Читать книгу Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte - Jens Reinländer - Страница 9

Wenig später stehe ich vorm Lehrerzimmer und überlege, ob ich jetzt echt da reingehen soll.

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Unser Lehrerzimmer ist nämlich neben dem Direktorenzimmer der bedrohlichste Ort für uns Schüler. Weil dort die Lehrer meistens in geballter Ladung vorkommen. Schon einzelne Lehrer sind ja für einen Schüler nur schwer zu verkraften. Wo Lehrer aber in Massen auftreten, da wird’s erst richtig ungemütlich.

Auch hinter dieser Tür ist das so. Da brennt dauernd die Luft. Das Telefon klingelt unablässig, irgendwer hämmert Schriftstücke in eine Computertastatur und von allen Seiten hetzen die Lehrer zum Kopierer hin oder in die entgegengesetzte Richtung davon. Jeder Schüler, der sich in dem Chaos blicken lässt, läuft echt Gefahr, totgetrampelt zu werden. Und falls man es doch irgendwie schafft, wieder lebend da rauszukommen, hat man plötzlich irgendeinen doofen Auftrag am Hals, wie Unterrichtsmaterialien austeilen oder Schülerlotsenvertretung. In unserem Lehrerzimmer herrscht ein Gewusel wie in einem Ameisenhaufen. Bloß, dass die Ameisen hier größer sind und dauernd Aufgaben verteilen.

Ganz anderes dagegen ist es im Zimmer vom Direktor Kittel. Da ist es so still wie in einer Friedhofsgruft. Leider fühlt man sich dort auch begraben wie in einer Gruft. Deshalb heißt dieser Raum unter uns Schülern auch: die Todeszone. Wer da hinein muss, der ist mindestens ein Schwerverbrecher und eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Dort werden die „ganz schlimmen Fälle“ behandelt und verurteilt. Strafen wie Schulverweise oder Elterneinladungen sind das Mindeste. Manchmal gibt es noch drei Wochen Tafeldienst oder Papier aufsammeln auf dem Schulhof als Zugabe obendrauf. Welche Strafe man kriegt, weiß man vorher nie. Das kommt daher, weil die Strafen von Lehrern gemacht werden und die meisten Dinge die Lehrer tun, für uns Schüler völlig unlogisch sind.

Genauso unlogisch wie jetzt die Tatsache, dass mich Fräulein Lieblich ins Lehrerzimmer bestellt hat. Obwohl sie doch wissen müsste, dass es dort für mich höchst gefährlich werden kann. Aber vielleicht habe ich ja Glück und es ist gerade niemand drin. Dann kann ich mich schnell wieder verziehen und keiner darf hinterher behaupten, ich wäre ein Feigling und hätte mich bloß vor der Gefahr gedrückt.

Doch meine Hoffnung hält nur kurz an. Kaum habe ich an die Tür gepocht, ruft jemand von drinnen: „Herein.“ Die Stimme erkenne ich sofort. Sie gehört unserem Direktor. Ich wundere mich ein bisschen, wieso sich unser Direktor im Lehrerzimmer aufhält. Denn eigentlich gehört er ja ins Direktorenzimmer und demzufolge genauso wenig hierher wie ich. Aber wo er schon mal hier ist, will ich ihm einen hochachtungsvollen Gruß entbieten, so, wie es sich für einen braven Schüler gehört. Man weiß ja nie, ob es sich nicht hinterher mal auszahlt, wenn man einer Führungskraft höflich begegnet. Und unser Direktor Kittel ist ja sogar die oberste Führungskraft an unserer Schule.


Er ist der „Big Boss“ und steht über uns allen an der Spitze. Danach kommen die Lehrer. Dann Hausmeister Schlüsselbund, unser Küchenbulle Frau Aufessen und unser Putztäufelchen Fräulein Besenrein. Die stehen wiederum in der Hackordnung über den Schildkröten aus dem Schulzoo und den Schnecken und Käfern im Salatbeet vom Schulgarten. Darin sind sich alle einig. Da braucht man hier mit niemandem drüber zu diskutieren. Nur, wo wir Schüler stehen, ist noch nicht ganz klar.

Einige von uns meckern rum, wir Schüler kommen immer ganz zum Schluss. Wir sind der letzte Arsch im Glied. Andere dagegen finden, dass das so nicht stimmt. Weil wir wichtig sind. Wenn es uns nicht gäbe, könnten sie den Laden hier nämlich dichtmachen. Ich persönlich glaube ja, ein bisschen haben alle Recht und die Wahrheit liegt wohl eher in der Mitte.

Doch als ich nun ins Lehrerzimmer trete, zerbreche ich mir über so etwas natürlich nicht den Kopf. Ich nicke unserem Direktor freundlich zu und grüße ihn mit den Worten:

„Wenn zur Weise sich der greise

Weise dreht auf schräge Weise,

weiß die weiße weise Waise,

er hat’s wieder mit dem Steiße.“

Direktor Kittel starrt mich an, als wäre ich irgendeine übernatürliche Erscheinung und ich merke, wie ich einen knallroten Kopf bekomme. Was war denn das jetzt? Schon wieder so ein peinlicher Aussetzer! Ich wollte doch bloß sagen: „Guten Tag, lieber Herr Direktor! Ich hoffe, ihnen geht es gut. Grüßen Sie Ihre Frau schön von mir!“ Doch stattdessen plappere ich irgendwelchen Schwachsinn. Was ist bloß mit mir los?

In meinem linken Ohr meldet sich wieder die Stimme und jubelt: „Yippie!“ Und dafür habe ich jetzt bloß eine Erklärung: Ich bin reif für die Klapsmühle!

Während ich darüber nachgrüble, wie ich nun aus der peinlichen Nummer wieder herauskomme, schallt plötzlich Beifall durchs Zimmer und Fräulein Lieblichs Stimme zwitschert: „Na, was sagst du jetzt? Habe ich dir zuviel versprochen, Bernhard? Edgar hat ein unglaubliches Talent. Glaubst du mir jetzt, dass er der Richtige ist?“ Direktor Kittel nickt und lächelt verschmitzt. Die Überraschung in seinem Gesicht ist wie weggeblasen. Dafür sitzt bei mir der Schreck jetzt umso tiefer. Was meint Fräulein Lieblich jetzt bloß? Wofür bin ich der Richtige? Und was für ein Talent soll das sein? Bis jetzt bin ich auch ganz gut ohne Talent klargekommen. Und eigentlich hatte ich auch in Zukunft nicht vor, mit irgendeinem Talent in Verbindung gebracht zu werden. Denn hast du erst mal eins, wirst du es nie wieder los. Dann haftet es an dir, wie Hundekacke an deiner Schuhsohle. Überall musst du es mit herumschleppen und vorzeigen. So ein Talent ist eine Last, die ich nicht gebrauchen kann. Deshalb war ich bisher auch froh, keins zu besitzen. Und jetzt das: Ein Talent hat sich klammheimlich an mich rangemacht. Und seine Folgen bekomme ich auch gleich zu spüren. Fräulein Lieblich taucht hinter einem Bücherstapel auf, sieht mich mit leuchtenden Augen an und flötet: „Wir würden uns sehr freuen, wenn du am Lyrischen Abend teilnehmen und dort deine Klasse vertreten würdest. Was hältst du davon, Edgar?“

Ich weiß nicht, ob der Schock über mein unverhofftes Talent daran Schuld ist oder wieder die Stimme in meinem Ohr. Aber anstatt eines klaren: Nein danke! Ich bin doch nicht bekloppt! Nehmt doch die Heidelbeere!, kommt wieder so ein Mist aus meinem Mund:

„Alphabet mal anders:

Vier Hexen wollen Rudern geh’n,

die Jüngste heißt Sybille.

Die Älteste liebt Speisequark,

die Schönste trägt ‘ne Brille.

Die Letzte, die heißt Muh-Muh-Muh,

da ist es fast kein Wunder,

dass sie auch schwer ist wie ‘ne Kuh,

so geht das Boot rasch unter.“

Fräulein Lieblich und Direktor Kittel sind begeistert.

„Willkommen im Team. Wir gratulieren dir zu deiner löblichen Entscheidung. Unser Lyrischer Abend ist zwar nicht die Nobelpreisgala, aber ein guter Anfang. Er kann für dich der Beginn einer großen Karriere werden“, sagt Direktor Kittel hocherfreut und kugelt mir beim Händeschütteln fast den Arm aus.

„Ja, nur den Besten wird diese Ehre zuteil. Selbstverständlich habe ich dir für dein schönes Gedicht von vorhin ein „sehr gut“ mit Sternchen ins Klassenbuch eingetragen“, trällert Fräulein Lieblich und strahlt mich an. Und ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass es bis zum Literaturnobelpreis jetzt echt nicht mehr weit sein kann.


Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte

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