Читать книгу Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte - Jens Reinländer - Страница 6
Angefangen hat alles beim Frühstück.
ОглавлениеIch weiß nicht mehr genau, an welchem Tag es war. Aber ich weiß noch genau, dass es draußen vorm Fenster wie aus Kübeln gegossen hat. Ich sitze also in die Küche und mampfe mein Müsli. Nebenbei grüble ich wieder mal darüber nach, wofür ich wohl meinen ersten Nobelpreis bekommen werde, denn das ist mir zu diesem Zeitpunkt noch ein großes Rätsel. Da entdecke ich plötzlich in der Zeitung, die Papa auf dem Tisch liegen gelassen hat, ein Bild von Bruno Barrikade. Und über dem Bild steht in fetten Buchstaben: Heute große Sonderbeilage mit Fanposter!
Hammer! Ein Fanposter von Bruno Barrikade!, schießt es mir durch den Kopf und ich weiß auch sofort, wo ich das Poster aufhängen werde. Natürlich muss der beste Torhüter auf der Welt den besten Platz an meiner Posterwand bekommen. Denn beinahe wäre ich ja selbst in seine Stelle getreten. Aber weil ich als zukünftiger Nobelpreisträger dauernd so viel um die Ohren habe, musste ich die Karriere als weltbester Torhüter frühzeitig wieder an den Nagel hängen und Bruno den Vortritt lassen.
„Bruno Barrikade im Großformat an meiner Posterwand, das ist Klasse“, juble ich. Bis ich die Zeitung auseinander gefaltet habe und die Bescherung entdecke. Das Poster ist tropfnass und total zusammengepappt. Unsere Briefkastenabdeckung ist nämlich nicht ganz dicht und sobald es mal etwas kräftiger regnet, wird gleich der ganze Briefkasten geflutet. So wie an diesem Morgen. Schönen Dank, Regen! Jetzt hilft bloß noch wedeln. Wenn es fürs Postertrockenwedeln einen Nobelpreis gäbe, auch der wäre mir spätestens jetzt sicher gewesen. Ich wedele, bis dicke Schweißperlen auf meiner Stirn wachsen und ich so schlapp bin, dass es mir vor den Augen flimmert und eine Stimme in meinem Kopf irre kreischt: „Yippie, gib alles!“ Doch obwohl ich mich voll reinhänge und alles gebe, kommt mein Rettungsversuch leider zu spät. Die Druckerschwärze der Buchstaben ist bereits verschmiert und hat sich mit dem Bruno-Barrikade-Poster vermischt. Bruno Barrikade hat mit einemmal ein großes O unter der Nase hängen und auf seinem Kopf balanciert ein Fragezeichen. Auf seinem Torwartdress steht in schwarzen verwaschenen Buchstaben: Fliegenfänger. Und im Tornetz hinter ihm hat sich gleich ein ganzer Schwarm Wörter verfangen. In dem Zustand kann ich das Poster vergessen. Bruno Barrikade mit einem Nasenring und der Aufschrift: Fliegenfänger. Was für eine Schande!
Rudi würde jetzt vor Lachen glatt Schnappatmung kriegen.
Rudi ist mein zweiter bester Kumpel. Und eigentlich ist er der Letzte, der über einen Torwart lachen darf. Selbst wenn der die Aufschrift „Fliegenfänger“ trägt. Rudi ist nämlich als Torwart unterirdisch schlecht. Das liegt an seiner niedrigen Bauhöhe. Rudi ist vom Wuchs her etwas tiefergelegt. Deshalb fängt er auch keine hohen Bälle und ist im Tor allerhöchsten als dritter Pfosten zu gebrauchen. Im Turnen ist Rudi dagegen ein Ass. Er kann in einer Geschwindigkeit Purzelbäume schlagen, dass einem beim Zugucken schwindlig wird. Aber im Tor, da ist er eine Flasche. Da braucht er Stelzen, um an die hohen Bälle zu kommen.
Bei den meisten von uns ist es genau umgekehrt. Wir fischen fast jeden Ball von der Linie. Doch wenn wir Purzelbäume schlagen sollen, sehen wir immer aus wie umhereiernde Pflaumen.
Am meisten eiert dabei die Heidelbeere. Mit bürgerlichem Namen heißt sie Heidrun-Beatrice. Sie ist unsere Klassensprecherin und der geborene „Bewegungsidiot“. Mit Sport hat sie gar nichts am Hut. Das ist aber auch gleich ihr einziger Mangel. Sonst ist sie eine Schülerin, von deren Fleiß wir uns alle eine Scheibe abschneiden können. Meinen jedenfalls unsere Lehrer. Wir Schüler dagegen meinen, dass die Heidelbeere mit ihrer Arbeitswut mächtig übertreibt und dass selbst ein Streber gegen sie noch ein Faultier ist. Beweise dafür liefert uns die Heidelbeere regelmäßig. Auch an dem Morgen, an dem ich Bruno Barrikade vergeblich zu retten versuche.
Kaum bimmelt es wenig später in der Schule zur ersten Unterrichtsstunde, kommt Direktor Kittel ins Klassenzimmer gefegt und überbringt uns die Nachricht, dass unsere Musiklehrerin Frau Schrei erkrankt ist. Weil unser Direktor das bedauerlich findet, hat er eine sorgenvolle Miene aufgesetzt. Wir bekommen sofort sorgenfreie Mienen, denn wir finden die Nachricht toll. Weil Frau Schrei ja zu Hause im Bett liegt und uns deshalb schon mal nicht anstecken kann. Und es kommt noch besser. Da Direktor Kittel so schnell keinen Ersatz bekommen konnte, bekommen wir jetzt eine Freistunde. Wir sollen im Zimmer bleiben und uns leise verhalten und nicht den Unterricht der anderen stören.
Die ganze Klasse sitzt da, als hätte Direktor Kittel gerade von einer „Freustunde“ gesprochen. Bloß die Heidelbeere macht ein Gesicht, als hätte sie soeben eine Zwei plus verpasst bekommen und müsste zur Strafe dafür nun vier Wochen in den Stubenarrest.
Die meisten von uns wären ja schon mit einer Zwei minus zufrieden. Aber wenn man wie die Heidelbeere als Eltern zwei Ärzte hat, kommt eine Zwei plus einer Katastrophe gleich. Da muss mindestens eine Eins mit Sternchen her. Bei Ärzten ist das wohl so üblich. Dagegen bin ich echt ein Glückspilz. Mama arbeitet nämlich in einem Bäckerladen und Papa ist Bademeister in unserer Schwimmhalle. Da ist auch mal eine Drei erlaubt, wenn es nicht zum Dauerzustand wird. Ich habe mal heimlich beobachtet, wie die Mütter von Meerschweinchen-Klara und Pfannkuchen-Rosi die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt haben: „Diese Heidrun-Beatrice ist wirklich sehr strebsam. Kein Wunder, dass das Kind so ist. Die Eltern färben ab!“ Ich habe lange darüber nachgedacht, ob Eltern abfärben können. Leider bin ich bis heute zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Einerseits, wenn das stimmt, dann müsste der Vater von Rudi ein Zwerg sein. Ist er aber nicht. Andererseits trägt Bernd haargenau denselben Scheitel wie sein Vater. Das Ganze ist eine wirklich komplizierte Angelegenheit, die mich wohl noch länger beschäftigen wird.
Aber jetzt zurück zur Heidelbeere. Die meldet sich plötzlich und sagt doch tatsächlich mitten in die Freude der Klasse hinein: „Können Sie uns für den verlorenen Unterrichtsstoff nicht ein paar sinnvolle Übungen geben, Herr Direktor?“ Direktor Kittel ist so überrascht, dass er erst mal schlucken muss. Und die ganze Klasse schluckt mit.
„Hat die eine Meise? Was gibt es denn Sinnvolleres, als eine Freistunde ohne Übungen?“, stöhnt Hannibal hinter mir und verdreht die Augen. Also, nicht der Hannibal von ganz früher. Der Hannibal hinter mir ist bloß sein Namensvetter. Die Eltern von Hannibal haben mal einen Film gesehen, wie der Hannibal von ganz früher die Römer verkloppt hat. Mit Pauken und Trompeten hat er sie in die Flucht geschlagen. Und Elefanten waren auch noch dabei. Das behauptet jedenfalls der Hannibal von heute stolz. Aber auf seinen Namen ist er nicht stolz. Eigentlich würde er viel lieber Max oder Moritz heißen, hat er mir unter vier Augen verraten. Hannibal ist ihm zu altbacken und zu kriegerisch. Daraufhin habe ich ihm gesagt, dass er froh sein soll, dass seine Eltern keinen Film über Donald Duck oder Pharao Thutmosis gesehen haben. Ich glaube, das hat ihn ein bisschen getröstet. Es ist wirklich ungeheuerlich, wie leichtfertig manche Eltern das Glück ihrer Kinder auf’s Spiel setzen. Fast so ungeheuerlich wie der Satz, den die Heidelbeere da gerade herausposaunt hat. Und Direktor Kittel lässt sich auch nicht lange bitten und ruft nach dem ersten Überraschungsanfall prompt in die Klasse: „Eine sehr löbliche Einstellung, Heidrun-Beatrice. Alle mal herhören. Ihr habt ja als nächstes Deutschunterricht bei eurer Klassenlehrerin Fräulein Lieblich. Fräulein Lieblich hat heute Geburtstag. Jeder sucht sich in seinem Deutschbuch ein Geburtstagsgedicht und lernt es bis zur nächsten Stunde auswendig. Und damit überrascht ihr dann Fräulein Lieblich. Ist das nicht eine prima Idee?“
Die Heidelbeere nickt erfreut. Und wir bewerfen sie mit giftigen Blicken.