Читать книгу Auf silbernen Gefilden - Jerzy Żuławski - Страница 4
Erster Teil
ОглавлениеEin Reisetagebuch.
Auf dem Monde den .....
Mein Gott, welches Datum soll ich angeben?! Jene mächtige Explosion, durch die wir uns von der Erde hinausschleudern ließen, zersprengte uns das Dauerndste und Festgeprägteste, was dort existiert, — zersprengte und zerstörte uns die Zeit. In der Tat, das ist furchtbar! Zu bedenken, daß es hier keine Jahre, keine Monate, keine Wochen gibt, noch unsere kurzen, wonnigen Erdentage ... Die Uhr sagt mir, daß bereits vierzig Stunden seit dem Augenblick verflossen sind, da wir hier herabfielen; wir fielen in der Nacht herab und die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Wir dürfen erst in einigen zwanzig Stunden hoffen, sie zu sehen. Sie wird aufgehen und sich träge am Himmel bewegen, neunundzwanzigmal langsamer als dort auf der Erde. Dreihundertvierundfünfzig Stunden wird sie über uns leuchten, und dann kommt wiederum die Nacht, die dreihundertvierundfünfzig Stunden dauert. Und nach der Nacht der Tag, wie der vorhergehende, und abermals die Nacht und dann der Tag, und so endlos weiter, ohne Veränderung, ohne Jahreszeiten, ohne Jahre, ohne Monate ...
Wenn wir es erleben werden ...
Wir sitzen ohne irgend etwas zu tun, eingeschlossen in unserem Fahrzeug und warten auf die Sonne. Oh, diese furchtbare Sehnsucht nach der Sonne!
Die Nacht ist zwar hell, unvergleichlich heller als unsere Nächte dort auf der Erde während des Vollmondes. Der mächtige Halbkreis der Erde ruht unbeweglich über uns am Zenit des schwarzen Himmels und überflutet mit weißem Licht diese entsetzliche Wüste um uns her. In diesem seltsamen Lichte ist alles so geheimnisvoll und tot ... und der Frost ... Oh, dieser furchtbare Frost! Sonne! Sonne!
O’Tamor ist seit der Zeit des Falles noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Woodbell, obwohl selbst verwundet, weicht nicht einen Augenblick von seiner Seite. Er fürchtet, daß es eine Gehirnerschütterung ist und hat wenig Hoffnung. Auf der Erde, sagte er, würde er ihn durchbringen. Aber hier, in dieser fürchterlichen Kälte, hier, wo wir als einzige Nahrung nur Vorräte von künstlichem Eiweiß und Zucker haben, wo wir mit Luft und Wasser sparen müssen ... Es wäre entsetzlich, O’Tamor zu verlieren, gerade ihn, der die Seele unserer Expedition ist! ...
Varadol, Martha und ich, ja sogar Selena mit den beiden Jungen, wir sind gesund. Martha scheint nichts zu wissen und zu fühlen. Sie folgt nur beständig Woodbell mit den Augen, wegen seiner Wunden beunruhigt. Der glückliche Tomas! Wie dieses Weib ihn liebt!
Oh, diese Kälte! Es scheint, daß unser verschlossenes Fahrzeug sich gleichzeitig mit uns in einen Eisklumpen verwandelt. Die Feder gleitet mir aus den erstarrten Fingern. Wann wird die Sonne endlich aufgehen!?
In derselben Nacht, siebenundzwanzig Stunden später.
Mit O’Tamor wird es immer schlimmer; man kann sich nicht täuschen — das ist schon die Agonie. Tomas vergaß, bei ihm wachend, seine eigenen Wunden und ist jetzt selbst so schwach, daß er sich hinlegen muß. Martha vertritt ihn bei dem Kranken. Woher nimmt diese Frau so viel Kraft? Seitdem sie sich von der ersten Betäubung des Falles erholt hat, ist sie am tätigsten von uns allen. Ich glaube, daß sie noch gar nicht geschlafen hat.
Oh, diese Kälte! ...
Varadol sitzt starr und schweigend da. Auf seinen Knien zusammengekauert liegt Selena. Er sagt, daß es ihnen beiden so wärmer ist. Die Jungen haben wir ins Bett gelegt, neben Tomas.
Ich habe versucht zu schlafen, aber ich kann nicht. Die Kälte läßt mich nicht schlafen — und dieses gespensterhafte Licht der Erde über uns! Man sieht nur wenig mehr als die Hälfte ihrer Scheibe. Das ist ein Zeichen, daß die Sonne unverzüglich aufgehen muß. Wir können nicht genau berechnen, wann dies erfolgen wird, da wir nicht wissen, auf welchem Punkte der Mondscheibe wir uns befinden. O’Tamor hätte das mit Leichtigkeit aus dem Stand der Gestirne berechnet, aber er liegt bewußtlos danieder. Nun wird sich Varadol an diese Arbeit machen müssen und ich begreife nicht, warum er es hinausschiebt.
Wir hätten nach der Berechnung auf den Sinus Medii fallen müssen, aber Gott allein weiß, wo wir uns wirklich befinden. Auf dem Sinus Medii müßte um diese Zeit die Sonne bereits scheinen. Vermutlich sind wir weiter nach „Osten“ gefallen, wie man auf der Erde die Seite des Mondes bezeichnet, wo für uns die Sonne untergehen wird, jedoch nicht weit von der Mitte der Mondscheibe, da die Erde über uns fast im Zenite steht.
Ich empfange so viele neue und seltsame Eindrücke, daß ich sie nicht zusammenfassen und ordnen kann. Vor allem dieses unerhörte, geradezu entsetzliche Gefühl der Leichtigkeit. Wir wußten auf der Erde, daß der Mond, der neunundvierzigmal kleiner und einundachtzigmal leichter als die Erde ist, uns sechsmal schwächer anziehen würde, obwohl wir uns seinem Schwerpunkte näher befinden; aber es ist zweierlei — etwas zu wissen oder etwas zu fühlen. Wir sind fast schon siebzig Stunden auf dem Monde und können uns noch nicht daran gewöhnen. Wir sind noch nicht imstande, die Anstrengung unserer Muskeln dem kleineren Gewicht der Gegenstände anzupassen, ja sogar nicht dem kleineren Gewichte unseres eigenen Körpers. Ich erhebe mich schnell von meinem Sitze und springe einen Meter in die Höhe, obwohl ich nur aufstehen will. Varadol wollte vor einigen Stunden aus einem starken Draht, der an der Wand unserer Behausung befestigt war, einen Haken biegen; er faßte ihn mit der Hand — und hob sich ganz in die Höhe! Er vergaß, daß er jetzt statt zirka siebzig Kilo nicht ganz dreißig Pfund wiegt! Jeden Augenblick wirft einer von uns gewaltsam die Gegenstände um sich, während er sie nur rücken will. Das Einschlagen eines Nagels ist geradezu unmöglich, weil der Hammer, der auf der Erde zwei Pfund wiegt, hier kaum einige hundertsiebzig Gramm schwer ist. Die Feder, mit der ich schreibe, fühle ich kaum in der Hand.
Martha sagte vor kurzem, daß sie den Eindruck habe, als wenn sie schon ein körperloser Geist geworden sei. Das ist eine ganz gute Erklärung. Es liegt wirklich etwas Unheimliches in dem Gefühl dieser fabelhaften Leichtigkeit ... man könnte tatsächlich glauben, daß man nur noch Geist ist, besonders beim Anblick der Erde, die am Himmel strahlt wie der Mond, nur vierzehnmal größer und heller als das die Erdkugel erleuchtende Nachtgestirn. Ich weiß, daß dies alles wahr ist — und trotzdem scheint es mir immer, als wenn ich träume oder mich in einem Theater befinde, ein seltsames Feenspiel anzusehen. Jeden Augenblick, denke ich, muß der Vorhang fallen, und diese Dekorationen werden verschwinden — wie ein Traum ...
Wir wußten doch vor unserer Abfahrt genau, daß die Erde über uns wie eine mächtige, unbewegliche Lampe, die mitten am Himmel hängt, scheinen würde. Ich wiederhole mir immer wieder, daß dies ganz natürlich ist: der Mond wandelt seine Bahn, immer mit der einen Seite der Erde zugewendet; infolgedessen muß sie den vom Monde aus auf sie Blickenden unbeweglich erscheinen. Ja, das ist doch so einfach, und dennoch versetzt mich dieses leuchtende Glasgespenst der Erde, das uns seit siebzig Stunden unbeweglich und hartnäckig aus dem Zenite anstarrt, in Schrecken.
Ich sehe sie durch die Scheibe, die in der oberen Wand des Fahrzeugs angebracht ist, und unterscheide mit bloßem Auge die dunklen Flecken der Meere und die hellen Flächen der Länder. Sie gleiten langsam an mir vorüber, brechen der Reihe nach aus dem Schatten hervor: Asien, Europa, Amerika; verkleinern sich am Rande des schillernden Globus und gehen unter, um nach vierundzwanzig Stunden wiederum zu erscheinen.
Es kommt mir vor, als wenn sich die ganze Erde in ein weitaufgerissenes Auge verwandelt hätte, das unbarmherzig, wachsam und staunend, auf uns niederstarrt; auf uns, die wir von ihr geflohen sind, als die ersten aller ihrer Kinder!
Gleich als wir nach dem Fall etwas zum Bewußtsein kamen und die eisernen Deckel abschraubten, die die runden Fenster unsres Fahrzeugs verdeckten, sahen wir sie über uns. Sie war in der letzten Phase ihres Zunehmens. Damals glich sie einem starr auf uns gerichteten Auge; jetzt senkt sich über diesen grauenhaft unbeweglichen Blick allmählich das Lid des Schattens. In dem Moment, da die Sonne wie eine flammende Kugel am schwarzen Himmel, ohne vorhergehende Dämmerung, emporsteigt, wird dieses Auge sich zur Hälfte schließen und wenn die Sonne senkrecht über uns steht, das Augenlid sich gänzlich niedersenken ...
Drei Stunden später.
Ich unterbrach diese Aufzeichnungen, mit denen ich die langen Stunden ausfülle, die wir gezwungenerweise tatenlos verbringen, als ich zu O’Tamor gerufen wurde. Niemals haben wir mit der furchtbaren Eventualität gerechnet, daß wir allein, ohne ihn bleiben könnten. Wir waren auf den Tod vorbereitet, aber auf den eigenen, vielleicht gemeinsamen, nicht auf den seinen! Und hier gibt es keine Rettung ... Tomas liegt ebenfalls im Fieber, und statt den Kranken zu behandeln, bedarf er selbst der Pflege. Martha weicht keinen Augenblick von ihrer Seite, sich einmal zu Woodbell, dann wieder zu O’Tamor wendend und wir stehen ratlos dabei und wissen nicht, was wir tun sollen.
O’Tamor ist noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen und wird es auch nicht mehr! Sechzig Jahre hat er auf der Erde gelebt, um hier ... Nein, nein, ich kann das Wort nicht niederschreiben, es ist furchtbar! Er! Gleich bei der Ankunft ...
Wir sind so entsetzlich allein in dieser langen, furchtbar kalten Nacht!
Vor einigen Stunden hat sich Martha, als wenn sie plötzlich von diesem Gefühl der grenzenlosen Leere und Einsamkeit erfaßt würde, mit zusammengefalteten Händen vor uns niedergeworfen. Sie weinte und rief immer wieder: „Auf die Erde, auf die Erde! Warum telegraphiert ihr nicht? Warum teilt ihr dort nichts mit? Seht, Tomas ist krank!“
Armes Mädchen! Was sollten wir ihr antworten?
Sie weiß so gut wie wir, daß unser Apparat schon ungefähr hundertzwanzig Millionen Meter vor dem Monde zu funktionieren aufgehört hat ... Endlich erinnerte Peter sie daran, aber als wenn die Übersendung von Nachrichten die Kranken retten könnte, drängte sie fieberhaft, daß man die Kanone aufstellen solle, die wir für den Fall des Unbrauchbarwerdens des telegraphischen Apparates von der Erde mitgenommen haben. Dieser Schuß ist jetzt die einzige, letzte Möglichkeit, uns mit denen, die dort zurückgeblieben sind, zu verständigen.
Varadol und ich gaben nach und wagten uns aus dem Fahrzeug heraus. Ich gestehe es, daß die Angst vor diesem Schritt mich schüttelte. Dort, hinter den uns schützenden Wänden ist in der Tat schon nichts mehr als Leere ... Das Barometer zeigt nämlich draußen ein Vorhandensein von Atmosphäre an, deren Dichte nicht einmal den dreihundertsten Teil unserer Erdluft erreicht. Der Umstand, daß die Atmosphäre, wenn auch in einer solchen Verdünnung, überhaupt existiert, ist für uns überaus günstig, da er uns hoffen läßt, daß wir sie, auf der anderen Seite, in zum Atmen genügender Dichte vorfinden werden. Ach, mit welchem Zagen steckten wir vor einigen Stunden das Barometer nach außen! Anfangs sank das Quecksilber so gewaltig, daß es uns schien, als wenn es bis zum Nullpunkt herabfiel. Zitternde Angst schnürte uns die Kehle zu; das hieße — eine absolute Leere, und mit ihr der unabwendbare Tod! Aber nach einer Weile hob sich das Quecksilber in der Röhre auf 2,3 Millimeter! Wir atmeten auf, obwohl man in dieser Luft eigentlich gar nicht atmen kann! Und nun sollten wir, zwecks Aufstellung der Kanone, in diese Leere hinausgehen! Nachdem wir unsere „Taucheranzüge“ angelegt und über dem Nacken die Behälter mit verdichteter Luft befestigt hatten, stellten wir uns in der Vertiefung, die sich in der Wand des Fahrzeugs befand, bereit. Martha verschloß hinter uns die Innentür ganz dicht, damit nicht die so wertvolle Luft zugleich mit uns entweichen sollte, und dann öffneten wir den äußeren Deckel ...
Wir berührten mit den Füßen den Mondgrund, und in diesem Augenblick umfaßte uns eine entsetzlich betäubende Stille. Ich sah durch die Glasmaske auf Peters Gesicht und bemerkte, daß er die Lippen bewegte; ich dachte mir, daß er spreche, aber ich hörte keinen Laut. Die Luft ist hier zu dünn, als daß sie eine Menschenstimme übermitteln könnte. Ich hob einen Stein auf und warf ihn. Er fiel langsam, langsamer als auf der Erde und ohne jegliches Geräusch. Ich wankte wie ein Betrunkener; ich glaubte wirklich schon in der Welt der Geister zu sein.
Wir mußten uns durch Gesten verständigen. Die Erde, die uns genährt hat, verhalf uns dazu durch ihr Leuchten.
Wir nahmen die Kanone heraus, die in einer nach außen zu öffnenden Seitenwand untergebracht war, und ein Gefäß mit Explosionsmaterial, das für sie besonders hergestellt wurde. Diese Arbeit ging leicht vonstatten, da die Kanone hier kaum den sechsten Teil dessen wog, was ihr Gewicht auf der Erde betrug.
Jetzt hieß es nur das aufgestellte Geschütz genau bis zur Bleischnur zu laden, nachdem man in die hohle Kugel eine Karte gelegt hatte; bei der Leichtigkeit der Gegenstände auf dem Mond mußte diese Explosionskraft vollständig genügend wirken, um sie in gerader Linie auf die Erde zu befördern. Aber es war uns unmöglich, diese Arbeit zu vollenden. Eine unbeschreiblich entsetzliche Kälte schnürte uns wie mit eisernen Krallen die Brust zusammen. Seit ungefähr dreihundertundzehn Stunden hat hier die Sonne nicht mehr geschienen, und die Atmosphäre ist nicht dicht genug, so lange Zeit hindurch die Wärme der während des langen Tages sicherlich erglühten Steine festzuhalten ...
Wir kehrten zu dem Fahrzeug zurück, das uns wie ein Paradies an Wärme erschien, obwohl wir mit dem Feuer sparen. Vor dem Aufgang der Sonne, die diese Welt erwärmen wird, ist es unmöglich, die Versuche, hinauszugehen, zu erneuern. Und diese Sonne will und will nicht kommen!
Wann wird sie endlich erscheinen, und was wird sie uns bringen?