienstes, Besitz und Einkommen sowie bei Überschreitung des 50. Lebensjahrs bis zu vier weitere Stimmen auf sich vereinen.

Ebenso restriktiv, wenn nicht noch eingeschränkter, war das kommunale Wahlrecht. Die Regierungen der Städte wurden ebenfalls nach Zensuswahlrechten bestimmt. Steuerpflicht und Grundbesitz waren bestimmende Faktoren. In Köln16 waren auf diese Weise 1871 gerade einmal 5 Prozent der Stadtbevölkerung wahlberechtigt, einige Jahre später wurde diese Zahl durch etwas gelockerte Kriterien auf etwa 7 Prozent erhöht. Erst 1893 wuchs die Zahl der Wahlberechtigten erneut, und weitere Lockerungen bis 1914 führten dazu, dass schließlich fast 100 000 Kölner Männer wählen durften – aber auch das waren immer noch lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, und noch immer wurde in drei Klassen gewählt.17

Dazu kam noch, dass Wahlen nicht unbedingt geheim waren; jeder bekam also mit, wer für wen stimmte. Das hatte viele Gründe. Nicht zuletzt wurden keine Wahlzettel vom Staat gestellt, sondern jede Partei druckte ihre eigenen (mit dem Namen des eigenen Kandidaten natürlich). Diese hatten unterschiedliche Farben und Formen, so dass klar war, für wen abgestimmt wurde. In einem ostelbischen Wahlbezirk erhielten bei der Reichstagswahl 1887 Tagelöhner mehrere Kilogramm getrocknete Erbsen, wenn sie konservativ wählten; im Kölner Vorort Rodenkirchen durften sich diejenigen Wähler, die den ›richtigen‹ Wahlzettel (in diesem Fall einer liberalen Partei) genommen hatten, am Ausgang des Wahllokals eine Wurst abholen.18

Die gleichsam öffentliche, aber als geheim bezeichnete Stimmabgabe kennzeichnete besonders kommunale Wahlen, so dass die nicht Wahlberechtigten durch öffentlichen Druck die Wahlentscheidungen der Wähler zu beeinflussen suchen konnten. Aber auch die offiziell geheimen Wahlen zum Reichstag erfüllten das Versprechen nicht unbedingt, da es keine Wahlkabinen gab und die Stimmzettel ja schon deutlich machten, welcher Kandidat damit gewählt wurde. Zudem warfen nicht die Wähler die Zettel in die Urne, sondern der Wahlvorstand.

Wie man es dreht und wendet – Reichstagswahlen waren zwar im Kaiserreich im Vergleich zu den Wahlen in den Bundesstaaten demokratischer, aber alles andere als tatsächlich repräsentativ im heutigen Sinne. Bismarcks Kalkül ging im Übrigen nicht auf: Die erhoffte konservative Dauermehrheit wurde nicht erreicht, vielmehr konnten 1890 die Sozialdemokraten relativ bereits die meisten Stimmen erlangen, erhielten aber aufgrund der Wahlkreiseinteilung im Verhältnis viel weniger Abgeordnetensitze. Erst 1912 stellten sie neben der Stimmenmehrheit auch die relative Mehrheit im Reichstag.

Fehlt als vierte Größe noch der Reichskanzler. Ihm kam eine koordinierende, ausgleichende und leitende Schlüsselstellung zu. Er war der einzige Minister und lediglich dem Kaiser verantwortlich – darin lag seine außergewöhnliche Stärke und gleichzeitig seine Schwäche, da der Kaiser ihn berufen und entlassen durfte. Allerdings konnte der Kaiser nichts ohne den Kanzler verfügen, denn Letzterer musste Regierungsakte gegenzeichnen (Art. 17).

Zudem war der Reichskanzler immer auch Außenminister, Vorsitzender des Bundesrates und üblicherweise preußischer Ministerpräsident (nur von Caprivi verzichtete 1892–94 auf das Amt). Als preußischer Ministerpräsident dominierte er auf vielfältige Weise den Bundesrat, was ihm eine wichtige Stellung garantierte.

Das Reichskanzleramt war neben dem Auswärtigen Amt die erste Reichsbehörde (1871), die zunächst die gesamte Reichsverwaltung übernahm. Aufgrund der wachsenden Zahl der Aufgaben wurden aber alsbald einzelne Ämter ausgegliedert: Das Reichseisenbahnamt entstand schon 1873, das Reichspostamt und das Reichsamt für Elsass-Lothringen folgten 1876, dann kamen 1877 Reichsjustizamt und 1879 das Reichsschatzamt hinzu sowie 1879 das Reichsamt des Inneren – gewissermaßen aus den Resten des Reichskanzleramts. An sich ist das nicht weiter bemerkenswert, es belegt aber die wachsende Unabhängigkeit des Reichs von den preußischen Behörden, wenngleich die Institutionen eng verbunden blieben. Nur zwei weitere Ämter wurden noch gegründet: 1889 das Reichsmarineamt und 1907 das Reichskolonialamt, das aus der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts hervorging.

Erwähnenswert ist noch, dass es kein Militäramt oder Kriegsministerium gab, stattdessen übernahm das preußische Kriegsministerium diese Aufgaben. Die Armee hing ganz vom Kaiser ab, auch wenn sie föderalistisch organisiert war und die sächsischen, bayerischen und württembergischen Kontingente eine Sonderbindung an die dortigen Monarchien hatten. Auch die Personalhoheit lag bis zu einem bestimmten Grad noch bei den drei Königen. Aber in allen anderen Belangen entsprachen die Kontingente den preußischen. Auch stand das Militär außerhalb der parlamentarischen Kontrolle – abgesehen von Budgetentscheidungen –; formal war es ausschließlich der Kommandogewalt des Kaisers unterstellt. Lediglich in Bayern lag der Oberbefehl erst im Kriegsfall beim Kaiser. Das bedeutet keineswegs, dass das Deutsche Kaiserreich eine Art Militärdiktatur war, wenngleich die Armee- und Marineführung großen Einfluss auf die Politik hatten.

Es wurde jedoch nicht alles von Berlin aus geleitet. Die Bundesstaaten waren teilsouverän, sie besaßen eigene Regierungen und Verfassungen. Auch waren sie die ausführenden Organe jeglicher Bundesgesetze. Die Rahmenvorschriften in Zivil-, Handels-, öffentlichem und Strafrecht usw. erließ allerdings das Reich. In der alleinigen Verantwortung der Bundesstaaten lagen weite Bereiche der inneren Verwaltung sowie die Bildungs-, Religions-, lokale und regionale Infrastrukturpolitik. Ebenso blieb die Finanz- und Steuerverwaltung in den Händen der Bundesstaaten. Die Wahrung von Sicherheit und Ordnung (Polizeiwesen) wurde ebenfalls dort geregelt – oft delegiert an die Kreise und Gemeinden. Die Eigenständigkeit der Bundesstaaten hatte für den Alltag der Menschen eine hohe Bedeutung – beispielsweise unterschieden sich die Möglichkeiten der politischen Partizipation (wie schon am Beispiel des Wahlrechts angedeutet), die Vereins- und Versammlungsrechte wurden von liberal bis restriktiv sehr ungleich gehandhabt, und die Reglementierung des Alltags sah je nach Bundesstaat anders aus.

Die Organisationsform des Kaiserreichs war in der Praxis weder autokratisch noch eine »Kanzlerdiktatur« noch eine parlamentarische Monarchie. In der Forschung wird von einer Mischform gesprochen. Hans-Ulrich Wehler beschreibt sie als einen Typus, der »monarchisch-autoritäre Züge mit föderalistischen, parlamentarischen und parteienstaatlichen Elementen verband«.19 Aber alle diese Kennzeichnungen müssen qualifiziert werden. Der Monarch war an das System gebunden wie alle anderen auch, selbst wenn er, wie etwa Wilhelm II., am liebsten als absolutistischer Herrscher geschaltet und gewaltet hätte. Er blieb vom Reichskanzler abhängig, aber auch von Parlament und Bundesrat. Selbst der Kaiser stand nicht über dem Gesetz.

Der Föderalismus wiederum krankte zwar an der preußischen Dominanz – beispielsweise war der preußische König gleichzeitig deutscher Kaiser und der preußische Ministerpräsident meist auch Reichskanzler. Im Bundesrat hatte Preußen – wie schon erwähnt – eine Sperrminorität und Möglichkeiten, dieses Gremium zu beherrschen. Aber Berlin bestimmte dennoch nicht in jeder Hinsicht, was in Dresden, Stuttgart, München oder Hamburg zu geschehen hatte.

Das Kaiserreich war von politischen Kompromissen geprägt, es enthielt modernisierende Elemente und autoritäre Charakteristika gleichermaßen. Es war stark preußisch bestimmt, und auf Regierungsebene gaben die persönlichen Beziehungen mit dem zentralen Element Reichskanzler-Kaiser die Richtung vor. Diese politische Ordnung begünstigte zwar die alte Machtstruktur, indem sie Bürokratie, Militär und Diplomatie außerhalb der Kontrollbefugnis des Parlaments ansiedelte, verhinderte aber weder den Aufstieg neuer Eliten noch den der Sozialdemokratie.

Das vernetzte Kaiserreich

Подняться наверх