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Alanis oder Die Freiheit

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Beginnen wir mit einer richtigen kleinen Ouvertüre. Mit einem kurzen Film, der zugleich auch ein Lied ist. Ein Popsong mit zärtlichem Country-Touch, erst wenige Jahre alt. Trotz seines angenehmen, lockeren Grundtempos nicht glamourös oder anstachelnd, sondern beiläufig erzählend, leicht und in sich ruhend. Das unauffällige Lied einer schmalen, glücklich wirkenden und fortwährend lächelnden Frau: nicht mehr ganz jung, doch sehr präsent. Mitten im Leben stehend. Ganz allein, am Steuer eines Vintage-Straßenkreuzers, kurvt sie einen offenbar nur von ihr befahrenen Highway am Ozean entlang. An Abgründen vorbei, auf Meereshorizonte zu, in einer Gegend ohne Behausungen oder irgendein Anzeichen städtischen Lebens, in einer Gegend, in der allein die Natur dominiert.

Wobei die singende Fahrerin jede zurückgelegte Meile, jeden Ausblick in vollen Zügen zu genießen scheint. Unterwegssein als Selbstzweck, Fortbewegung durch unberührte Einsamkeit als Sinnstiftung. Um dann, ihre Rolle wechselnd, als Hitchhikerin, mit Gitarre und Umhängetasche als Gepäck, an einer staubigen Wegbiegung auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten. Oder einige Schnitte weiter ausgelassen an einem menschenleeren Strand entlangzutanzen, ihre dunkle Mähne dem Spiel des Windes ausliefernd. Oder ihren Blick in die Baumwipfel mächtiger Redwoods zu heben, in deren Geäst sich das morgendliche Sonnenlicht bricht. Oder sich, mit strahlendem Lachen, auf einem sattgrünen Rasen zu wälzen. Oder, als Gipfelstürmerin das ganze Universum umarmend, mit weiten Sprüngen dem Pazifikhimmel zuzustreben. Immer ist es ein und dieselbe Sängerin, im Hippie-Outfit, mit Schlapphut, Halsketten und Cowboystiefeln, die hier ihren Song abspult, sich von der Kamera feiern lässt und uns on the road in Dutzenden von Einstellungen ihren Traumort vorführt.

Der Star dieser musikalisch-filmischen Miniatur ist hingegen weniger sie selbst, Alanis Morissette, die diesen Titel 2012/13 als Bonustrack ihrem Album Havoc and Bright Lights hinzugefügt hat, sondern ein weltbekannter Küstenstreifen von schroffer Schönheit. In ihrem Video wird er wie in einem Super-8-Film ins richtige, ein wenig vergilbte Licht gesetzt. In ihrem Lied wird er ein ums andere Mal genannt, wie ein Mantra wiederholt, ja heraufbeschworen: Big Sur.

Der gleichnamige Song der kanadischen Liedermacherin, grundiert von Gitarren-Fingerpicking und einem unaufgeregt pulsierenden Beat, wie auch der dazugehörige Clip – ein echtes Roadmovie! – präsentieren sich Uneingeweihten wie Kennern als Quintessenz aller Big-Sur-Seligkeit. Sämtliche Klischees und Stereotype dieser mythischen Gegend sind hier versammelt und machen doch unbändige Lust, sich sofort in dieses raue kalifornische Paradies zu begeben – um unbekümmert zu leben und Freiheit verspüren zu dürfen: wie auf einer maritimen Route 66. Um es, nostalgieversessen, Alanis nachzutun. Ihr und uns begegnen Surfer und Aussteiger, Tramper mit gerecktem Daumen und Leute, die sie nach dem Weg fragt, Möwen und Raben. Straßen über Straßen ohne Gegenverkehr, verwaiste Hügel, Wiesen und Felsgrotten. Wir erblicken kilometerweite Strände, Klippen, Sonnenauf- und -untergänge zuhauf. Sixties-Feeling kommt auf. Momentaufnahmen und Versatzstücke: Klampfe in der Hand, Raubvögel, eine uralte Schreibmaschine, Mammutbäume, Berggipfel, Wälder und Buchten im Gegenlicht. Blumenkinder-Idyll, freie Liebe, ein im Wind flatterndes, ellenlanges Manuskript, das einer abgewickelten Klorolle gleicht oder auch einer Fahne oder einem Pamphlet. Gemeinsames Singen in der Dämmerung, Gespräche mit hobos, qualmende Joints, ein bärtiger Mann, der seine Finger zum Peace-Zeichen spreizt. Gesteinsformationen, von der Flut zurückgelassen und in kleine Inseln inmitten von nassem Sand verwandelt, von der Gischt umspült. Holzhütten auf Vorsprüngen mit atemberaubender Aussicht. Aneinandergereihte Briefkästen, allein auf weiter Flur.

Bilder wie Polaroid-Schnappschüsse, intensiv, für wenige Sekunden aufflackernd, verwackelt und kurz darauf schon ausgeblichen. Und mittendrin, ohne ein Gegenüber, die Singer-Songwriterin mit ihrem indianischen Äußeren und langen, im Meerwind wehenden Haaren. Kurz: eine Frau, die sich in einen Landstrich verliebt hat. An dem sie sich nicht sattsehen, von dem sie nicht genug bekommen kann. Und die, ungeschminkt und hoffnungslos romantisch, daraus eine wunderschöne Ode an diese majestätische Küste und die an ihr entlangführende Straße – den Highway One – macht. Big Sur.

Vier Minuten Sehnsuchtsmusik, vier Minuten appetitanregender Kurzfilm. Ein Ständchen. Ein kleines Fest der Lebenslust also, ein Bekenntnis zu einem Ort und einer Region, in der außergewöhnliche Glücksmomente gleich im Sekundentakt möglich scheinen. Am Anfang, noch bevor die Gitarre einsetzt und Alanis’ Stimme anhebt, lauschen wir für eine Weile der beeindruckenden Brandung, bekommen gigantische Wogen zu sehen, gegen die jeder Wellenbrecher machtlos wäre, spüren die Kraft des Meeres, das sich, laut Songtext »mit maskuliner Urgewalt«, in Felsnischen und an Steilküsten austobt, die Strände überschwemmt und den Klippen ordentlich zusetzt, eine fauchende, schwer bezähmbare Bestie. Die Windschutzscheibe und der Rückspiegel ihres in die Jahre gekommenen Flitzers dienen der Interpretin als Fenster in eine magische Welt. Und der Liedtext selbst setzt die entscheidenden Assoziationen frei, klappert all die Ausnahmegestalten ab, die Big Sur in der Vergangenheit ihre Aufwartung gemacht haben, damit es zu einer solchen Berühmtheit werden konnte. Eine ganze Ahnenreihe wird von Alanis ins Feld geführt, hemmungsloses Namedropping abgespult. Jack Kerouac und Henry – Miller natürlich – sind ihre Gewährsleute, Anaïs – Nin selbstverständlich – und Richard Brautigan ihre Garanten. Big-Sur-Urgestein. Ganz unbescheiden fügt sie sich und die früheren prominenten Bewohner und Besucher dieser Küste zu Paaren zusammen und nennt sich dabei zu allem Überfluss auch noch zuerst: Es geht um eine erfolgreich stattgefundene Ichfindung. »Me and Anaïs and Henry and Jack«, heißt es, oder auch: »Me and the Ohlone, the Esselen, the Salinan«, womit schon drei Stämme der indianischen Urbevölkerung genannt wären, die hier vor Urzeiten umhergestreift und auch ansässig waren, bevor der weiße Mann sie vertrieb und ausrottete. »Me and Julia, Helmuth«, singt Morissette und ist auf diese Weise auch mit den Pionieren, ersten Siedlern und legendären Ranchgründern der Big-Sur-Gründerzeit per Du; dass sie sie fast alle nur mit Vornamen erwähnt und sich selbstbewusst mit ihnen auf eine Stufe stellt, soll eine imaginäre Vertrautheit suggerieren – begegnet ist sie keinem der vielen Genannten, und auch gekannt hat sie keinen davon. Was zählt, ist, dass sie sich mit ihnen verbunden fühlt, in ihrer Aufbruchsstimmung und Verrücktheit, in ihrem Abenteuergeist, ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrem entdeckerischen Mut. Alanis gehört somit einer jüngeren Generation von Big-Sur-Verehrerinnen und -Verehrern an, die um die ruhmreiche und mythische Vorgeschichte des Landstrichs bestens Bescheid weiß. Sie ist einem Faszinosum erlegen, bekennt sich dazu und versteht sich nun als Erbin illustrer Vorgänger.

»Me« ist die zentrale Song-Silbe, ein lang ausgehaltener Spitzenton, der jeden Satz einleitet, jede herbeigewünschte Paarung beherrscht: Jeder der aufgerufenen Vorläufer ist von nun an ihr Partner. Und auch sonst kennt Alanis sich aus, wirft mit Codeworten wie »Molera« und »Ventana«, die Parks und Kultorte der Küste bezeichnen, nur so um sich, steigt den beliebten Bluff Trail hinauf, hat die entscheidenden Begriffe und Stichwörter parat. Wieder und wieder zählt sie visuell »typische« Highlights auf wie sich selbst überlassene Holzstämme, behelfsmäßige cabins und allgegenwärtige Frösche, hat selbstredend an einem »Schamanen«-Frühstück in einer kleinen Bucht teilgenommen. Fehlen darf ebenso wenig, dass die Bixby Creek Bridge, eines der wichtigsten landmarks am Highway, kurz in den Blick gerät. Sämtlich dienen sie als Belege für ihre Anwesenheit und ihr Angekommensein: gefilmte und besungene Postkartenmotive. Ihr Herzschlag, so verrät sie uns, werde bereits von den Wassergeräuschen im Wald bestimmt. Hier darf sie sich barfuß in der Natur verlieren, hier wähnt sie sich von ihrer Umgebung verstanden und gewärmt. Sie fühlt sich zugehörig. So ist es nur folgerichtig, dass sie bei jedem Refrain zum selben Schluss kommt, dass sie an jedem Strophenende mit Nachdruck bekräftigt: »Alle Straßen führen nach Big Sur, alle Fährten nach Hause laufen in Big Sur zusammen.« Ob sie sich hier nur vorübergehend aufhält oder für immer anzusiedeln gedenkt, bleibt offen. Aber zu ihrem home, ihrer Heimat, ist diese Küste, an der sie kristallklare Luft atmen und reichlich Ballast ihrer eigenen Vorgeschichte abwerfen kann, für sie mittlerweile unzweifelhaft geworden.

Fast beschleicht uns Zuschauer das Gefühl, von Alanis Morissette ein Big-Sur-Werbevideo vorgeführt zu bekommen, so »perfekt authentisch« ist hier alles, mit Inbrunst und Euphorie, in Szene gesetzt. Lässt sich eine noch emphatischere Hommage an den westlichsten Punkt des weiten amerikanischen Westens überhaupt vorstellen? Doch die magnetische Anziehungskraft, die diese Gegend am Ende der Welt auf sie ausübt, wirkt glaubwürdig und ansteckend. Ihr Enthusiasmus und auch ihr Stolz auf die gerade erworbene »Einbürgerung« haben etwas Unwiderstehliches. Was sie uns zu berichten hat, was sie uns präsentiert, das ist – wir nehmen es ihr ab – wahrhaft spektakulär.

Die letzten Szenen finden in der Abenddämmerung statt, die letzten Takte gehören dem sunset und dem Verebben der Emotionen. Ein ins Unendliche geweiteter Pazifikhimmel färbt sich erst orange, dann lila und schließlich blutrot. Einmal rollen die Wellen sogar für einen kurzen Moment rückwärts. Eine Gruppe friedlicher junger Menschen, nur noch als schwarze Silhouetten vor sattem Blau auszumachen, springt auf und wirft Hölzer und Stöckchen in die Luft – und geht so auf Tuchfühlung mit dem Universum.

Und Alanis? Sie entdeckt eine Tramperin am Straßenrand, setzt zurück, fordert sie zum Einsteigen auf. Die junge Frau, die sich zu ihr setzt und ihr zulächelt, ist niemand anders als sie selbst. Begierig, mitzufahren. Voller Optimismus. Zu allen Schandtaten bereit. »Me and me«, so könnte der nächste Refrain anfangen. Mit großen Namen braucht sie sich nun nicht länger zu schmücken, mit ihrem Vorwissen nicht länger anzugeben. Alanis, mittlerweile Schicksalslenkerin und Fahrgast zugleich, Alanis, die Wurzeln schlagen möchte und deren Glücksgefühle sich ganz von allein verdoppelt haben, ist frei.

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