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»Into the Wild«

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Big Sur. Zweimal drei Buchstaben. Zwei kurze Silben, eine englische und eine spanische, aber nicht spanisch ausgesprochene. Zwei Silben, die eigentlich nicht zusammengehören und klanglich kontrastieren. Und doch eine Einheit, unter der man sich unmittelbar etwas vorstellen kann. Etwas Gewaltiges. Denn Sur – das klingt wie Sir, das hat etwas Majestätisches und Herrschaftliches. Mit diesem winzigen Zwitternamen, mit dieser eigentümlichen Zusammen-Setzung von Unvereinbarem, verbindet man unwillkürlich auch ein gewaltiges Versprechen – hier beginnt der Große Süden, hier tut sich eine gänzlich neue, unbekannte Region von gigantischen Ausmaßen auf. Für Neugierige, Neuankömmlinge und Entdeckernaturen: eine Verheißung.

Big Sur. Ein schwach besiedeltes Niemandsland, in dem nur die Elemente zu Hause zu sein scheinen und kein sterbliches Wesen eine echte Heimat findet. Hier, im einstigen »el país grande del sur«, aus dem zwischenzeitlich »el sur grande« wurde, bevor man eine merkwürdige Mischbezeichnung dafür prägte; hier, wo sich ein riesiges Stück Land weder von den spanischen Kolonisten noch von den mexikanischen Verwaltern oder heutzutage von den Amerikanern vereinnahmen ließ und lässt, zerschellen die Wellen und brechen sich die heranflutenden, eisigen Wassermengen an der rauen, untergründigen Strömungen ausgesetzten Küste. Noch dazu, um es mit den Worten des Komponisten John Adams zu sagen, in einem quälend langsamen, aufreizend trägen Rhythmus von Furcht einflößender Kraft.

Big Sur. Kein Ort – eher eine Gemütsverfassung. So etwas wie ein Codewort für eine ungebrochene, stets erneuerbare Faszination. Eine Chiffre für Wildnis. Angesichts der Konfrontation mit einem unbezähmbaren »Nichts«. Pure Faszination? Oder vielmehr ein kaum durchschaubares Spiel aus Annäherung, Scheu und Berührungsangst, in dem man weniger Akteur als Getriebener ist – einhergehend mit einem mal beängstigenden, mal euphorisierenden, mal suchtverstärkenden Schwindelgefühl, das jeder Big-Sur-Novize durchmachen muss, wenn er an dieser Schwelle zum Pazifik angelangt ist und von der Steilküste in Richtung Hawaii und Asien blickt. Ein Küstenabschnitt, der viele Kilometer nördlich von Los Angeles verläuft und den seit jeher eine geradezu mythische Aura umgibt. Von Osten anreisend, macht sich so mancher Auswanderer auf, bewegt sich von der Atlantikküste, wo die Luft »mit ihrem Sole-Geschmack und dem salzigen Duft« (Adams) schon die noch in weiter Ferne liegende Begegnung mit dem Gegenüber, ganz im Westen des Kontinentes, »anzukündigen scheint«, auf Big Sur zu. Nach der Überquerung Nordamerikas zu guter Letzt an die schroffen kalifornischen Uferstreifen und an den »westlichen, jäh abfallenden Festlandsockel zu gelangen« ist nämlich noch heutzutage ein erschütterndes, im Wortsinne sensationelles Erlebnis.

Big Sur – eine von San Francisco und L.A. so ziemlich gleich weit entrückte Gegend, die aus nichts als zerfurchter Küstenlinie zu bestehen scheint. Von den hoch aufragenden Bergen und Gipfeln der imposanten Santa Lucia Mountains und vom dominierenden Cone Peak vollständig vom Rest des Landes abgetrennt. Von den Luxusvillen der Superreichen im nördlich gelegenen Carmel und im südlich gelegenen Santa Barbara unbeeindruckt und nicht aus der Ruhe zu bringen.

Mit Big Sur ist, im engeren Sinne, ein je nach Definition fünfundsiebzig bis neunzig Meilen langer Abschnitt zwischen Santa Cruz und Monterey im Norden und Morro Bay und San Luis Obispo im Süden benannt.

Verwaltungstechnisch ist Big Sur keine präzise »Einheit«. Und obwohl es einen Hauptort gleichen Namens gibt, der eher einer Ansammlung weniger Gebäude gleicht und als Drehscheibe für allgemeine Erledigungen und Einkäufe für den täglichen Bedarf fungiert, lässt er sich nicht als Dorf oder gar Stadt bezeichnen, sondern stellt bestenfalls eine praktische Begegnungsstätte dar. Geografisch und topografisch lässt sich Big Sur als ein jahrtausendelang völlig unzugänglicher und somit auch unerschlossener Küstenstreifen im mittleren Kalifornien definieren. Parallel zur ehemaligen königlichen Straße »El Camino Real«, die, als Ergänzung und Kontrapunkt des Meeressaums, weiter innen im Land, in einiger Entfernung zur Küste sowie teilweise den Tälern und mäandernden Kurven des Salinas River folgend, verlief. Historisch betrachtet spanisch-mexikanischen Ursprungs und dennoch ein ganz wesentlicher Bestandteil des »weißen« amerikanischen Traums.

Noch vor wenigen Dekaden »gab es« Big Sur, einstmals ein marginaler Bestandteil des mexikanisch-neuspanischen Territoriums »Alta California«, also gar nicht – mangels Straßen, Pfaden, geeigneter Querverbindungen, mangels Häfen oder geschützter Buchten. Eine auf den ersten Blick abweisende, für Menschen vollkommen unattraktive Region ohne Infrastruktur. Über Jahrhunderte ist wohl kaum jemand hierhergelangt – abgesehen von einigen Ureinwohnern, versprengten mexikanischen und spanischen Besatzern oder gelegentlich ein paar Schiffbrüchigen, die dann für alle Zeit, als dauerhaft Isolierte, in der Falle saßen, schlimmstenfalls elendig zugrunde gingen. Für die sich kaum eine Chance auftat, von dort zurück in die »Zivilisation« zu gelangen oder gerettet zu werden. Ein Naturparadies »in the middle of nowhere«, keine zwei Flugstunden von zwei Millionenstädten und riesigen Ballungszentren entfernt und paradoxerweise bis heute einzig einer staunenswert vielseitigen Fauna und Flora vorbehalten.

Alles Humane störte hier, wo Redwoods, verwunschene Strände und Endlosküsten das Sagen haben, nur. Von Siedlungen oder Geschichte war nicht die geringste Spur vorhanden. Mit dem, was wir »Kultur« nennen, war bislang keine Kreatur in Berührung gekommen. Big Sur: ein so mächtiges wie diskretes Fleckchen Erde, das der Inbesitznahme trotzte, das sich Eroberern und abenteuerlustigen self-made men standhaft verweigerte. Das sich nicht unterwerfen noch verwerten ließ. Widerständiges Land. Jungfräuliches Land.

Je weniger man über dieses prächtige, alle Sinne überwältigende Big Sur wissen oder auch nur in Erfahrung bringen konnte, desto mehr wurde es besungen. Desto häufiger wurden die wildesten Gerüchte über seine Beschaffenheit und seine Magie in die Welt gesetzt, gelangten vage Ahnungen und aus der Luft gegriffene Legenden über sein »fabelhaftes« Wesen in Umlauf, desto faszinierender, desto unerklärlicher und anziehender wurde diese rough coastline. Manche Debütanten, so wusste der Schriftsteller und Big-Sur-Experte Henry Miller aus Erfahrung, ließen sich zu wenig tauglichen Vergleichen »mit gewissen Teilen des Mittelmeergestades« hinreißen, andere bemühten Ähnlichkeiten mit der Küste Schottlands. Aber solche Gegenüberstellungen und bemühten Parallelen »besagen nichts. Big Sur hat ein eigenes Klima und einen eigenen Charakter. Hier berühren sich die äußersten Gegensätze. Es ist eine Gegend, wo man sich immer des Wetters, des Raumes, der Großartigkeit der Landschaft und ihres beredten Schweigens bewusst ist.«

Bis in die Neuzeit bewahrte diese coastline ihre Unschuld und ihre Geheimnisse. Während der Great Depression konnte man dann endlich hinter den Vorhang schauen und Einblicke gewinnen, was sich hinter diesem Naturwunder verbarg: Erst mit dem Bau eines neuen Abschnitts des mythischen kalifornischen Highway One, der sowohl eine bewundernswerte Pionierleistung von Straßenbauern, Ingenieuren und Architekten als auch eine veritable technische Errungenschaft darstellte und im Rahmen des New Deal fertiggestellt wurde, rückte Big Sur in den späten 1930ern allmählich in den Blick einer interessierten, ja neugierigen Allgemeinheit. Von diesem Highway aus, auch California State Route One – mit ihren Sektoren Cabrillo, Shoreline oder Pacific Coast Highway – genannt, wurden erste Aufnahmen angefertigt, präzisierte sich die Vorstellung von dieser einstmals unvorstellbaren Terra incognita.

Wer es eilig hat – das gilt auch heute noch, weit mehr als damals, vor dem Zweiten Weltkrieg –, durchquert Kalifornien von Nord nach Süd oder umgekehrt statt auf dem begeisternd schönen Sightseeing- und Naturwunder-Highway Carmel–San Simeon auf einer jenseits der Gebirgskette verlaufenden, inländischen Achse. In unseren Tagen vornehmlich auf der hoffnungslos überfüllten Interstate Five, einer mehrspurigen Autobahn, auf der sich tagtäglich eine nicht enden wollende Blechlawine aus den Suburbs von L.A. in die hoch entwickelten Bezirke östlich des Silicon Valley und der San Francisco Bay quält, von einer Metropolregion in die nächste.

Wer sich dagegen Zeit nimmt – wer auch heute noch die nötige Muße für dieses einschneidende Erlebnis findet –, der wählt eben mit Bedacht den Küstenhighway One. Und was man dort während einer mehrstündigen, kurvigen Fahrt in geringem Tempo an grandiosen Naturspektakeln zu sehen und an einzigartiger Ruhe zu hören bekommt, sucht seinesgleichen. Selbst welterfahrene, hartgesottene oder blasierte Reisende, die so schnell nichts mehr beeindrucken kann, verstummen angesichts solcher, kaum in Worte zu fassender Eindrücke. Felsen. Zerklüftete Berghänge. Wind. Stille. Tosende Brandung. Weite. Unverstellte Nacktheit. Ein einziger Horizont und unzählige Horizonte, so weit das Auge reicht.

An den wenigen Aussichtspunkten mit ihren wahrhaft atemberaubenden Panoramen halten die Besucherinnen und Besucher an und halten inne. Nehmen diese Küste, der so gar nichts Südliches anhaftet, an der aber alles, wirklich alles »big« und überdimensioniert ist, ergriffen in den Blick. Starren von der Bixby Creek Bridge fast andächtig in die Tiefe, legen Stopps am Point Sur und in Notleys Landing, bei Gorda oder Ragged Point ein. Oder nehmen die Piedras Blancas Rookery, eine beachtliche Seeelefanten-Kolonie, in Augenschein. Ohne Zweifel zählt dieser imposante Abschnitt der Küstenstraße, gesäumt vom Los Padres National Forest, den Carmel Highlands, meistens westlich des Pfeiffer State Park und des Julia Pfeiffer Burns State Park verlaufend, zu den Traumstraßen dieser Erde. Kommt einem Sehnsuchtspfad in eine »Sanfte Neue Welt« gleich, dem nichtsdestoweniger kaum noch etwas Liebliches eignet. Und wenn solche kontemplativen Zeitgenossen mit Geduld, Ausdauer und Einfühlungsvermögen bis zum Abend ausharren, bemerken sie als Erstes, dass diese Küste auf einen ewigen Sonnenuntergang ausgerichtet ist.

Alles, was man von hier aus sieht und wahrnimmt, ist Westen, ist nichts als Leere und blaue Fläche, gehört einzig und allein dem sunset. Das Meer in Cinemascope. Womöglich bekommt man schon beim ersten Schauen und Staunen eine Ahnung davon, was mit Begriffen wie innerer Einkehr, emotionaler Freiheit, Unberührtheit und fundamentaler Versenkung ins Eigentliche gemeint sein könnte. Spürt die Notwendigkeit, ein längeres Verweilen als große, womöglich unüberwindbare mentale Herausforderung anzunehmen.

Noch bis in unsere Tage ist Big Sur ein Inbegriff von Unversehrtheit, gilt als Musterbeispiel intakter Natur und bemerkenswerter ökologischer Stabilität, präsentiert sich als eine friedfertige, heilige Örtlichkeit, an der die potenziell verheerende Präsenz von »westlichen Werten« unerwünscht ist und wo Touristen eigentlich nichts zu suchen haben. Letzteres hat sich inzwischen allerdings leider gründlich geändert – insbesondere seit dem Jahrtausendwechsel fallen Mietwagenfahrer und Kalifornien-Neulinge, Einheimische wie Ausländer, wie Heuschrecken nach Big Sur ein, obwohl »Sehenswürdigkeiten«, Parkplätze und öffentliche Toiletten Mangelware sind, von Einkaufsmöglichkeiten, Lokalen oder »Ortschaften« ganz zu schweigen. Überdies machen Erdrutsche, Überschwemmungen, Waldbrände und monatelange Straßensperrungen der Region schwer zu schaffen. Durchaus problematische Aspekte.

Big Sur, die Heimat von Mammutbäumen, Grauwalen, Seeottern und Seelöwen, von Salamandern, Geiern, Zugvögeln und Berglöwen sowie seit Neuestem wieder die Brutstätte kalifornischer Kondore, galt vor dem neuzeitlichen Sündenfall lange als modellhafter secret spot, wo die Elemente, wo Tiere und Pflanzen ohne Eingriff von außen über die Zeitläufte hinweg sehr gut miteinander ausgekommen und autark geblieben sind. Wo man der Erosion nicht mal im Zeitraffer auf die Schliche kommen konnte. Eine Befindlichkeit, die man im Grunde auch weiterhin respektieren, ein Urzustand, den man tunlichst in Ruhe lassen sollte.

Genau diese Anmaßung machte gleich nach Vollendung des Carmel–San Simeon Highway und der damit einhergehenden Zugänglichkeit für jedermann und -frau offenbar aber auch – zunächst für Prominente, Lebenskünstler, Ex-Großstädter und Pioniere eines alternativen Lifestyle – einen seltsamen Reiz aus: diesem sich eigentlich wie von selbst aufdrängenden Tabu zuwiderzuhandeln oder es einfach zu ignorieren. Und sich stattdessen einer solchen Kargheit und spröden Natur willentlich auszusetzen, einem solch harschen Klima die Stirn zu bieten und »heimisch« zu werden, indem man sich ganz einfach, allen vernünftigen Einwänden zum Trotz, hier für eine gewisse Zeitspanne anzusiedeln versuchte – auch wenn man dabei zum einen Gefahr lief, ins natürliche Gleichgewicht einzugreifen und es damit ordentlich ins Schwanken zu bringen, oder wenn man zum anderen, mit einer gehörigen Portion Naivität ausgestattet, in Kauf nahm, die eigene Existenz extremen Risiken auszuliefern.

Viele verspürten Lust auf das Abenteuer Big Sur. So entstand im Laufe der frühen 1940er- bis in die 1960er-Jahre hinein, sowohl am »Hauptort« als auch in dorfloser Einöde, an Hängen mit Panoramablick oder an einigermaßen windgeschützten Küsteneinschnitten, so etwas wie eine – wenngleich weit versprengte, kaum kohärente – Künstlerkolonie. Mit nur wenigen Dutzend Seelen, verstreut auf Aberdutzende von Quadratkilometern, wo man nur selten einem Artgenossen begegnete, aber gelegentlich einen Straßenkreuzer, ein Forstfahrzeug oder Bautrupps auf der Ladefläche eines Trucks vorbeibrausen sah oder resigniert unbekannten Vorbeiziehenden hinterherblickte, die sich in Staubwolken auf und davon machten.

Was fast alle unterschätzten: Es war kompliziert und umständlich, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Man hauste, nolens volens, in improvisierten Unterkünften, man musste oftmals auf Strom und Heizung verzichten. Keine schmucken Residenzen oder prachtvollen Zweitwohnsitze hatte Big Sur seinerzeit zu bieten, anfangs kam nichts als bescheidene Hütten infrage, Verschläge oder Buden gar, mit dem Allernötigsten ausgestattete cabins. Und Ablenkungen: Fehlanzeige.

Alles, nur keine Idylle. Alles, nur kein lieblich-idealisierter Locus amoenus. Omnipräsent hingegen: beißende Kälte und wilder Sturm, brütende Hitze und Dauerregen, Mangel an Anregungen und die außerdem fortgesetzt deprimierende Unmöglichkeit, rasch oder effektiv zu kommunizieren. Mit Kopfschütteln reagierten Außenstehende, wenn sie gelegentlich lasen oder hörten, wie Intellektuelle und Schauspieler hier absichtlich mit dem Phänomen Verzicht experimentierten; sie machten sich rasch über vermeintliche Greenhorns und Esoteriker, über Versager und Verrückte lustig. Über berühmte Leute wie etwa Rita Hayworth oder Orson Welles, die aus einer Laune heraus hierbleiben wollten und Sesshaftigkeit ernsthaft in Erwägung zogen – und die sich gleichwohl rasch wieder aus dem Staub machten. Über Starrsinnige, die an den unwahrscheinlichsten Orten Restaurants aufmachten oder eine Bibliothek ansiedelten, über Eigenbrötler, die ohne Not monatelang in windschiefen Kabuffs ausharrten und, in einem Getto aus lauter Einsiedlern, am Ende zu weltfremden Sonderlingen mutierten.

Die ersten unter diesen Aussteiger-»Siedlern« kümmerten solche Vorurteile oder auch von »Vernunft« gekennzeichneten Vorbehalte allerdings wenig: Ihnen war es gleichgültig, wenn sie sich in den Augen von Schreibtischtätern und Ignoranten systematisch lächerlich machten. Ihnen schwebte etwas anderes vor: Sie suchten ganz bewusst nach dem Nichtvorhandensein von Annehmlichkeiten. Sie wollten sich gezielt in einen anderen Zustand begeben. Sie begannen sich ernsthaft mit Entbehrungsreichtum auseinanderzusetzen. Sie bejahten die Askese.

Ihnen allen gemein – auch denen, die irgendwann zu zweifeln begannen, die mit ihrem selbst gewählten Exil haderten, die scheiterten, die durchdrehten oder nach langen Monaten dann doch die Flucht antraten und den Rückzug ins Bequeme wählten – war eine tief greifende, unerschütterliche Bewusstseinsänderung.

In den stark variierenden Aussagen solcher Persönlichkeiten über ihre jeweils erste Begegnung mit Big Sur, Beschreibungen, die nahezu immer von einem sinnlich-körperlichen, »auf sehr komplexe Weise emotionalen Effekt« handeln, wie John Adams es ausdrückte, ergeben zusammengenommen ein staunenswertes, widersprüchliches Kaleidoskop. Viele Romanciers und Maler, viele Lyriker und Komponisten, viele Sänger und Wissenschaftler haben den Versuch unternommen, diesen Effekt und sein Echo (namentlich die Wirkung auf ihre Psyche) in Worte und Töne zu fassen oder einen angemessenen Ausdruck dafür zu finden. Es kam aber vor allem darauf an, welche Bedeutung sie ihren Erlebnissen zuschrieben und ihren Leserinnen und Hörern präsentierten, war das Erlebte ja oft für sie selbst kaum nachvollziehbar oder begreifbar.

Der Autor Richard Brautigan etwa bezeichnete, so despektierlich wie ironisch, in der Einleitung seines 1965 erschienenen Romans A Confederate General from Big Sur (dt. Ein konföderierter General aus Big Sur) das Santa-Lucia-Gebirge als »tausend Jahre alte Penne für Pumas und Flieder« und den Pazifik bei Big Sur »als Millionen Jahre alte, vergammelte Vergnügungsstätte für Abalonen und Seetang«. In seiner überspannten Fantasie schlug er Big Sur, historisch und geografisch natürlich unhaltbar, ohne Umschweife schalkhaft den Südstaaten der USA zu und machte ihre Naturphänomene im Nachhinein zu Kriegern und zu politisch handelnden Gestalten des Amerikanischen Bürgerkriegs: »Ehrlich gesagt, es ist schwer zu glauben, dass diese einsamen, kahlen Berge und kliffartigen Strände Kaliforniens Rebellen gewesen sind, dass die Rotholzbäume, die Zecken und Kormorane auf diesen schmalen hundert Meilen Land, die zwischen Monterey und San Luis Obispo liegen, die Fahne der Rebellen geschwenkt haben« sollen. Das war natürlich pure Erfindung und auch ausgemachter Quatsch – doch Humor und Absurditäten, Wirklichkeitsverzerrung, Karikatur und Überzeichnung hatten in Big Sur von jeher ihren Platz.

Nicht selten kamen Effekt und Echo einem ästhetischen Clash gleich: So manche dieser überaus empfindsamen Künstlerseelen waren von Big Sur wie vom Donner gerührt, verstört oder auch nach Tagen noch reichlich desorientiert. Eine kleine Ewigkeit brauchten sie, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Einige Sinnsucher kämpften mit ihrer Ratio und befanden sich inmitten eines Orkans widerstreitender Emotionen. Sie fühlten sich einer zerstörerischen, gleichwohl erhabenen Kraft ausgesetzt. Überwältigt und zugleich »am Ziel« angelangt.

So entstanden, im Laufe der Jahrzehnte, bildmächtige, aufregende Hommagen und Hymnen an Big Sur – und auch regelrechte Abrechnungen mit dem unwirtlichen, ja feindseligen, doch landschaftlich verlässlich grandiosen Küstenabschnitt. In den Gedichten, Berichten und Romanen einer Handvoll von Autoren, in den Songs und Musikstücken einer Handvoll von Interpreten werden die Erfahrungen, die sie heraufbeschwören, stets von einer Aufgabe des emotionalen Gleichgewichts und von einem Kontrollverlust begleitet, ist eigentlich immer von Grenzüberschreitungen und Bewusstseinserweiterung die Rede, von intimen Gefühlen und seelischen Abgründen.

Regelrecht versunken und abgetaucht waren diese Menschen und begaben sich in die Obhut dieser Region. Darunter eine ganz eigene Spezies, die deep thinkers and heavy drinkers. Jede Menge schwarze Schafe auch. Freundliche Neurotiker. Loser. Sowie Leute, die ihr kreatives Pulver längst verschossen hatten. Und sie alle genossen, wenigstens zeitweise, dieses wohlige drifting away. Andere, weniger stabile Naturen gingen an dieser existenziellen Erfahrung zugrunde oder wurden an ihr irre – sie waren ihr einfach nicht gewachsen.

Was aber nahmen sie alle an Erkenntnissen mit aus Big Sur? Was war die für sie maßgebliche message? Und was lässt sich daraus lernen? Die meisten unter ihnen hätten wohl erwidert: Lektionen in Demut und Bescheidenheit. Werte und Zielvorstellungen, die für uns Heutige längst selbstverständlich sind – Kontemplation, Abschaltenkönnen, Reduzierung aufs Wesentliche, mutwillige Beschränkung, Konzentration. Spirituelle Wellness sozusagen. Annäherung an asiatische Verhaltens-, Lebens- und Denkformen. Entschleunigung. Pazifistische Tendenzen, Nachdenken über Formen gewaltlosen Widerstands und bürgerlichen Ungehorsams. Ein Lebensstil also, der in den 1940er- und 1950er-Jahren überhaupt erst einmal »gedacht«, gewagt und ausprobiert werden musste.

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