Читать книгу Wie Nonni das Glück fand - Jón Svensson - Страница 4

1 Nonnis Traum von der weiten Welt

Оглавление

Wie man es in den „Nonnibüchern“ lesen kann, verbrachte ich meine zwölf ersten — überaus glücklichen — Jugendjahre bei meinen Eltern in Nord-Island.

Ich wuchs auf wie eine wilde Blume in Gottes freier Natur, inmitten der stolzen isländischen Berge, nahe dem Meeresufer.

Erzogen wurde ich nach den Grundsätzen der meisten isländischen Familien, nämlich in der grösstmöglichen Freiheit.

Nach althergebrachtem normannischem Gebrauch lässt man dortzulande den Kindern reichliche Freiheit — nicht damit sie ungezogen werden, sondern zu dem Zweck, dass sie sich selbst helfen lernen und sobald wie möglich zu einer gewissen Selbständigkeit gelangen. Die Kinder sollen nicht wie willenlose Geschöpfe herumgeschoben und auf Schritt und Tritt überwacht werden.

Selbstverständlich hat diese Freiheit ihre Grenzen: mit grösster Strenge wird Gehorsam und gutes Betragen gefordert. Darüber wird unerbittlich gewacht; denn Vornehmheit ist Ehrensache.

Natürlich hatte ich, der kleine Wildfang, gegen diese Erziehungsweise nichts einzuwenden. So wuchs ich heran, und als ich sieben Jahre alt geworden, war ich kräftig und gesund und voller Unternehmungslust.

Die Reitkunst, die in Island für jung und alt unentbehrlich ist oder wenigstens damals war, lernte ich zu dieser Zeit und bekam nun von meinem Vater ein niedliches kleines Reitpferd zum Geschenk. Es war schneeweiss und hiess Grani, gerade wie das berühmte Reitpferd Siegfrieds des Drachentöters.

Nach Herzenslust durfte ich auf dem sichern Rücken Granis in der Umgegend Ritte machen. Ich ritt über Stock und Stein, über Berge und Täler und machte Besuche auf weit entfernten Höfen, wo ich immer mit grösster Freundlichkeit empfangen wurde. Die Gastfreundschaft ist eine der schönsten Tugenden des isländischen Volkes.

Zuweilen durfte ich sogar meinen kleinen Bruder Manni mitnehmen: er setzte sich dann hinter mir auf den Rücken Granis und hielt sich fest „im Sattel“.

Aber die Ritte durch das herrliche Land machten nicht unsere einzigen Vergnügungen ans: wir wohnten am Meeresstrande, und unmittelbar vor unserem Elternhaus lag das grosse Atlantische Meer. Da war es ja selbstverständlich, dass wir auch einen kleinen Kahn besassen.

Ohne Widerspruch vonseiten meiner Eltern durfte ich auf dem weiten Meer Ruder- und Segelfahrten unternehmen. Da ruderte oder segelte ich also, wie es mir passte, allein oder auch mit meinem kleinen Bruder Manni.

Gewiss kamen wir dabei mitunter in Gefahr. Das wussten unsere Eltern wohl. Trotzdem wurden uns diese Ausflüge nicht verwehrt. Derartige Gefahren galten nicht als hinreichender Grund zu einem Verbot.

Mehr als einmal fiel ich in die salzigen Fluten. Ich hätte ertrinken können. Doch immer kam ich wieder mit dem Leben davon.

Einmal machte ich mit Manni eine kühne Bootfahrt. Unser Kahn wurde von einer starken Strömung erfasst und aufs hohe Meer hinausgetrieben. Wir gerieten mitten in ein Rudel riesengrosser Walfische. Doch auch da konnten wir nachher sagen: „Ende gut, alles gut!“ Wir kamen mit knapper Not davon und hatten ein zwar gefährliches, aber auch wahrhaft schönes Abenteuer hinter uns1.

Ist das vielleicht unvorsichtig oder gar leichtsinnig gewesen? Darüber will ich nicht urteilen. Ich kann nur sagen, dass trotz der grossen Freiheit dort im Lande nicht mehr Unglücksfälle vorkommen als anderswo. Wie es nun aber auch sein mag, bei mir ging es jedenfalls immer gut aus, und so tummelte ich herum, frisch und fröhlich, glücklich und gesund, bis ich beinahe acht Jahre alt war.

Ich war noch in keine eigentliche Schule gegangen. Meinen einzigen Unterricht hatte ich bei meiner Mutter gehabt. Sie hatte mir viel Schönes und Lehrreiches erzählt. Meine — ein paar Jahre ältere — Schwester Bogga hatte ihr dabei treulich geholfen. Doch das Lesen hatte ich noch nicht gelernt. Bald sollte auch mit dieser Kunst begonnen werden. Durch einen glücklichen Zufall erlernte ich sie auf eigene Faust, ohne dass meine Mutter etwas davon erfuhr.

Das kam so:

Eines Tages gab mir ein gleichaltriger Kamerad, Arni mit Namen, ein zusammengefaltetes Stückchen Papier mit den Worten:

„Nonni, lauf schnell zu deiner Schwester Bogga und gib ihr das. Sag ihr, es komme von mir.“

Ich lief so schnell, wie meine kleinen Beine mich tragen konnten, zu meiner Schwester, übergab ihr das Papier und sagte, es komme von Arni.

Bogga entfaltete es, betrachtete es eine Zeit lang aufmerksam und brach dann bald in ein unbändiges Gelächter aus.

Ich war höchst erstaunt, dass ein einfaches Stück Papier eine solche Wirkung haben könne, und fragte meine Schwester, warum sie so lache.

„Weil Arni mir so lustige Sachen geschrieben hat“, erwiderte sie.

Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und bat sie, mir nähere Erklärung zu geben. Sie tat es, indem sie mir auseinanderzusetzen versuchte, dass man durch geheimnisvolle Zeichen seine Gedanken auf ein Stück Papier übertragen könne.

Ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Sie zeigte mir das Papier. Ich schaute genau zu, konnte aber keine Gedanken darauf entdecken. Ich sah nur schwarze Striche und Punkte, wie wenn eine Fliege darüber gewandert wäre.

Mir kam das alles wie ein Zauber vor, und sofort bat ich Bogga, mich diese Zeichen zu lehren. Sie ging darauf ein, und mit Hilfe einer kleinen neunjährigen Freundin gelang es mir, in einer verhältnismässig kurzen Zeit das Lesen und Schreiben zu lernen.

Als ich endlich lesen konnte, wurde ich auf einmal von einer neuen eigentümlichen Leidenschaft ergriffen: es bemächtigte sich meiner eine unersättliche Leselust.

Ich ging nun nicht mehr soviel hinaus, sondern sass von jetzt an gern zu Hause und las ein Buch nach dem andern. Mein Vater hatte eine kleine Bibliothek. Er erlaubte mir, alle Bücher zu lesen, die darin standen.

Ich las und las mit grösster Freude nicht nur während des Tages, sondern auch zuweilen bis tief in die Nacht hinein. Ja so gross war mein Eifer, dass ich einmal die ganze Nacht hindurch las. Ich konnte das leicht tun, ohne jemand zu stören; denn ich schlief allein, in einem eigenen kleinen Kämmerlein unter dem Dach, gerade über meinen Eltern.

Licht brauchte ich, im Sommer wenigstens, nicht anzuzünden, denn in Island sind die Sommernächte ebenso hell wie der Tag. Die Sonne leuchtet ja fast die ganze Nacht am Himmel.

Und was für Bücher las ich denn? Allerlei. Ja, man horche und staune! Sogar Homer und Virgil in isländischer Übersetzung versuchte ich mir zu Gemüte zu führen, natürlich ohne viel davon zu verstehen. Mein Vater hatte mir gesagt, diese Bücher gehörten zu den glänzendsten Dichterwerken der Welt. Da musste ich doch versuchen, mich auch mit ihnen ein wenig bekannt zu machen.

Dann las ich aber auch die persisch-arabischen Wundermärchen, die man „Tausend und eine Nacht“ nennt. Das ging leichter. Durch das Lesen dieser Märchen entwickelte sich meine Phantasie sehr, ja fast ins Unbegrenzte. Ferner vertiefte ich mich in die herrlichen isländischen Sagas, aus dem Goldalter der altisländischen Literatur. Sie machten auf mein junges Gemüt einen unauslöschlichen Eindruck. Sogar mit den unvergleichlichen Eddaliedern versuchte ich Bekanntschaft zu machen. Sie überwältigten mich durch ihre grossartige Poesie, obwohl ich eher ein Ahnen als ein Verstehen ihres goldenen Wertes hatte.

Dann aber kam ein Buch an die Reihe, das stärker als alle andern auf mich wirkte und meinem Gemütsleben eine gänzlich neue Richtung gab: es war dies ein schöner Auszug aus der bekannten Weltgeschichte des italienischen Geschichtsschreibers Cantù. Das Buch war in meine Muttersprache übersetzt und in leichter volkstümlicher Form gehalten.

Es standen dort wundervolle Berichte über die europäischen Länder und Völker. Ich las sie das eine Mal nach dem andern in grösster Spannung und mit einem wahren Heisshunger. Und als ich mit diesem Studium zu Ende gekommen war, war mir plötzlich eine neue Welt aufgegangen.

Ich entdeckte hier zum ersten Mal in meinem Leben, dass es auf der Erde noch andere Länder gab als die Insel Island. Bis jetzt war nämlich Island für mich sozusagen die ganze Welt gewesen. Nun aber hatte sich mein Blick plötzlich ins Riesige erweitert.

Es gab drüben, jenseits des grossen Atlantischen Meeres — in weiter, weiter Ferne — eine Menge Länder und Reiche, die noch viel grösser und schöner waren als meine Heimatinsel. Und es gab Völker dort, die viel mächtiger und älter waren als unser isländisches Volk.

Da war Skandinavien, England und Deutschland, Spanien, Österreich, Frankreich und Italien, und noch viele andere dazu. In England war eine Riesenstadt, die London hiess. Dort wohnten mehr Menschen als in ganz Island.

In Deutschland war ein weltberühmter Fluss, den man den Rhein nannte. Er floss dahin zwischen blühenden Weinbergen und lieblichen Hügeln, auf welchen lauter Rosinen wuchsen. Auf jedem Hügel hoch oben standen Burgen und Schlösser. Da musste ich unbedingt hin!

In Frankreich war eine Stadt, die Paris hiess. Das war eine der glänzendsten Städte der Welt. Dort hatte Napoleon gelebt, der grosse Kriegsheld. In Frankreich hatte auch die Jungfrau von Orléans gelebt. Ihre Geschichte hatte mich tief ergriffen.

In Österreich waren so viele Völker, dass man sie kaum zählen konnte. — In Italien lag Rom, die berühmteste aller Städte der Welt. Und da war der Petersdom und viele andere wunderbare Bauten. Und dort brannte die Sonne so stark, dass die Menschen braun wurden und ihre Haare schwarz. — In Spanien war ein Zauberschloss, das Alhambra hiess, und auch dort gab es viele Rosinen und viel süssen Wein.

Kurz, diese neue gewaltige Zauberwelt draussen entzückte mich, und dieses Entzücken verwandelte sich allmählich in ein leidenschaftliches, ungeheuer grosses Verlangen, in diese weite Welt hinauszureisen. Ich wollte diesen Zauber mit eigenen Augen schauen und die Länder und Völker draussen kennen lernen.

Meine Heimatinsel kam mir jetzt vor, wie wenn sie sich ausserhalb der bewohnten Welt befände. Tatsächlich lag sie am Ende der Welt ganz droben am nördlichen Polarkreis, wie verloren an der nördlichsten Grenze des Atlantischen Meeres.

Ja, hinaus musste ich unbedingt. Diese mächtigen Reiche und diese zahlreichen Völker musste ich sehen. Mein Verlangen wurde so gross, dass ich es nicht mehr loswerden konnte. Ich dachte daran Tag und Nacht. Ich sann und überlegte, wie ich meinen grossen Plan verwirklichen könne.

Endlich meinte ich, das Richtige gefunden zu haben: Draussen auf dem Meere, gerade vor unserem Haus, lagen jeden Sommer eine Menge fremder Schiffe vor Anker. Das Vernünftigste wäre wohl, so dachte ich mir, in meinem Kahn aufs Meer hinanszufahren, das eine oder andere der fremden Schiffe zu besteigen, mich dem Kapitän als Schiffsjungen anzubieten und so die grosse Weltreise anzufangen.

Doch als ich bald darauf meinen Eltern den „schönen“ Plan mitteilte, wollten sie zu meinem Erstaunen nichts davon wissen. Und so musste ich also zu meinem Leidwesen das ganze Vorhaben aufgeben. Mein Verlangen aber, die grosse Reise zu machen, wurde immer stärker.

Die Zeit verstrich, und ich fuhr fort, mit unermüdlichem Eifer aus meinen Büchern mir neue Kenntnisse zu verschaffen.

Mein Herumtummeln draussen in Gottes freier Natur gab ich aber dabei nicht ganz auf.

Doch die grosse Reise in die weite Welt hinaus war und blieb für mich die Hauptsache.

Der goldene Schimmer, welcher über den Abenteuern meines Wunderbuches „Tausend und eine Nacht“ lag, verbreitete sich auch über die fernen Länder, die ich so sehnsüchtig zu besuchen wünschte.

Ich sah sie immer strahlend und leuchtend in einem zauberhaften, goldenen Glanze.

Und was konnte mir nicht alles begegnen in dieser Zauberwelt! — Vielleicht würde ich dort ähnliche Abenteuer erleben wie die kleinen arabischen Prinzen in meinem Märchenbuche ...

Ja, wer konnte wissen, was da alles mit mir geschehen würde! Vielleicht würde ich, wie einige von ihnen, ein Königreich gewinnen ...

In meiner glühenden Phantasie schien mir alles möglich.

Wie Nonni das Glück fand

Подняться наверх