Читать книгу Robert und das Zirkulum - Jo Hartwig - Страница 5
ОглавлениеGotcha-Terror
Am nächsten Morgen stürzen Tim und Chris auf Robert zu, kaum dass er das Schulgebäude betreten hat. „Robert, hast du schon gehört, was hier wieder los ist?“
Robert grinst. Cool, dass seine beiden Freunde ihn immer sofort informieren, wenn es irgendetwas in der Gegend gibt, das er wissen sollte. „Na los, erzählt schon!“
„In der 5 b und noch in zwei anderen Klassen spielen sie Gotcha“, sprudelt Tim hervor. „Sie schießen wie verrückt aufeinander und beschmieren auch Unbeteiligte mit diesen Farben.“
„Gotcha?“ Die Falte zwischen Roberts Augenbrauen vertieft sich. „Moment mal, was genau ist das?“ Er ist völlig ratlos und hat noch nie davon gehört.
„Das ist doch das Kriegsspiel, das sie überall im Wald spielen“, erklärt Chris, sichtlich stolz auf sein Wissen. „Es sind ganze Gruppen, die sich mit Tarnkleidung durch die Büsche schleichen. Sie schießen aufeinander, und wer getroffen wird, muss tot spielen und scheidet aus. Sie schießen mit Farbkugeln, dementsprechend haben sie auch Farbkleckse auf ihrer Kleidung und ...“
„Ist dir schon aufgefallen, wie viele Schüler hier diese bescheuerte gefleckte militärische Tarnkleidung tragen?“, schaltet sich Tim aufgebracht dazwischen.
Robert bleibt ganz ruhig. „Na klar hab ich das schon gesehen. Ist ja auch echt cool. Ich habe auch schon mit dem Gedanken gespielt, mir so ein Outfit zuzulegen“, sagt er. „Aber anscheinend ist das hier so eine Art Uniform. Na, und auf Farbkleckse in den Klamotten kann ich hier in der Schule auch gut verzichten!“ Mittlerweile sind sie im ersten Stock vor ihrem Klassenzimmer angelangt. „Wir werden uns mal etwas umhören, wer diese Gruppen organisiert“, schlägt er vor, „und dann schauen wir, was wir tun können!“ Die Klingel beendet das Gespräch, der Unterricht beginnt.
Gleich nach der Schule, Robert ist kaum zu Hause angekommen, läutet das Telefon. Es ist Hauptkommissar Werner. Seine Stimme klingt sehr ernst: „Robert, kannst du so schnell wie möglich zu mir ins Büro kommen?“
„Klar“, sagt Robert und legt auf, ohne weiter nachzufragen. Nach dem Mittagessen fährt er schnell in den vierten Stock zu Fred runter und klingelt an seiner Wohnungstür, doch da ist offensichtlich niemand zu Hause. Also ab in den Bus. Zum ersten Mal zückt er seine Freikarte
Und genießt es im Bus zu fahren.
Als Robert im Polizeipräsidium ankommt, erwartet ihn der Hauptkommissar schon und bittet ihn in sein Büro. Robert hat ein komisches Gefühl, als er den Mann sieht. Mit belegter Stimme und sorgenvoller Miene rückt er mit seiner Nachricht heraus: „Robert, Fred ist im Krankenhaus. Wir wissen nicht, ob er überleben wird!“
„Wa, Wa.., was?“ Robert glaubt sich verhört zu haben. „Was ist los? Was sagen Sie da?“, stottert er verstört.
Werners Augen schauen müde aus seinem grauen Gesicht, das von wenig Schlaf zeugt. „Fred liegt auf der Intensivstation im Koma. Genau wissen wir nicht, was geschehen ist, aber er und ein Kollege wurden vom Blitz getroffen. Der Kollege hatte ein schwaches Herz und ist gestorben, Fred dagegen liegt noch im Koma.“
„Wie,....wieso vom Blitz getroffen? Wo ist das denn passiert?“, stottert Robert erschrocken.
Er kann sich gar nicht erinnern, dass hier in der Gegend ein Gewitter war.
Der Hauptkommissar lehnt sich zurück und schaut Robert traurig an. „Fred kam noch gestern Abend zu mir und erzählte mir von seiner Absicht, dass er zusammen mit einem Kollegen mit Hilfe eines Metalldetektors das unheimliche Grundstück in der Altstadt untersuchen wolle“, beginnt er. „Der Kollege war für mich genug Sicherheit – wenn Fred alleine gegangen wäre, hätte ich dem Plan gar nicht zugestimmt! Aber zu zweit, dachte ich, wäre es okay: Während der eine die Untersuchungen machte, konnte der andere auf die Umgebung achten. Ich war also einverstanden. Als dann aber nach einiger Zeit wieder so ein merkwürdiges Donnergrollen zu hören war, ahnte ich schon Furchtbares. Und so war es dann auch. Beide wurden sofort ins Vinzenzkrankenhaus eingeliefert, aber für den Kollegen von Fred kam jede Hilfe zu spät.“
Robert begreift noch gar nicht, was er da gehört hat. „Das kann doch nicht wahr sein“, murmelt er nur.
Werner nickt. „Das Gefühl hab ich auch“, sagt er. „Ich habe das Wetteramt angerufen und mich über die Wetterlage in dieser Nacht informiert. Stell dir vor, es gab nicht die geringsten Anzeichen eines Gewitters weit und breit! Es war eine sternklare Nacht. Schon äußerst merkwürdig, das Ganze ...“
Eine Weile schweigen beide. Schließlich gibt sich der Hauptkommissar einen Ruck. „Komm mit mir, wir fahren ins Krankenhaus und schauen, wie es Fred geht.“ Er legt Robert den Arm um die Schulter und geht mit ihm zum Auto.
Im Krankenhaus wagt Robert kaum zu atmen. Schrecklich, wie Fred aussieht, dieser durchtrainierte, braun gebrannte Spezialagent – jetzt liegt er ganz unbeweglich und bleich da, mit Schläuchen an verschiedene Apparate angeschlossen ... Der Stationsarzt macht ein ernstes Gesicht und zuckt auf Werners Fragen nur mit der Schulter. Robert fühlt sich völlig hilflos. So eine Situation hat er noch nie erlebt. Ihm ist plötzlich heiß und es grummelt in seinem Magen. Was ist, wenn Fred nicht mehr aufwacht?
Der Hauptkommissar verfrachtet Robert wieder in sein Auto und bringt ihn auf den Lerchenberg zurück. Die Fahrt verläuft schweigsam, beide sind in ihre Gedanken versunken.
„Ich bin fix und fertig“, sagt Robert vor dem Aussteigen. „Was hat sich Fred da bloß eingefangen? Irgendjemand oder irgendetwas muss dafür verantwortlich sein. Ich werde alles versuchen, um Informationen zu bekommen. Wenn ich was erfahre, rufe ich Sie sofort an.“
„Ja, irgendetwas Unerklärliches hat es mit diesem Grundstück auf sich. Etwas, wogegen wir noch kein Rezept gefunden haben“, meint Werner sorgenvoll. „Aber Robert, riskiere bitte nichts, sonst haben wir bald das nächste Blitzopfer zu beklagen!“
Zu Hause angekommen, macht sich Robert an seine Hausaufgaben. Er ist geradezu froh, dass er seine Gedanken darauf konzentrieren muss. So kreisen sie nicht ständig um Fred und die Intensivstation.
Robert ist fast fertig mit seiner Arbeit, da bemerkt er Dulgur am Fenster. Es wird schon dunkel draußen. Rasch steht er auf und lässt die Taube auf seinen Arm hüpfen.
„Robert, in dieser Straße, du weißt schon, bei der Baustelle, ist der Teufel los!“, gurrt sie aufgeregt. „Jede Menge Menschen drängen sich da und wollen was sehen. Es hat sich herumgesprochen, dass da immer wieder Unnatürliches geschieht, und jetzt sind natürlich alle neugierig und wittern eine Sensation. Die Polizei ist dabei, die Straße abzusperren.“
Schöner Mist, denkt Robert, aber so ist das nun einmal: Kaum passiert irgendwo etwas Schlimmes, kommen sofort die Neugierigen und behindern alles. Aber er hat jetzt Wichtigeres zu tun, als sich über die Gaffer zu ärgern. Er muss dringend einen Ansatzpunkt finden, um die gefährlichen Vorfälle auf diesem Grundstück aufzuklären.
„Sag mal, Dulgur, hast du gestern Abend noch beobachtet, dass auf diesem Grundstück zwei Männer vom Blitz getroffen wurden?“, fragt er hoffnungsvoll.
„Nein. Das muss geschehen sein, als es schon finster war“, gibt die Taube zurück, sichtlich traurig, dass sie ihn enttäuschen muss. „In der Dunkelheit können wir Tauben ja nichts erkennen. Aber jetzt ist mir natürlich erst recht klar, warum sich so viele Menschen da neugierig rumdrängen. Tut mir wirklich Leid, Robert, ich hätte dir so gern geholfen!“
Robert merkt, wie sie zittert und ihr Gefieder aufplustert. „Ruhig, Dulgur, es ist ja alles in Ordnung“, beruhigt er sie, „du hast deine Aufgabe sehr gut gemacht. Ich weiß, dass du nachts nichts erkennen kannst. Ich hätte Guru, die Eule, bitten sollen, dich abzulösen, das war mein Fehler. Flieg morgen bei Tageslicht wieder hin und erzähle mir alles, was sich da tut, ja?“
Nach dem Abendessen geht Robert sofort zu Bett. Der beste Platz, um seine Gedanken zu ordnen. Es ist einfach nicht fair, er darf mit niemandem über seine Fähigkeiten sprechen, nicht einmal mit seinen Eltern. Alles muss er alleine verarbeiten, und das ist verdammt schwer!
Robert greift nach dem flachen Lederbeutel an seinem Hals, in dem das Amulett steckt, und zieht es hervor. Nachdenklich betrachtet er das ovale Metall und fährt mit einem Finger über die eingeritzten Linien. Langsam weicht das Gefühl der Hilflosigkeit von ihm. Er ist gar nicht ganz allein, das Amulett ist ja an seiner Seite! Schon ein Wunder, dass es ausgerechnet ihn ausgewählt hat. Wie sehr hat sich sein Leben seither verändert, welche neuen und aufregenden Welten haben sich für ihn aufgetan! Nicht nur, dass er mit Tieren reden kann, er hat obendrein auch übernatürliche Fähigkeiten durch das Amulett bekommen. Woher kommt es überhaupt? Welchen Sinn ergeben die verschieden langen Ritze oder Striche, die auf der kupfernen Oberfläche zu sehen sind? Das hat er sich schon oft gefragt. Vergeblich!
Gewohnheitsmäßig beginnt Robert das Amulett mit einem weichen Tuch zu polieren. Dann steckt er es wieder in seinen Beutel zurück. Seit er es damals von Alban und Arix bekommen hat, trägt er es immer bei sich. Vielleicht meldet es sich wieder einmal bei ihm, besonders jetzt, da die Lage gefährlich wird? In Roberts Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was ist heute alles geschehen? Fred wollte ihn heute Abend in seine Pläne einweihen. Vorbei, es geht nicht mehr. Fred hat viel riskiert – und verloren. Was wäre gewesen, wenn er wirklich mit Fred auf dieses Grundstück gegangen wäre? Hätte es ihn dann genauso erwischt wie Fred und seinen Kollegen? Ich muss unbedingt herausfinden, was da vor sich geht! denkt er. Aber wie? Bestimmt ist die benachbarte Lagerhalle der Schlüssel, da muss ich anfangen nachzuforschen! Über diese Gedanken schläft Robert ein.
Kaum sind ihm die Augen zugefallen, schwebt im vertrauten weichen Licht das Amulett vor ihm. „Robert, es bahnt sich eine schwierige Situation an, in der du sofort meine Hilfe brauchst“, sagt es mit seiner sanften, singenden Stimme. „Du bist mit der Lagerhalle schon auf eine heiße Spur gestoßen. Damit hast du dich einer wichtigen Zauberkraft für würdig erwiesen. Du darfst ab sofort wieder „invisible“ anwenden, diesmal sogar noch in einer verbesserten Form. Vorher konntest du dich damit nur exakt dreißig Minuten lang unsichtbar machen. Jetzt aber bestimmst du selbst den zeitlichen Umfang. Du wirst unsichtbar, wenn du das Wort sagst, und sofort wieder sichtbar, wenn du es wiederholst. Pass gut auf dich auf, Robert, und betrete das gefährliche Grundstück nicht!“ Damit zieht sich das weiche Leuchten zurück, das Amulett verschwindet.
Am Morgen lacht die Sonne zum Fenster rein und Robert erscheint sie heute besonders strahlend. Es ist einfach megacool, er kann sich wieder unsichtbar machen! Und zwar jetzt, so lange er will! Am liebsten würde er sofort zu der Baustelle stürmen und seine Zauberkraft dort ausprobieren. Aber es hilft nichts, die Schule hat Vorrang.
Diesmal ist er schon vor seinen beiden Freunden im Schulgebäude. Kaum biegt er in den Flur zu seiner Klasse ein, fliegt mit hellem Surren eine bunte Kugel dicht an ihm vorbei und klatscht vor ihm an die Wand. Sofort bildet sich dort ein roter Farbfleck. Robert zuckt zurück. Aber er hat noch gesehen, dass einer der militanten Burschen auf ihn gezielt und geschossen hat. Vorsichtig schaut er sich nach allen Seiten um. Niemand sonst ist in der Nähe. Gut so! Dann kann er jetzt zum ersten Mal seine neue Form von „invisible“ anwenden. Er geht ganz locker weiter in die nächste leer stehende Klasse und flüstert das Zauberwort. Schon ist dort, wo seine Augen gerade eben noch auf seine Arme und Beine und die Klamotten gefallen sind, nichts mehr zu sehen. Einfach nichts. Es ist ein unglaubliches Gefühl, Robert fühlt sich wie unverwundbar.
Leise schleicht er wieder zurück um die Ecke und sieht drei in Tarnuniform gekleidete Typen mit ihren Waffen dort lauern. Der Bursche, der auf ihn geschossen hat, hält eine richtige große Gotcha-Waffe in der Armbeuge, die beiden anderen haben nur kleine Soft-Air-Pistolen in ihren Händen. Sie haben sich halb hinter einem Wandschrank versteckt, gleich neben der Treppe, die nach unten führt. Robert erkennt die drei Jungen, klar, die sind aus der Parallelklasse. Jetzt lachen sie sich verschwörerisch zu, einer legt dabei den Zeigefinger an die Lippen. Hinter der Biegung des Gangs sind jetzt Schritte und Stimmen zu hören, die näher kommen. Dennis, der Typ mit der großen Gotcha-Waffe, legt in freudiger Erwartung und voller Selbstsicherheit seine Waffe an die Wange. In dem Moment fühlt er sich bestimmt als Superman und hält sich für unbesiegbar, denkt Robert. Seine beiden Begleiter stehen schon fluchtbereit jeder mit einem Fuß auf der Treppe hinter ihm, um gleich den Rückzug antreten zu können. Robert schleicht lautlos um die drei herum.
In diesem Moment kommen zwei Mädchen um die Ecke. Beide haben lachend ihre Köpfe nach hinten gewandt und unterhalten sich mit zwei Jungen, die, noch nicht sichtbar, aber deutlich zu hören, hinter ihnen herkommen. So nehmen die Mädchen nichts von dem wahr, was sie gleich erwartet. Robert steht jetzt dicht neben dem Schützen und sieht, wie sich dessen Finger langsam um den Abzug krümmt ... gleich wird der Schuss ausgelöst! Robert beugt sich vor und tippt mit der Hand seitlich auf den Lauf der Waffe, so dass sie leicht nach links schwingt. Im gleichen Moment löst sich der Schuss. Die Farbkugel platscht weit weg vom Ziel gegen die Wand und bildet dort einen hässlichen Farbklecks.
Erschrocken schauen die Mädchen auf die blutrot verschmierte Wand und begreifen noch gar nicht, was da eben geschehen ist. Die beiden Jungs, die die Mädchen begleiten, reagieren jedoch sofort. Heldenhaft laufen sie vor den Augen der Mädchen auf den Schützen zu. Der aber ist so verblüfft darüber, dass seine Kugel nicht getroffen hat, dass er noch immer unbeweglich dasteht. Es will ihm einfach nicht in den Kopf, dass sein Schuss danebenging. Seine beiden Kumpane packen ihn hastig von hinten am Gürtel und ziehen ihn zur Treppe. Alle drei stolpern eilig nach unten. Voller Genugtuung bleiben die beiden anderen Jungs oben auf der Treppe stehen, um auf die Mädchen zu warten – sicher werden sie sich gleich als Retter in der Not präsentieren, um Eindruck zu schinden! Na, ja, sollen sie, denkt Robert.
Er zieht sich so lautlos zurück, wie er gekommen ist. Schnell geht er in seine Klasse, und als dort noch kein anderer zu sehen ist, macht er sich mit „invisible“ wieder sichtbar. Er fühlt sich, als würde ihm das Amulett anerkennend über den Kopf streichen.
Jetzt füllen sich die Flure, nach und nach treffen die Schüler ein, die meisten müde, lustlos und unausgeschlafen. Chris und Tim kommen gleichzeitig zur Tür herein. „Robert, hast du gerade gesehen, was diese Vollidioten da angerichtet haben? Der ganze Flur ist beschmiert“, ereifert sich der schlaksige Tim. „Diese Bande hat hier wieder mal Krieg gespielt!“ Chris ergänzt: „Ich bin ja bloß neugierig, was der Direktor dazu sagt!“
Der Mathe-Lehrer tritt ein. Er hat einen Packen Hefte unter dem Arm. Die Schüler wechseln erstaunte Blicke: die Mathe-Arbeiten? Da hat sich der Söllner aber mit den Korrekturen beeilt!
„Die Arbeit ist schlecht ausgefallen“, beginnt Söllner und sein gutmütiges, rundes Gesicht wirkt ungewöhnlich streng. „Offensichtlich ist die Trigonometrie für etliche noch ein unbekannter Planet. Ich frage mich: Was haben wir eigentlich seit Wochen hier geübt? Leute, wo seid ihr mit euren Gedanken? Wenn ihr so weitermacht, werden die deutschen Schüler auch künftig im internationalen Vergleich ganz unten stehen!“ Robert schaut zu Mussad rüber. Der knetet sich erschrocken die Nase und wagt es nicht, aufzublicken.
„Ein paar angenehme Überraschungen gab es zum Glück auch“, fährt Söllner fort. „Eine Arbeit war sogar ganz überragend. Eine glatte Eins. Glückwunsch, Robert!“
Robert spürt, wie er brennend rot im Gesicht wird, alle schauen jetzt zu ihm hin. Für einen Augenblick denkt er an „invisible“. Das wäre was, sich jetzt einfach unsichtbar zu machen! Aber er lässt den Gedanken gleich wieder fallen. Wenn er seine Zauberkräfte so an die große Glocke hängen würde, dann würde das Amulett sie ihm gleich wieder abnehmen. Schließlich hat er ja die Auflage bekommen, dass niemand etwas davon mitkriegen darf. Söllners Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken.
„Tja, und dann ist da noch unser neuer Schüler“, fährt der Mathe-Lehrer fort und macht ein paar Schritte in Mussads Richtung. Der duckt sich unwillkürlich, als erwarte er ein Donnerwetter über sich. Aber Söllner lächelt aufmunternd. „Das war schon ganz ordentlich, Mussad“, sagt er und legt das Mathe-Heft vor ihm auf den Tisch. Während Mussad mit zitternden Fingern das Heft aufschlägt und auf die Zensur starrt, als hätte er eben das achte Weltwunder entdeckt, fährt Söllner fort: „Nehmt euch ein Beispiel an euerm neuen Mitschüler! Eine Zwei plus, und das, obwohl er erst so kurz bei uns ist und sich ganz neu in die Materie einarbeiten musste.“ Robert bläst erleichtert die Luft aus. Dann hat das gemeinsame Büffeln also doch etwas gebracht!
Plötzlich hört er von draußen Stimmen. Offensichtlich bewegen sich da mehrere Personen auf dem Flur. Die diskutieren jetzt sicher über die verschmierten Wände, geht es Robert durch den Kopf. Wer das verursacht hat, ist ja wohl nicht schwer zu erraten.
Nach der Schule auf dem Nachhauseweg haben Chris und Tim nur ein Thema: die Mathe-Arbeit. Beide Freunde haben eine glatte Drei, aber sie haben ganz verschiedene Fehler gemacht. Tim ist der Meinung, dass Söllner ihm bei einer Aufgabe zu wenig Punkte gegeben hat. Robert hört nur mit halbem Ohr zu.
„Hey, Robert, wo bist du denn mit deinen Gedanken? Träumst wohl schon von der nächsten Eins?“, zieht Tim ihn auf, und in seiner Stimme schwingt ein Unterton von Neid mit.
Doch Robert seufzt nur bekümmert, die Mathe-Arbeit hat er längst abgehakt. Traurig erzählt er seinen beiden Freunden, dass Fred im Koma liegt. Die beiden wollen es nicht glauben, umso mehr, als sie hören, dass Fred von einem Blitz getroffen wurde. Von einem Blitz, der aus klarem Nachthimmel kam! „Das kann doch nicht sein, du verarschst uns doch“, knurrt Chris. „Ein Blitz aus heiterem Himmel, ohne Wolken, so was gibt es doch nicht!“
„Hey, du willst dich nur interessant machen!“, stimmt Tim ein. „Oder willst du etwa behaupten, dass jemand aus purem Jux mit Blitzen spielen kann?“
„Wenn es nur ein Jux wäre, hätte ich auch ein besseres Gefühl“, erwidert Robert. „Anscheinend experimentiert irgendjemand mit einer Energie, die noch völlig unbekannt ist. Jedenfalls ahnt auch die Polizei noch nicht, was da los ist.“
Jetzt werden die beiden Freunde doch unruhig.
„Stell dir nur vor, das ist wirklich so ...“, überlegt Tim und fuchtelt dabei so wild mit seinen Händen herum, dass er sich seine Brille von der Nase wischt. „Dann kann so einer doch alle Menschen bedrohen und niemand kommt an ihn heran!“ Rasch hebt er die Brille wieder auf und putzt sie an seiner Jeansjacke ab. „So ein Typ ist doch dann einfach unangreifbar!“
Chris stößt Robert leicht mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Du, das wäre absolut geil, wenn wir das entdecken könnten! Hast du schon ne Idee?“ Sie diskutieren noch eine Weile, bevor sie sich trennen. Natürlich sind sie zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen.
Robert geht hinter das Hochhaus in die Grünanlage und ruft nach Dulgur. Er wartet einige Zeit, aber sie kommt nicht. Ein wenig beunruhigt fährt er mit dem Aufzug nach oben in den elften Stock. Dulgur wird doch hoffentlich nichts passiert sein? Nein, sie ist bestimmt noch bei der Baustelle, sagt er sich, und wird bald einiges zu berichten haben.
Heute hat seine Mutter Reisfleisch für ihn warm gestellt, über das er sich mit Genuss hermacht. Danach zieht er sich in sein Zimmer zurück. Er ist schon fast mit seinen Hausaufgaben fertig, als Dulgur endlich an seinem Fenster erscheint. Ein Glück, ihr Federkleid ist glatt und glänzend wie immer, es ist ihr nichts zugestoßen!
„Robert, laufend werden in der Lagerhalle neben dem Grundstück Waren angeliefert“, sagt die kleine Taube und bewegt eifrig den Kopf auf und ab. „Ständig kommen Lastwagen, aus denen große Kisten ausgeladen werden! Auf der Straße vor dem Nachbargrundstück sind einige Reporter und ein Filmteam eingetroffen. Immer mehr Leute wollen das „Gruselgrundstück“ sehen. Allerdings hat niemand das Grundstück selbst betreten.“
Nachdem sie sich verabschiedet hat, beschließt Robert, selbst auf Erkundungstour zu gehen. Er schlüpft in seine heißgeliebten und ziemlich abgetragenen Jeans und ein dunkles T-Shirt, dazu die Tennisschuhe, nun ist er bereit. Ab in den Bus.
Als er bei der Baustelle ankommt, dämmert es bereits. Es ist ein milder Abend bei klarem Himmel, und die letzten Sonnenstrahlen werfen einen weichen, rosa Schimmer auf den Rhein. Auf der Baustelle, neben dem „Gruselgrundstück“,wird noch intensiv gearbeitet. Der Lärm den die Bagger verursachen, übertönt alle Gespräche auf der Baustelle. Von den neugierigen Menschenmassen, von denen Dulgur ihm erzählt hat, ist nichts mehr zu sehen. Die Leute werden nur aufmerksam und wittern eine Sensation, wenn Fernsehkameras und Reporter zu sehen sind. Sie können dann in ihrem Bekanntenkreis stolz erzählen: Da war ich mit dabei!
Robert bummelt langsam auf der anderen Straßenseite an dem geheimnisvollen Grundstück vorbei. Als er die Lagerhalle passiert hat, sieht er, dass auf dem Parkplatz neben der Halle noch ein LKW abgeladen wird. Da ist sie, seine Chance, auf die er so sehnsüchtig gewartet hat, um endlich in diese Halle hineinzukommen! Vielleicht gelingt es ihm jetzt, ein paar wertvolle Informationen für Werner zu sammeln. Es ist ihm jetzt besonders wichtig, weil Robert das Gefühl hat, auch für Fred etwas zu tun, ihm irgendwie nahe zu sein! Kurz erscheint vor seinem Augen Freds Bild auf der Intensivstation, wie er da hilflos, an Schläuchen angeschlossen, liegt. Ein Bild, das ihm Angst macht. Es kann doch nicht sein, dass dieser erfahrene Kripobeamte so einfach sterben soll.Robert ballt in hilflosem Zorn seine Hände und versucht gewaltsam, dieses traurige Bild zu verdrängen. Konzentriert schaut er sich um und vergewissert sich, dass ihn niemand in der Nähe ist und ihn sehen kann. Kaum hörbar sagt er: „invisible“. Im sicheren Schutz seiner Unsichtbarkeit steigt sein Selbstbewußtsein und er überquert vorsichtig die Straße, duckt sich unter der Sperrschranke zum Parkplatz und geht weiter zum LKW.
Er streckt seinen Kopf vor, um in den großen LKW zu schauen, der mit der Rückseite zur Rampe steht und zuckt erschrocken zusammen.
„He, Ali, beeil dich, wir wollen hier nicht übernachten“, ruft eine ungeduldige Stimme in seinem Rücken aus der Halle heraus. Ich muss mich endlich daran gewöhnen, dass ich wirklich unsichtbar bin und mich keiner sehen kann, ärgert sich Robert und atmet erleichtert aus.
Aus dem Inneren der Ladefläche des LKW ertönt es mürrisch: „Ja, ja, ich komm schon“, und ein schmächtiger junger Mann fährt mit einer zweirädrigen Karre eine Kiste in die Halle. Der Mann ist dunkelhäutig und hat pechschwarze glatte Haare, vielleicht ein Pakistani?, überlegt Robert, während er sich auf die Rampe schwingt und dem Mann in die Halle hinein nachschleicht. Geschafft!
Beeindruckt schaut sich Robert in der Halle um. Sie wirkt riesig! Von dem einen Ende aus, an dem er nun steht, ist das andere kaum zu sehen, zumindest kommt es ihm so vor. Hell beleuchtet reihen sich, Stapel an Stapel in mehreren Gängen Kisten und Container aneinander. Im Hintergrund sind große Papierrollen zu sehen. Sie reichen bis unter die Decke. Ziemlich in der Mitte der Halle führt links eine Eisentreppe auf eine Empore, auf der zwei verglaste Räume zu sehen sind. Von da oben hat jeder bestimmt einen guten Überblick über alles, was in der Halle geschieht, geht es Robert durch den Kopf. Es schaut fast so aus wie der Kommandostand auf einem Schiff.
Mittlerweile hat Ali, der schmächtige Mann aus dem LKW, seine Kiste durch einen Gang zu weiteren Kisten gebracht . Jetzt ist er dabei, sie gemeinsam mit einem anderen Mann auf einen Stapel zu wuchten. Über die Eisentreppe kommt in diesem Moment ein unmöglicher Typ herunter. Selten hat Robert so einen dicken Menschen gesehen. Er wirkt quadratisch, weil er nicht nur dick, sondern auch klein ist. Und ungepflegt sieht er aus: Die Hose, von breiten Trägern gehalten, bewegt sich locker unter seinem vorgewölbten Bauch, das bunte Hemd hängt halb aus der Hose und auf der Vorderseite des Hemdes sind noch Essensreste zu sehen. Echt unappetitlich!, denkt Robert und will sich schon abwenden. Doch da macht der Mann den Mund auf. Laut schmatzend tönt er von der Eisenstiege hinunter: „He, du, jetzt beeil dich gefälligst ein bisschen und gib mir schon den Lieferschein, damit ich endlich unterschreiben kann.“
Ali springt eilfertig hin und reicht ihm das Formular. „Bitte sehr, Herr Hiller.“ Ohne Vorwarnung holt der aus und schlägt Ali brutal ins Gesicht. „Beim nächsten Mal bringst du mir unaufgefordert diesen blöden Zettel hoch und lässt mich nicht erst runterkommen, klar?“
Der junge Mann hat Tränen der Wut in den Augen und reibt eingeschüchtert seine Wange, sagt aber kein Wort. Hiller unterschreibt hastig, dabei asthmatisch keuchend, und lässt den Lieferschein danach einfach achtlos auf den Boden fallen. Schnell hebt der junge Mann ihn auf und verschwindet aus der Reichweite des Dicken. Dieser dreht sich um und steigt, ständig Verwünschungen vor sich hinmurmelnd, die Eisentreppe wieder hoch. Er quält sich mühsam von Stufe zu Stufe und schiebt sein Gewicht dabei immer ein Stück weiter.
Robert wartet, bis er auf halber Höhe ist, und sagt dann leise: „Stone!“ Prompt bleibt Hiller mit einem Bein in der Luft hängen und rutscht anschließend wie in Zeitlupe die Stufen wieder hinunter. Robert hat große Mühe, sich einen Jubelschrei zu verkneifen. Sensationell! Der Bursche hat es nicht anders verdient, denkt er.
Aber jetzt schreit der Dicke wie am Spieß: „Holger, du Idiot, komm runter und hilf mir, dieser Mistkerl hat mich die Treppe runtergerissen!“
Von draußen ist schon der Motor des LKW zu hören, der eben wegfährt. Dieser Holger ist sofort zur Stelle und hilft seinen Boss wieder auf die Beine. Robert reißt erstaunt die Augen auf: Das ist ja einer der beiden Männer, die ihn bei seinem ersten Besuch auf dem Grundstück fangen wollten! Aus der Nähe betrachtet auch nicht gerade ein Herkules, zumal Holger neben Hiller eher unterernährt und flachbrüstig wirkt.
„Komm, schauen wir uns mal die Kisten an, die die beiden gebracht haben.“ Mit beiden Händen zieht Holger seinen Chef hoch. Dann verschwinden die zwei in den Hintergrund, wobei Hiller immer wieder wehleidig laut aufstöhnt.
Robert nutzt die Chance und steigt unterdessen lautlos die Eisentreppe zu dem Glaskasten hoch. Die Tür steht noch offen. Robert schlüpft in den Vorraum. Als er sich sicherheitshalber noch mal umdreht, sieht er die beiden unten bei den Kisten stehen und diskutieren. In diesem Raum hier oben stehen zwei Schreibtische, einer davon ist mit Essensresten bedeckt – sicher ist das Hillers Platz. Robert verspürt große Lust, ihm auch noch sein Essen zu vermiesen, aber deswegen ist er nicht hier. Von beiden Tischen aus hat jeder, der hier sitzt, einen guten Überblick über das Geschehen in der Halle. An der Rückwand des Raums stehen Regale, deren Fächer beschriftet sind. Robert liest die Namen einiger Speditionen, daneben auch MAZ, „Mainzer Allgemeine Zeitung“ – also hat auch die Zeitung hier Lagerfläche angemietet. Deswegen liegen so viele Rollen Papier an der Rückwand der Halle!
Jedenfalls ist hier nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Ein erneuter Kontrollblick nach unten zeigt Robert, dass die zwei Männer immer noch beschäftigt sind. Also noch genug Zeit, sich intensiver umzusehen. Leise öffnet er die Glastür zum Nachbarzimmer. Auch dieser Raum ist menschenleer. Es handelt sich um ein gut eingerichtetes Büro, aber eben nur ein Büro. Nichts Auffälliges zu sehen: Ein bequem gepolsteter Sessel hinter einem großen Schreibtisch, davor zwei Sessel mit hoher Lehne, ein breites Regal voller Ordner und ein verschlossener Schrank. Nur geschäftlicher Kram, der Robert nichts sagt. Noch ein prüfender Blick in die Runde. Halt, was ist das?
Hinter dem Schreibtisch an der Wand hängt ein Bild, ein großes Farbfoto, das eigens durch einen Strahler, der an der Decke montiert ist, angeleuchtet wird. Es zeigt eine runde Scheibe, in die rundherum alle zwölf Tierkreiszeichen eingraviert sind. Die Scheibe sieht aus, als wäre sie aus purem Gold. Jedenfalls ist sie wunderschön! Robert ist so fasziniert von dem Foto, dass er seine Augen nicht davon abwenden kann. Plötzlich hört er Stimmen von unten. Alarmiert reißt er sich aus seiner Betrachtung des seltsamen Bildes los und huscht schnell zum Eingang. Am Fuß der Eisenstiege stehen Hiller und Holger mit einem anderen Mann, offensichtlich einem Neuankömmling.
Moment, – den Mann kennt er doch? Ist das nicht der Italiener, der bei ihm im Hochhaus wohnt? Doch, absolut kein Zweifel, das ist er. Eigentlich ein ganz guter Typ, aber offenbar ziemlich eitel. Er sieht so aus, wie man sich einen Mafioso vorstellt: gepflegt, schwarzhaarig, mit einem kleinen Bauchansatz und natürlich mit Sonnenbrille. Die hat er auch jetzt auf, aber er hat sie sich auf den Kopf in die Haare geschoben. Was tut der denn hier?
Robert beugt sich vorsichtig vor und hört gerade noch, wie der Italiener berichtet, dass die Fracht um ein Uhr nachts ankommen wird. Was kann das sein?, überlegt Robert. Klingt eigentlich nicht nach irgendwelchen kriminellen Machenschaften. Aber warum wollten die Typen ihn dann beim ersten Mal so auffällig verjagen? Irgendetwas stimmt doch hier nicht!
Mittlerweile haben sich alle drei Männer zum Eingang hin entfernt. Robert schleicht die Eisenstufen hinunter und geht der Gruppe leise nach. Dann überholt er sie und öffnet die Tür ganz langsam.
Als Erster sieht Holger, wie sich die Tür öffnet. „Achtung, da ist jemand am Eingang“, ruft er alarmiert. Daraufhin zieht der Italiener blitzartig eine Pistole und versteckt sich rasch hinter einem Frachtstapel, während sich Hiller vorsichtig der offenen Tür nähert. Robert verhält sich im sicheren Gefühl der Unsichtbarkeit absolut ruhig. Dicht an Robert vorbei, streckt Hiller den Kopf aus der Tür, dreht sich suchend nach links und nach rechts, kann aber nichts auffälliges entdecken. Schwerfällig wendet er sich um: „Falscher Alarm, da ist niemand“, schnauft er. „Francesco, Sie haben höchstwahrscheinlich die Tür nicht richtig einschnappen lassen, als Sie hergekommen sind.“ Damit schließt er mit einem heftigen Ruck die Tür von innen. Unterdessen hat Robert die Chance genutzt und die Halle verlassen. Auf dem Parkplatz steht nur der Alfa des Italieners.
Als Robert nach Hause kommt, warten seine Eltern schon mit dem Abendessen auf ihn. Ein seltenes Ereignis, dass Vater und Mutter gleichzeitig da sind. Robert kann nun endlich mit ihnen über seinen Kummer reden. Er erzählt ihnen von den geheimnisvollen Blitzschlägen, die alles angreifen, was sich diesem Grundstück nähert. Dass immer wieder versucht wurde, endlich mit den Baumassnahmen zu beginnen und dass alle Versuche fehlgeschlagen sind. Arbeiter wurden verletzt und Kräne sind umgefallen. Bagger, die auf dem Grundstück eingesetzt wurden, hatten Maschinenschaden. Vor allem erzählt er von Fred, der auf der Intensivstation im Koma liegt. Beide Eltern hören ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. „Woher hast du diese Informationen?“, fragt sein Vater erstaunt, nachdem Robert fertig ist.
„Ihr habt vor einiger Zeit doch mal Hauptkommissar Werner kennen gelernt, er hat mich angerufen und mir das alles gesagt.“ Robert hat Schwierigkeiten, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Tränen lauern richtig gemein im Hintergrund. „Mir macht nur Kummer, dass es Fred so schlecht geht. Kein Mensch weiß, ob er es überleben wird.“
Zu gerne hätte er auch über seine weiteren Infos gesprochen, aber es tut schon gut, überhaupt mit jemandem reden zu können. „Robert, du musst keine Angst haben“, beginnt seine Mutter, die natürlich bemerkt, was ihren Sohn quält. Sie informiert ihn jetzt ziemlich genau über die Abläufe auf einer Intensivstation. Als OP-Schwester kennt sie sich da aus, denn oft werden Patienten nach einer Operation erst mal auf die Intensiv verlegt. Robert geht es zunehmend besser, als er aus erster Hand hört, wie sorgfältig Patienten in der Klinik behandelt werden.
Spät genug kommt er an diesem Abend ins Bett. Er geht sofort in seine bevorzugte Stellung, mit dem Kopf unter die Bettdecke, und lässt die Ereignisse des Tages vorbeiziehen. Dass Wissen und die Überzeugung, dass Fred alle Chancen hat, wieder gesund zu werden, gibt ihm wieder Ruhe. Aber jetzt kommt das nächste Thema: Die Halle und das Grundstück. Was hat er denn nun erreicht? Nichts! In der Halle wirkte alles harmlos. Die Leute dort scheinen Penner zu sein, aber das geht ihn nichts an. Aber halt, was ist mit dem Italiener los, diesem Francesco? So schnell und gekonnt, wie der seine Pistole gezogen hat und wie er sich, ohne zu überlegen, sofort in Sicherheit gebracht hat, um von dort aus schießen zu können – das zeigt schon absolute Professionalität! Und was ist das für eine ominöse Fracht, die so spät ankommen soll, um ein Uhr nachts? Jetzt kommt doch nicht schon wieder eine Schmuggelbande mit ins Spiel?, überlegt Robert. Aber zugleich ist er doch wieder neugierig, das scheint immerhin eine brauchbare Spur zu sein! Gleich morgen will er sich noch einmal vergewissern, was da los ist. Seine Gedanken schweifen ab, er sieht wieder Fred vor sich, wie er da so unbeweglich und blass an die Apparate angeschlossen daliegt. Noch vor kurzem haben sie miteinander gesprochen, sich verabredet, und nun das. Gespenstisch! Es dauert lange, bis Robert die Müdigkeit überfällt und er endlich einschläft.
Nie und nimmer hätte er das Amulett erwartet, aber es ist da! Im milden Licht schwebt es plötzlich vor ihm.
„Robert, was hast du in der Halle vorgefunden?“, ertönt die sanfte Stimme in seinem Traum.
„Nichts, das scheint eine ganz normale Lagerhalle zu sein.“
„Ist dir was Besonderes aufgefallen?“, fragt das Amulett nach.
„Anscheinend wird geschmuggelt oder irgendetwas Geheimnisvolles angeliefert. Ich habe gehört, wie sie von einer Lieferung gesprochen haben, die mitten in der Nacht ankommen soll. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber als ich sah, wie dieser Italiener gleich mit der Waffe zur Hand war, begann ich nachzudenken. Die Büros in der Lagerhalle liegen auf einer Empore, die Arbeiter und der Lagerleiter sitzen da oben ...“ Nach einigem Zögern fügt er hinzu: „Doch, mir ist noch etwas da oben aufgefallen. Im hinteren Büro habe ich auf einem großen Foto, das extra beleuchtet wurde, an der Wand hinter dem Schreibtisch eine wunderschöne Scheibe aus Gold gesehen, in der die zwölf Tierkreiszeichen eingraviert sind. Ein seltenes Stück, ich habe mich gefragt, wem das wohl gehört!“
Robert hat den Eindruck, als verblasse das Amulett etwas. Dann wiederholt es hastig, mit ungewohnt vibrierender Stimme: „Was sagst du da Robert, eine Scheibe aus Gold mit den zwölf Tierkreiszeichen?“ So aufgeregt hat Robert das Amulett noch nie erlebt. „Ja.“
Nach einer kleinen Pause hört er wieder die hypnotische Stimme: „Robert, wenn es das ist, woran ich denke, kommt eine Riesenaufgabe und eine schreckliche Gefahr auf dich zu! Es ist höchstwahrscheinlich das Zirkulum, das lange Zeit verschollen war. Versuche herauszubekommen, wo es sich befindet. Wer es besitzt, hat die Fähigkeit, alle Naturkräfte zu beherrschen. Wehe, es kommt in die falschen Hände.“ Das Licht verblasst und das Amulett verschwindet wieder im Hintergrund.
Während des Frühstücks kreisen Roberts Gedanken unablässig um diese Zirkulum, wie das Amulett es genannt hat. Wie in Trance löffelt er sein Müsli und schüttet seinen Tee in sich hinein und wundert sich immer noch darüber, wie das Amulett plötzlich so aufgeregt wurde, als er diese merkwürdige Scheibe erwähnt hat. Wie kann er es bloß anstellen, mehr darüber zu erfahren? Es muss ja wirklich etwas ganz Außergewöhnliches sein, denn noch nie hat er das Amulett so außer Fassung erlebt. Jetzt muss er sich unbedingt was einfallen lassen.
Vor dem Hochhaus trifft er seine beiden Freunde. Gemeinsam gehen sie zur Schule.
„Hey, Robert, hast du wieder was von diesen geheimnisvollen Blitzen gehört?“, fragt Chris sofort. Robert schüttelt nur stumm den Kopf. Chris wirkt enttäuscht. „Aber wenn du wieder was in der Richtung mitkriegst, dann sag uns auch Bescheid, wir wollen mit dabei sein!“
Tim rückt sich mit Nachdruck seine Brille zurecht. „Von uns bekommst du jede Unterstützung, das weißt du ja hoffentlich!“
Mittlerweile sind sie bei der Schule angelangt. Dort ist schon wieder der Teufel los! Gruppen von Schülern stehen auf dem Schulhof und diskutieren. Ein Polizeiauto, vom Hausmeister bewacht, parkt vor dem Eingang. Als sie näher kommen, hören sie auch schon die Stimmen einiger Lehrer aus dem Haus.
„Willst du nicht fragen, was da los ist?“, drängt Tim endlich ungeduldig, „da ist doch einiges oberfaul!“ Robert schüttelt den Kopf. „Keine Angst, das wird man uns noch rechtzeitig sagen. Aber wenn du es nicht erwarten kannst, frag doch selbst!“
Auch Chris ist furchtbar neugierig, will es aber vor Robert nicht zugeben. Also gehen alle drei weiter die Treppe hoch in ihre Klasse. Kaum haben sie das Klassenzimmer betreten, kommen Jakob, Sophie und Marlies auf sie zu.
„Habt ihr die Polizei gesehen? Der Direktor hat sie gerufen, weil wieder einige Flure mit Farbe aus diesen Pistolen beschmiert waren!“, berichtet Jörg. „Aber einen Schuldigen haben sie wohl noch nicht gefunden.“
„Letzte Nacht sind ein paar Typen hier ins Schulgebäude eingedrungen und haben noch zusätzlich einige Wände verschmiert“, ergänzt Simone. „Die Kerle werden jetzt gesucht.“
„Das ist ja auch der Grund, warum die Polizei gerufen wurde“, nickt Jörg bestätigend. „Das wird aber nicht viel nützen, sie werden diese Schmierfinken doch nicht finden. Die decken sich doch gegenseitig und geben sich Alibis.“
Mittlerweile hat sich die Klasse gefüllt. Dr. Bachty kommt und der Unterricht beginnt. Also keine Zeit mehr, irgendwelchen Gerüchten nachzugehen und darüber zu diskutieren. Aber der Inder beginnt von selbst, das Thema zur Sprache zu bringen.
„Ich möchte ja niemand zum Petzen verleiten, aber was sich da einige Rowdys erlauben, das geht sicherlich zu weit. Gestern und heute Nacht wurden ganze Wände im Schulgebäude durch Farbkleckse beschmiert.“ Dr. Bachty steht mit dem Rücken zur Klasse am Fenster und betrachtet die Bäume draußen. „Wir sind hier eine renommierte Schule, es ist ganz einfach für uns alle unwürdig, in so einem Gebäude zu lehren und zu lernen. Wir haben es nicht nötig, uns solch eine Diktatur aufzwingen zu lassen. Meine Bitte ist es, wenn ihr einen dieser Täter kennt, solltet ihr ihn benennen und euch auf keinen Fall mit ihm solidarisieren. Lasst nicht zu, dass wir eine asoziale Schule werden!“ Er dreht sich um, schaut die Schüler der Reihe nach an und sagt langsam und eindringlich: „Denkt bitte darüber nach, ihr könnt helfen, wenn ihr wollt und wenn ihr die Augen offen haltet.“ Dann beginnt er mit dem Unterricht.
In der großen Pause überlegen alle, wie sie es wohl anstellen könnten, die Täter zu überführen. Bekannt ist diese Gruppe ja, sie laufen ganz offen in ihren Tarnuniformen in der Schule rum. Es sind genau sieben Mann aus zwei unterschiedlichen Klassen. Die Polizei ist mittlerweile wieder weg. Bestimmt konnten sie nichts tun; nur mit Vermutungen lässt sich nichts anfangen. Robert nimmt sich vor, den Hauptkommissar mal darauf anzusprechen.
„Hey, Robert, können wir da nicht irgendwie mit eingeschaltet werden und helfen?“, flüstert Tim.
„Warum flüsterst du? Wir sind doch alle aufgefordert, zu helfen und die Augen offen zu halten“, gibt Robert amüsiert zurück. „Das lässt sich bestimmt lösen, wenn alle zusammenhalten und sich nicht durch wenige tyrannisieren lassen.“ Drei Typen aus dieser Gruppe kennt Robert bereits. Sie haben ja schließlich seinetwegen einen hässlichen dicken Farbklecks auf den Wänden der Gänge verursacht. Also hat er indirekt Schuld daran, dass gestern die Wand so besudelt wurde. Eigentlich müsste man diese drei dazu veranlassen, sich selbst zu stellen, überlegt Robert. Er beschließt erst einmal abzuwarten, ob sich von deren Seite was tut, wenigstens bis morgen.
Plötzlich hat Chris eine Idee. „Diese Gotcha-Waffen sind doch gar nicht so klein, dass sie in der Hosentasche verborgen werden können. Wir brauchen also nur zu schauen, wer so ein Ungetüm mit sich rumschleppt! So eine Schusswaffe ist doch mindestens einen halben Meter lang!“ Robert stimmt ihm zu und gemeinsam mit Tim geben sie die Idee von Chris sofort an die Klassenkameraden weiter. Einstimmig wird beschlossen, gleich nach dem Unterricht diese Tarnkleidungsträger zu beobachten.
Nach dem Mittagessen ruft Robert bekümmert den Hauptkommissar an. „Herr Werner, wie geht es Fred?“
„Es tut mir Leid, Robert, sein Zustand ist unverändert, weder besser noch schlechter! Aber du musst dir wegen seiner Betreuung keine Sorgen machen, es ist immer jemand von uns bei ihm.“ Robert gibt sich einen Ruck. Er darf jetzt nicht nur ausschließlich an Fred denken, es gibt so viel für ihn zu tun! „Herr Werner, bei uns in der Schule schießen ein paar Blöde mit diesen Gotcha-Waffen und machen dadurch die Wände kaputt“, sagt er. „Heute hat der Direktor die Polizei gerufen. Wissen Sie vielleicht etwas davon?“
„Nein, Robert, aber wenn es dich beruhigt, kann ich mich darum kümmern“, erwidert Werner freundlich. Robert lehnt dankend ab. Und mit seiner Bemerkung: „Es gibt bestimmt noch ein paar andere Aufgaben für einen Hauptkommissar zu erledigen“, gelingt es ihm sogar, Werner trotz der ernsten Situation zum Lachen zu bringen. Für heute Abend hat Robert einiges geplant, was Licht in das Geheimnis um die Halle bringen soll. Aber bis dahin sind mal wieder einige Hausaufgaben zu erledigen. Mitten in der Arbeit meldet sich Chris per Telefon.
„Hey Robert, ich komm mal kurz bei dir vorbei, ist es dir recht?“
Was soll er machen, die Störung passt ihm zwar jetzt überhaupt nicht in den Kram, aber seine Freunde haben eben ein Vorrecht ...
Kaum ist Chris da, sprudeln auch schon seine neuen Informationen aus ihm heraus wie ein gerade frisch aufgedrehter Springbrunnen: „Stell dir vor, wir haben diese Typen bis nach Hause verfolgt, aber es ist nichts Besonderes geschehen. Bei keinem haben wir irgendeine Waffe gesehen. Kann auch sein, dass sie bemerkt haben, dass wir sie verfolgen. Wir alle haben uns planmäßig verabredet und werden nun jeden Tag diese Burschen beobachten. Für jeden von diesen sieben Mistkerlen ist ein anderer von uns zuständig.“ Deutlich ist zu erkennen, dass Chris auf ein Lob wartet.
Robert nickt anerkennend. „Alles super organisiert, aber sag jedem, dass er keinen von den Burschen anreden soll, auch wenn er deutlich sichtbar Waffen trägt. Wichtig ist nur, dass wir überhaupt die Informationen haben. Außerdem, die Munition, die mit diesen Waffen verschossen wird, besteht sowieso nur aus Lebensmittelfarbe, ist also im Prinzip ungefährlich. Mist ist nur, wenn Wände damit beschmiert werden, es kostet eine Stange Geld, die wieder zu reinigen. Noch etwas, was ihr beachten müsst: Es gibt große und kleine Gotcha-Waffen. Die kleinen können in der Hosentasche getragen werden, sie sind nicht größer als eine normale Pistole. Die Patronen sind im Gegensatz zu den großen Waffen nur einen halben Zentimeter im Durchmesser, die Spannfeder ist ziemlich schwach. Aber ich glaube nicht, dass diese Typen sich mit so schwachen Waffen abgeben werden. Eine Kugel aus der Pistole fällt schon auf den Boden, bevor sie ihr Ziel erreicht. Die großen Waffen bekommen den Druck aus CO2-Kapseln. Und die geben schon ganz schön Dampf.“
„Hey, Robert, woher weißt du denn das alles?“, fragt Chris überrascht.
Robert winkt ab.Ich hab mich nur kurz schlau gemacht, weil ich diese Gotcha-Waffen auch nicht kannte, aber du kennst mich ja: ich weiß gern, womit wir es zu tun bekommen werden. Deshalb habe ich mich in dem Waffenladen in der Augustinerstrasse darüber informiert. Der Mann hat mir richtig ausführlich Auskunft gegeben. So einfach ist das.“
Kaum ist Chris weg, landet Dulgur auf dem Fensterbrett. Wieder unterbricht Robert seine Arbeit. Er legt seinen Schreiber weg und nimmt die Taube auf den Arm. „Hallo, kleine Dulgur, schön dich zu sehen. Was gibt’s denn?“ Die Taube kuschelt sich mit angezogenen Beinchen in seine Hand und gurrt vor Wohlbefinden. „Wir beobachten laufend das Grundstück, aber es hat sich bisher nichts weiter getan“, berichtet sie. „Die Bauarbeiter haben sich zurückgezogen und einen neuen Zaun angelegt, der das Grundstück von der nebenan liegenden Baustelle trennt. Mehr kann ich dir leider nicht berichten.“ Robert ist zufrieden. Momentan braucht er keine weiteren Informationen über das leere Grundstück. „Kleines, ich dank dir für deine Hilfe. Jetzt kannst du diese Überwachung erst mal wieder einstellen. Ich ruf nach dir, wenn ich wieder Hilfe brauche.“