Читать книгу Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte - Jens Reinländer - Страница 7

Nicht, dass ich etwas gegen Gedichte hätte.

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Wenn sie bloß nicht immer so furchtbar langweilig wären. Und kapieren tue ich sie meistens auch nicht. Mama sagt, Gedichte sind Poesie und Poesie ist Medizin für unsere Herzen. Mag ja sein. Aber mein Herz braucht so was nicht. Es ist kerngesund. Doktor Heilfroh kann das bezeugen. Er hat mir versichert, dass ich einen prima Herzschlag habe. Laut und kräftig wie eine stampfende Lokomotive. Und wie es scheint, haben auch die anderen in der Klasse starke gesunde Herzen, denn alle blättern nun mit Zähneknirschen und viel Gestöhn in ihren Deutschbüchern herum und suchen nach einem Geburtstagsgedicht für Fräulein Lieblich. Außer Heidrun-Beatrice natürlich. Die Heidelbeere hat längst das passende Gedicht gefunden und paukt eine Strophe nach der anderen. Ich werfe einen Blick in ihr aufgeschlagenes Buch. Na klar, eine Ballade. Was denn sonst?

Balladen sind der Hammer unter den Gedichten. Sie sind nicht nur meistens in einer grässlich altbackenen Sprache geschrieben, sie sind obendrein auch noch furchtbar lang. Wenn du eine Ballade vorträgst, musst du zwischendurch unbedingt immer mal auf der Stelle hüpfen. Sonst sind deine Schuhsohlen am Ende der Ballade garantiert mit dem Fußboden verwachsen und du kommst nicht mehr vom Fleck. Balladen sind wahrscheinlich ursprünglich als ausgefeilte Trainingsmethode für Hochspringer geschrieben worden – oder eben für Menschen mit kranken Herzen.

Sprunggewaltig ist die Heidelbeere nicht gerade. Ich habe sie mal beim Hochsprung erlebt und muss sagen: Entweder die Erdanziehungskraft wirkt bei ihr zehnmal stärker oder sie trägt Turnschuhe aus Blei. Ich glaube, jede Bowlingkugel kann höher hüpfen als sie. Bleibt also noch das Herz. Möglicherweise hat sie ja ein wirklich schlimmes Herzproblem.

Während ich mir gerade darüber so meine Gedanken mache, ertönt plötzlich neben mir ein leises unappetitliches Geräusch. Das gibt’s doch nicht, die Heidelbeere hat gerülpst, durchzuckt es mich wie ein Blitz. Heidrun-Beatrice, das angeblich vorbildlichste, anständigste und wohlerzogenste Kind an unserer Schule hatte jetzt einfach so gerülpst. Mitten im Unterricht! Auch wenn es nur eine Freistunde ist, ich bin schwer beeindruckt. So was hätte ich ihr niemals zugetraut. Ich werfe einen Rundumblick in die Klasse. Aber außer mir scheint niemand die Sensation bemerkt zu haben. Auch die Heidelbeere tut so, als wäre überhaupt nichts passiert. Kerzengerade wie eine Zaunlatte sitzt sie neben mir und brabbelt mit geschlossenen Augen ihre Ballade. Da rülpst es schon wieder! Und nun höre ich obendrein auch noch eine Stimme kichern: „Ups! Heilige Kacke! Was ist denn heute los?“ Hätte ich nicht bereits auf meinem Hintern gesessen, mit Sicherheit hätte es mich jetzt umgehauen. Die Heidelbeere steckt nicht dahinter, dass wird mir jetzt ziemlich schnell klar. Die leiert ja gerade in rekordverdächtigem Tempo eine Strophe nach der anderen herunter. Da kann sie unmöglich nebenbei noch andere Geräusche verursachen. Außerdem kommt mir die Stimme plötzlich sehr bekannt vor. Als ich das Poster von Bruno Barrikade trocken gewedelt habe, hat es in meinem Kopf genauso geklungen. Mir wird ganz komisch bei dem Gedanken, dass ich Stimmen höre, die außer mir niemand hört. Ich drehe mich um und frage Hannibal leise, ob er glaubt, dass man vom Postertrocknen eine Meise bekommen kann. Hannibal guckt mich an, als hätte ich hundertprozentig eine Meise und schüttelt den Kopf.

„Uff“, meldet sich da die Stimme erneut und ich bin mir jetzt fast hundertprozentig sicher, dass sie in meinem linken Ohr steckt. Doch bevor ich der Sache weiter auf den Grund gehen kann, klingelt es plötzlich und die Freistunde ist vorbei.

Wieso Freistunden immer viel schneller vergehen als Unterrichtsstunden ist mir wieder mal ein Rätsel. Rudi erklärt mir, dass das an den verschiedenen Eigenschaften der Stunden liegt, welche man schon an den Wörtern „Frei“ und „Unter“ ablesen kann. In einer Freistunde ist man frei und glücklich und die Zeit vergeht wie im Flug. In einer Unterrichtsstunde dagegen wird man unterdrückt. Da hat man nichts zu lachen und die Zeit wird zur Qual.

Im nächsten Moment kommt Fräulein Lieblich ins Klassenzimmer gerauscht und flötet gut gelaunt: „Guten Morgen, ihr Lieben. Ich hoffe, ihr hattet eine lehrreiche Freistunde. Direktor Kittel hat mir erzählt, dass ihr etwas vorbereitet habt. Und ich soll mich überraschen lassen. Na, da bin ich jetzt aber mal mächtig gespannt.“ Plumps, lässt sie sich auf die Polster von ihrem Lehrerstuhl fallen und blickt uns erwartungsvoll an. Wie immer in solchen Augenblicken, wo alle etwas sagen dürfen aber keiner etwas sagen will, ist es jetzt totenstill im Raum. Doch schon schnellt die Heidelbeere vom Stuhl hoch und alle atmen auf. Auf unsere Heidelbeere ist zum Glück Verlass. Sie spricht, im Gegensatz zum Rest der Klasse, gern und viel. Deshalb haben wir sie auch einstimmig zu unserer Klassensprecherin gewählt. Und auch diesmal werden wir nicht enttäuscht. Als sie mit ihrer Geburtstagsglückwunsch-Ballade fertig ist, ist die Unterrichtsstunde beinahe vorbei und wir anderen sind so gut wie gerettet. Fräulein Lieblich ist gerührt und verpasst der Heidelbeere eine Eins und viel Lob. Doch dann rutscht ihr Finger im Klassenbuch weiter abwärts und bleibt schließlich in einer Region hängen, in der es für mich ungemütlich wird. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr sagt sie: „Fünf Minuten haben wir noch. Edgar, dir fehlt noch eine Zensur. Lass uns doch bitte einmal hören, was du vorbereitet hast.“ In solchen Momenten wünsche ich mir immer, dass alle in meiner Klasse auch Edgar heißen mögen. Dann könnte ich nämlich einfach sitzen bleiben und so tun, als wäre ein anderer Edgar gemeint und mich ginge das alles nichts an. Aber leider haben Eltern nicht immer den gleichen Geschmack, wenn es um die Namen ihrer Kinder geht. Und wenn man großes Pech hat, haben sie dann kurz vor der Namensverleihung auch noch irgendeinen doofen Film gesehen, der dann alles noch schlimmer macht. So wie bei Hannibal. Das Pech habe ich zwar nicht, aber blöd ist es trotzdem, dass ich jetzt hier weit und breit der Einzige bin, der Edgar heißt. Mein Herz wummert mächtig und der Hals fühlt sich plötzlich furchtbar trocken an. Die Heidelbeere hat eben fast eine ganze Unterrichtsstunde lang ein Gedicht heruntergerattert und ich habe noch nicht mal einen Zwei-Minuten-Reim parat. Ich habe in meinem Deutschbuch einfach nichts Brauchbares gefunden. Nur wird mir Fräulein Lieblich das jetzt garantiert nicht glauben.


„Oh, Mann, das wird bestimmt eine Sechs minus geben“, seufze ich deprimiert. Da höre ich plötzlich in meinem linken Ohr wieder diese Stimme. Und ohne dass ich jetzt irgendwas dagegen tun kann, plappere ich ihr plötzlich automatisch nach:

„Fritzchen Frosch und Mia Mücke

kaufen sich eine Perücke.

Montag darf sie Mia tragen,

Dienstag will es Fritzchen wagen,

Mittwoch steht Mia in Locken,

Donnerstag lässt Fritz sie rocken,

Freitag geht die Mücke schick,

Samstag ist der Frosch im Glück.

Sonntag hängt sie an der Wand,

– da ist Glatzentag im Land.“

Die Klasse tobt und ich möchte am liebsten ganz schnell im Erdboden versinken. Was für eine Blamage! Etwas Unpassenderes gibt es ja wohl kaum, um Fräulein Lieblich zum Geburtstag zu gratulieren. Weshalb habe ich bloß die doofe Stimme nachgeäfft? Und wieso höre ich sie überhaupt? Oder bilde ich mir das vielleicht alles bloß ein und es gibt sie gar nicht? Aber woher kommt dann dieses alberne Gedicht? Ich kenne es doch überhaupt nicht! Und wie kann ich etwas aufsagen, wovon ich doch eigentlich keinen blassen Schimmer habe?

„Das Gedicht steht ja gar nicht im Deutschbuch!“, ruft die Heidelbeere und zieht einen Schmollmund. Klar, steht es nicht da drin. Es kommt ja aus meinem linken Ohr, denke ich zerknirscht.

„Das ist Unfair! Wir sollten Gedichte aus dem Deutschbuch nehmen“, mault die Heidelbeere weiter. Typisch! Sie will immer die Klassenbeste sein und gönnt niemand anderem den Ruhm. Nicht mal, wenn er so peinlich ist, dass sich die ganze Klasse darüber scheckig lacht. Nur Fräulein Lieblich ist jetzt ganz still. Wahrscheinlich hat es ihr die Sprache verschlagen. Doch plötzlich klappt sie das Klassenbuch zu und murmelt: „Mit der Benotung, das überlege ich mir noch. Komm doch nach der Hofpause bitte mal zu mir ins Lehrerzimmer, Edgar. Ich habe etwas mit dir zu bereden!“ Dann rauscht sie aus dem Zimmer und ich falle wie ein nasser Sack auf meinen Stuhl zurück. Ich kann mir schon denken, was sie mit mir zu bereden hat. Das gibt einen saftigen Eintrag ins Elternheft. Was denn sonst?

Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte

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