Читать книгу Die Sagen von Berandan - Jo W. Gärtner - Страница 5

Kapitel 2

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Die holprige Straße lag ruhig und verlassen in der Mittagssonne. In langen Schleifen führte sie bergauf und verschwand schließlich hinter dem Hügel. Aus den Büschen, die am Wegesrand standen, tönte vergnügtes Gezwitscher.

Die Straße des Abschieds.

Unruhig wanderte Rimons Blick den weichen geschwungenen Kehren der Straße entlang. In den Abendstunden würde sie ihn von Wiesenau wegführen. Bisher hatte er nur sehr selten sein Dorf verlassen. Manchmal war er mit seinem Vater zum Markt in die nächstgelegene Stadt gefahren, doch sonst war er stets hier gewesen. Hier war er geboren, hier aufgewachsen, hier hatte er seine Freunde kennen gelernt, mit ihnen die wildesten Dinge erlebt, hier hatte er seine Familie – hier war er Zuhause. Doch nicht mehr lange.

Langsam wendete Rimon den Blick von der Straße und machte kehrt in Richtung des Dorfes. Er schlenderte den Weg hinunter, bog hinter dem Gasthaus „Zum Polternden Krug“ in eine kleine Gasse, die entsetzlich nach Kot und verfaulten Essensresten stank. Unter einem Fenster lag ein übel riechender Haufen. Rimon konnte zwischen braunem Exkrementen­brei verschimmelte Kartoffeln, einige Apfelbutzen und anderen Abfall ausmachen. Der gesamte Haufen war von einer Heerschar Fliegen bevölkert, die sich um ihren Platz auf dem warmen, stinkenden Hügel zu prügeln schienen. Von dem Haufen sickerte eine bräunlich-gelbliche Flüssigkeit den Weg herunter, die nicht weniger übel roch, und mündete in eine kleine Lache, in der sich das Schwein vom Gerber gegenüber genüsslich suhlte.

Rimon ging bergauf zu dem kleinen Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Das reetgedeckte Dach bog sich altersschwach und schwer unter dem ihm auferlegten Gewicht. Sie würden die Balken bald erneuern müssen, wenn das Dach nicht einstürzen sollte. Sie, die anderen, nicht er, denn er würde dann nicht mehr hier sein. Verdrossen blieb Rimon vor dem Haus stehen, betrachtete die krumm in den Angeln hängende Türe, die offen stand, die kleinen Fenster, die Bank neben der Tür, auf der er so oft gesessen war und geschnitzt hatte. Eine Wehmut ergriff ihn, zerdrückte ihm beinahe das Herz, dass Rimon für einen Augenblick nicht mehr atmen konnte. Wie sehr würde er all das vermissen, was ihm so lange selbstverständlich erschienen war.

Langsam ging er auf die Tür zu und trat in das schummrige Innere des Hauses. Die Decke hing tief.

Er erwartete eintönig schmeckenden Haferbrei. Wie an jedem Abend. Doch zu seiner Überraschung war der Tisch feierlich gedeckt und in der schweren Pfanne über der Feuerstelle brutzelten fettige Fleischstücke. Rimons Vater saß am Kopf des Tisches und erwartete seinen Sohn mit einem freundlichen Blick. Rimon glaubte, auch ein wenig Stolz entdecken zu können, doch sicher war er sich nicht.

Er solle sich setzen, sagte Thors, Rimons Vater, während er mit der rechten Hand auf einen Stuhl an der Tischseite zeigte, die zur Rückwand des Hauses lag. Als Rimon sich setzte, schob ihm sein Vater einen vollen Krug Bier zu. „Heute ist dein sechzehnter Geburtstag. Du weißt, was dies bedeutet. Neue Pflichten, aber auch neue Rechte.“

Thors machte eine kleine Pause und lächelte seinem Sohn aufmunternd zu. Auffordernd schob er den schwappenden Krug noch ein wenig näher zu Rimon. Selbstverständlich wusste Rimon, was der sechzehnte Geburtstag bedeutete. Er wusste es, aber er wollte es nicht wissen. Jetzt war er erwachsen. Jetzt durfte er alles, was die Erwachsenen durften. Er musste das Bier nicht mehr heimlich trinken. War das nicht toll? Nein, das war es wahrlich nicht. Rimons Gemüt verdüsterte sich bei dem Gedanken, was dieser Geburtstag noch alles für ihn bedeutete.

Thors Lächeln verschwand. Er wurde ernst. „Dieser Tag soll aber auch dein letzter in diesem Haus sein. Als Gast wirst du immer willkommen sein, aber hier leben sollst du erst wieder als alter Mann. Du bist jetzt erwachsen – du bist ein freier Mann. Kein Heim soll dich hemmen, dich als nützlich für Berandan zu erweisen.“

Thors erhob seinen Krug zum Wohle. Rimon zögerte. Er dachte daran, wie häufig er gemeinsam mit seinen Freunden heimlich Bier getrunken hatte. Einmal hatten sie viel zu viel in sich hineingegossen, sodass dass sie nicht mehr recht wussten, wo oben und wo unten war. Nach Hause zu gehen, hatten sie sich in diesem Zustand natürlich nicht mehr getraut. In einem Heuschober außerhalb des Dorfes hatten sie ihren Rausch ausgeschlafen und am nächsten Morgen die wildesten Geschichten über ihr Fernbleiben erdichtet. Dass sie am Abend zuvor im Wald von Gobblins und Wolfsreitern überrascht worden waren und sich gerade noch rechtzeitig auf die Bäume retten hatten können. Hysterie und Panik war dadurch im gesamten Dorf ausgebrochen. Die Männer hatten sich bewaffnet und waren tage- und nächtelang durch die Wälder gezogen, um die Eindringlinge erbarmungslos zu jagen; die Frauen hatten Türen und Fenster verbarrikadiert und die Alten von vergangenen Zeiten erzählt, als sie sich – wie sie sagten – des Öfteren gegen alle möglichen dunklen Gestalten wehren mussten. Natürlich war die Jagd umsonst gewesen, aber niemand hatte die Jungen verdächtigt, zu ernst wurde die Gefahr genommen.

Nun also war Rimon sechzehn Jahre alt und er musste sich nie wieder verstecken, sollte er einmal zu tief ins Glas schauen. Doch mit dem Verbot verschwanden auch die kleinen abenteuerlichen Geschichten, an die sich er und seine Freunde so gerne erinnerten.

Schon lange hatte er sich vor diesem Tag gefürchtet. In Wiesenau lebten all seine Freunde und er war von allen der Älteste. Nun musste er gehen, während all die anderen zunächst hier bleiben durften. Aber er wollte mit seinen Freunden durch die Wiesen und Felder ziehen, kleine und nicht gefährliche Abenteuer bestehen und die Erwachsenen mit Schabernack in die Verzweiflung treiben. Doch nun war er selbst einer dieser Erwachsenen, zu denen er nie gehören wollte.

Thors blickte seinen Sohn erwartungsvoll an. Noch immer hatte er den gefüllten Krug erhoben und wartete, bis Rimon ebenfalls seinen Krug in die Hand nahm, damit sie – Vater und Sohn – auf das zukünftige Leben Rimons anstoßen konnten.

Rimon schaute den Krug lange an, das auf- und niederschwappende kühle Nass darin, das Erwachsensein. Dahinter verschwommen die Erinnerungen an all die Raufereien, Spiele und Abenteuer, an all die Geschichten und Scherze, die seine Kindheit so wunderbar und schön werden ließen. Nun war dies endgültig vorbei.

Vorsichtig blickte er zu seinem Vater auf. Stolz und aufrecht saß Thors da. Für ihn bedeutete der sechzehnte Geburtstag den Aufbruch in die große weite Welt, war Kampf für den König, hieß Aufstieg zum Ritter und unerschütterlichen Krieger, zu dem blassgesichtige und picklige Knabengesichter bewundernd aufschauten.

Doch für Rimon war dieser Tag Abschied von einer vertrauten, heimischen Welt und Aufbruch in einer unsichere und gefährliche Zukunft.

Der klare Blick seines Vaters zeigte ihm, dass es keine Widerworte gab. Rimon musste gehen und doch, er wollte nicht. Für nichts auf der Welt wollte er Wiesenau verlassen. Die flachen Hügel, die weiten Wiesen mit den kleinen, plätschernden Bächen dazwischen, die lichtdurchfluteten Waldränder, hinter denen tiefer, undurchdringlicher Wald lag, um den sich Mythen und Geheimnisse rankten. Nie würde er dieses Stückchen heile Welt verlassen. Da müsste ihn sein Vater schon dazu zwingen. Aber er, Rimon, würde dem Willen seines Vaters trotzen, sich nicht der Tradition, der er sowieso nichts abgewinnen konnte, beugen. Nein!

Aber hatte er überhaupt das Recht dazu, sich dem Willen seines Vaters zu widersetzen? Kein Sechzehnjähriger stellte sich gegen den eigenen Vater. Nie würde Thors nachgeben und sich dafür im „Polternden Krug“ auslachen lassen. Es würde sein Ansehen ruinieren. Wahrscheinlich würde er seinen Sohn sogar mit Gewalt aus dem Haus treiben.

Aber dennoch war heute an diesem Tisch die letzte Möglichkeit, dem Schicksal noch eine andere Wendung zu geben.

Worte und Widerworte kämpften in Rimon, rangen unermüdlich, weder das Herz noch der Verstand wollten freiwillig das Feld räumen. So schlugen in Rimons Kopf Gedanken wie wild aufeinander ein, bis die Worte aus ihm herausplatzten: „Vater, ich möchte überhaupt nicht von Wiesenau wegziehen. Ich bin glücklich hier und nirgends anders!“

Stille. Unerträgliche Stille. Dumpf dröhnte sie in Rimons Ohren. Die Ungläubigkeit in Thors Augen wich zunächst Entsetzen und schließlich der Wut. Doch Thors sagte nichts. Die Lippen zitterten verkrampft, als sammle sich hinter ihnen ein wilder Fluch, der nur darauf wartete, freigelassen zu werden. Aber noch immer herrschte Stille, die Rimon den Kopf zerplatzen lassen wollte.

Warum hatte er das auch gesagt? Welch ein Esel war er doch! Er konnte sich sicher sein, dass er nicht den geringsten Erfolg haben würde. Mit seiner Mutter hatte er oft über den verhängnisvollen sechzehnten Geburtstag gesprochen. Sie hatte ihn verstanden. Aber sie hatte ihm auch deutlich gemacht, dass Thors einen Sohn haben wollte, der in die weite Welt hinauszieht, der Abenteuer erlebt und der irgendwann als ruhmvoller Kämpfer ins Dorf zurückkehren würde.

In Berandan war es seit Menschengedenken so Brauch, und wer sich dieser Tradition verweigerte, wurde nicht als Mann, sondern lediglich als Nichtsnutz und Versager betrachtet. Höchstens der Sohn des Wirtes durfte bleiben – von ihm erhofften sich die alten Männer eines jeden Dorfes noch viel Gutes für sich selbst.

Rimons Vater setzte seinen Bierkrug mit einem dumpfen Krachen auf dem robusten Holztisch ab. Seine grünen Augen, die Rimon noch vor einem kleinen Moment freundlich und stolz angeblickt hatten, verengten sich nun zu kleinen Schlitzen und funkelten böse. Wütende Blicke, die Rimon entgegen blitzten, denen er nicht standhalten konnte. Unsicher schaute er nach unten, in seinen Schoß, in dem seine Hände verkrampft ineinander geballt waren.

Er hätte es wissen müssen; es hatte keinen Sinn, mit seinem Vater über solche Dinge zu sprechen; das alles brachte nur Streit – und das an seinem letzten Abend in diesem Haus.

Thors erhob sich, baute sich groß und mächtig vor Rimon auf. Seine grünen Augen funkelten noch immer bedrohlich. Zwischen ihnen saß die große, breite Nase, die alle in Thors’ Familie hatten. Das kurze braune Haar war gepflegt, nur der Bart war nicht gestutzt. Von den Koteletten bis zum Kinn wuchs er stachelig und wild. Er verlieh Rimons Vater das Aussehen eines Seemanns, obwohl Thors nie zur See gefahren war und er das Meer fürchtete. Seine wilden Geschichten über die Ungeheuer, die in den großen Meeren der Welt hausten, hatten auch bei Rimon ein Unbehagen gegenüber der See entfacht.

Thors hatte ein frisches weißes Hemd an, welches vorn an der Brust mit einfachen Schnüren geknotet war. Unter dem Hemd aus groben Leinen zeichnete sich deutlich der muskulöse Oberkörper ab. Er war ein großer Krieger gewesen, dessen Ruhm bis an die äußersten Grenzen des Reiches und darüber hinaus bekannt war. Seine Muskeln zeugten noch immer von den vergangenen Tagen, als er jung gewesen war.

Als Rimon nun seinen Vater von unten heran anblickte, schien es, als wäre dieser nochmals um einige Zentimeter gewachsen.

„Weh mir, o Erdan, womit habe ausgerechnet ich so etwas verdient!“, rief Thors mit bebender Stimme. „Warum muss sich ausgerechnet mein Sohn so weich, so kraftlos, so weibisch verhalten!? Habe ich dir etwas getan? Habe ich mich falsch verhalten?“ Wütend bellte Thors die Worte gen Himmel, den Blick fest auf eine Stelle im dunklen Gebälk gerichtet. „Nein, das habe ich nicht! Ich habe mir, verdammt noch mal, nie etwas zu Schulden kommen lassen! Nie! Immer habe ich aufrichtig gelebt und gehandelt!“

Trotzig und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der geballten Faust in die flache andere Hand. Der starre Blick ließ die unsichtbare Stelle an der Decke los und richtete sich nun in all seiner Unerbittlichkeit auf Rimon. „Tag für Tag gab ich mir alle Mühe, meinen einzigen Sohn, alles was ich habe, zu einem großen und tapferen Kämpfer zu erziehen. Mutig sollte er sein, im ganzen Land geachtet und bei den Feinden gefürchtet. In gewaltigen Schlachten sollte er für Berandan kämpfen. Groß sollte sein Ruhm sein – und ich, Thors von Callan, wollte als stolzer Vater friedlich und zufrieden entschlafen. Mein Erbe sollte weiterleben, meine Taten noch vergrößert werden!“

Sein Wüten, das zu Beginn noch die Wände erzittern ließ, war zu einem brüchigen, tonlosen Jammern geworden. Der Wunsch, den Thors sich all die Jahre erträumt hatte, schien sich in Luft aufzulösen – und mit ihm auch seine sonst so kräftige Stimme. Erschöpft ließ sich der stolze Vater auf seinen Stuhl fallen. Sein Blick war gesenkt.

„Jetzt reicht es aber auch wieder!“ Bestimmt setzte Jarla die große Pfanne auf den Tisch. Der Duft gebratenen Fleisches stieg Rimon in die Nase. Doch kein Wasser wollte ihm im Mund zusammenlaufen; trocken und schal war sein Geschmack.

„Wir alle wissen sehr genau, dass du früher, als du noch ein junger und starker Mann warst, Großes für Berandan geleistet hast. Wir wissen ebenfalls, dass du stets einen Sohn haben wolltest, der genauso wird wie du.“ Jarla versuchte hörbar, ihre Wut zu unterdrücken, was ihr jedoch nur leidlich gelang. „Versteh endlich, dass andere Menschen andere Vorstellungen haben, die vielleicht nicht das Abenteuer suchen wollen, die sich für ihr Dorf und ihre Familie einsetzen wollen und nicht nur für den König!“

Jarla ließ sich erschöpft auf den noch freien Stuhl fallen. Ihre braune Schürze war über und über mit Fett bespritzt. Das lange blonde Haar hing ihr ungewaschen in Strähnen auf die Schultern. Das Kleid, das sie unter ihrer Schürze trug und das lose über ihre schlaff gewordene Brust hing, hatte ein ähnliches Braun wie die Schürze und war beinahe so befleckt. Sie sah müde aus, entsetzlich müde. Rimon hatte seine Mutter häufig im Schlafzimmer weinen gehört. Heftige Schluchzer, weil sie bald ihren Sohn verlieren würde und sie nicht wusste, ob und wann er zurückkehren würde. Sie wurde jedes Mal harsch von Thors unterbrochen. Harte Worte, die Jarlas Mund verschlossen, die sie mit ihren Ängsten alleine zurückließen. Thors hatte kein Verständnis für diesen Abschiedsschmerz.

Jarlas zitternder Tonfall war verschwunden. Wut hatte sich in die Trauer gemischt. „Wie kannst du behaupten, du hättest deinen Sohn erzogen? Wie kannst du dich bei Erdan beschweren? Du warst doch immer weit weg von Zuhause und hast mich hier alleine gelassen. Nie hast du dich gefragt, ob du auch für deine Familie da sein müsstest; doch für Berandan hast du immer alles getan!“

Tränen liefen ihr über das schmutzige Gesicht. Sie schluchzte heftig und wischte ihre Tränen schnell mit der fettigen Schürze weg.

Spannung kehrte in Thors’ eingesunkenen Körper zurück. Jarlas Worte entfachten die Wut in ihm auf ein Neues. Die Leere in seinem Blick wich erneut zornigem Funkeln. „Geh! Geh mir aus den Augen! Ich kann es nicht mehr hören!“, knurrte er. „Du weißt doch nur zu gut, wie wichtig es für uns alle ist, dass unsere Söhne in den Krieg ziehen. Jeder muss seinen Beitrag leisten, damit wir den Berskern standhalten können. Ich habe meinem Sohn eine gute und eine teure Ausbildung bezahlt. Ich habe ihm ein Schwert und ein Pferd besorgt. Für Rimon habe ich alles gegeben, damit er ein gutes Leben haben kann! Drei lange Jahre hat Rimon alles gelernt, was ein Kämpfer können muss. Er kann nun reiten, mit dem Schwert fechten, er kann lesen und schreiben und er weiß, sich am Hofe richtig zu verhalten. Und das ist nun der Dank dafür?! Meinst du etwa, ich kann stolz darauf sein, ein kümmerliches Häufchen groß gezogen zu haben?“

Thors Stimme war von einem bösen Grollen zu einem wilden Schreien angeschwollen. Mit einer wuchtigen Hand­bewegung schleuderte er die Pfanne vom Tisch. In hohem Bogen flog der Braten durch den Raum, klatschte an die Wand, die Soße spritzte und verteilte sich auf dem Boden. Mit hoch rotem Kopf brüllte er seiner Frau hinterher, die längst weinend das Zimmer verlassen hatte. Thors glich einem bebenden Vulkan, feurige Worte spuckend, die harten Brocken gleich auf seine Frau einschlugen.

Rimon saß wie angewurzelt da. So hatte er seinen Vater noch nie erlebt. Auch nicht damals, als er seine kleine Schwester Tama bis zum Kopf im Schlamm eingegraben hatte und den Schweinen begreiflich machen wollte, dass es sich bei Tamas Kopf nur um einen besonders großen Apfel handelte.

Er wagte nicht zu atmen. Von draußen konnte er das gedämpfte Schluchzen seiner Mutter hören. „Kümmerliches Häufchen“, welch eine schändliche Bezeichnung. Sein Vater hatte ihn kümmerliches Häufchen genannt. Er konnte es nicht fassen.

Seine Augen blickten starr, aber ziellos in den Raum. War das wahr? War das tatsächlich eben geschehen? Die Stimme seines Vaters rüttelte Rimon aus seinen Gedanken.

„Hast du verstanden, Rimon? Es gibt kein Zurück mehr. Du musst diesen Weg gehen. Die Bersker werden stärker und stärker. Sie haben Talgarth unter ihrer Kontrolle und zuletzt wurden sogar Gobblins in Fihangel gesehen. Du musst kämpfen! Verstehst du?“

Thors war wieder etwas ruhiger geworden, doch seine Stimme war noch immer so eindringlich wie zuvor. Rimon nickte langsam und kaum merk­bar, ohne seinen Vater dabei anzusehen. Er hob verdrossen den Krug und stieß mit seinem Vater auf seinen Geburtstag an – der Blick war fest auf die verbliebene Hand in seinem Schoß gerichtet.

* * * * *

Rimon war wütend und traurig zugleich. Wütend über seinen Vater und sein Verhalten. Weniger, wie er sich ihm gegenüber verhielt; schließlich wusste Rimon genau, dass er früher oder später von Zuhause wegziehen musste. Auch seinen Freunden würde es bald so ergehen und, wer wusste dies schon genau, vielleicht würden sie schon in wenigen Wochen gemeinsam über blühende Wiesen und durch dunkle Wälder, durch wilde Flüsse und lärmende Städte ziehen. Aber Thors verhielt sich wie ein Tyrann gegenüber Jarla. Sie war eine solch gutmütige Frau, die ihren Sohn über alles liebte. Jahrelang hatte sie alleine Rimon und seine jüngere Schwester Tama groß gezogen und zugleich das Haus in Ordnung gehalten und die Felder bewirtschaftet. Thors dagegen kämpfte in Talgarth und am Mundan, dem großen Fluss im Süden jenseits der Berge, gegen Gobblins und Bersker und einmal gar gegen einen Lindwurm. Tapfer verteidigten sie ihre Stellungen und trieben alle Feinde, die es wagten, den Fluss zu überqueren, augenblicklich in und über den Strom zurück. Groß war Thors’ Ansehen, doch Jarla gegenüber zeigte er sich nicht wie ein heldenhafter Ritter. Sie musste all seine Übellaunigkeiten ertragen, während die anderen Ritter und Knappen nur seinen Heldenmut und seinen unzerstörbaren Glauben an Berandan und den König kannten.

Aber vor allem war Rimon traurig – unendlich traurig. Er wollte das Dorf nicht verlassen, doch er musste. Es gab keinen Weg zurück. Nun musste er sein Leben selbst in die Hand nehmen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte. Er hatte Mut, aber nicht, wenn er alleine war. Sicher konnte er viele Tage in der Wildnis überleben, aber doch nicht alleine. Wie sollte er ganz auf sich gestellt nur zurechtkommen? Zugleich spürte er ein seltsames Kribbeln, immer wenn er daran dachte, wie er als freier Mann über weite Wiesen ritt, die Sonne über ihm schien und er den Wind an seinen Wangen spüren konnte. Bilder taten sich auf von kleinen Kindern, die ehrfurchtsvoll zu ihm aufblickten, wenn er von einem Kampf in die Stadt zurückgeritten kam. Von anderen Kriegern, die seine Tapferkeit und sein Geschick rühmten. Von jungen Frauen, die ihm sehnsuchtsvoll nachblickten. Wenn er ein großer Krieger wäre… ja, wenn… Doch wie sollte er das denn je werden, wenn er schon aufgrund des kleinsten Eulenrufs in dunklem Wald in Angstschweiß badete? Ja, er würde gerne so sein wie sein Vater. Doch er wusste nur zu gut, dass er das Zeug dazu nicht hatte, dass er viel zu ängstlich, viel zu schwächlich war. Da war es doch besser, zu Hause in Sicherheit zu bleiben. Da war es doch schöner, ein Kind zu bleiben.

Tränen stiegen auf, die Rimon schnell wieder hinunterschluckte, denn sein Vater stand direkt neben ihm und beobachtete in mit einer Mischung aus Strenge und Ermutigung.

Sein Pferd Yaris stand gesattelt neben ihm. Es schnaubte, so als könnte es kaum mehr erwarten, dass die Reise endlich losging. Pechschwarz war es und obwohl es noch sehr jung war, maß es bereits beinahe zwei Meter. Die Mähne war gestriegelt und in die geflochtenen Enden waren grüne Bändchen gebunden. Ein altes Märchen besagte, dass diese grünen Bändchen in der Mähne eines jeden stolzen Pferdes alle bösen Mächte fernhalten sollten. Rimon konnte sich nicht mehr genau an dieses Märchen erinnern. Er hielt solche Geschichten für sentimentales Gerede der Alten.

Das schimmernde Fell des Pferdes war vor wenigen Stunden von Tama gereinigt und der Schweif von allem Dreck befreit worden. Yaris war komplett schwarz, nur knapp unter dem rechten vorderen Huf hatte er einen weißen Fleck von der Größe einer Kinderhand. Es war ein edles Pferd und hatte Thors sicherlich ein Vermögen gekostet.

„Wir werden sicher gute Freunde“, flüsterte Rimon in Yaris’ Ohr.

Als habe das Pferd verstanden, wieherte es freudig und warf den Kopf auf und nieder. Rimon lächelte. Ein treues Pferd würde ihm vieles erträglicher machen. Auch Thors lächelte. Er wusste nur zu gut, was seinem Sohn in diesem Moment durch den Kopf ging.

Rimon wandte sich seiner Mutter zu, die traurig, aber gefasst nahe der Haustüre stand, und umarmte sie lang und innig. „Lebe wohl, Mutter“, presste er mit kratzender Stimme hervor. Er musste heftig schlucken, bis der Kloß in seinem Hals verschwand.

„Lebe wohl, Rimon. Du wirst mir fehlen. Schau ab und zu hier vorbei und vergiss deine alte Mutter nicht.“ Eine Träne sammelte sich in Jarlas Auge, floss rasch über ihre Wange und tropfte auf ihr Kleid herab. Aus einer Tasche ihrer Schürze holte sie eine Kette mit einem kleinen silbernen Amulett. In feinster Arbeit war ein gewundener Drache geschmiedet, der von einem Schwert von oben bis unten durchbohrt war. Am Rand stand kreisförmig um den Drachen herum eine alte Inschrift, die Rimon weder lesen noch verstehen konnte.

„Mer birail beraldal trai’l grandilmerania duria”, las Jarla mit beschwörender Stimme vor. „Es wird dir Schutz bieten, verliere nie das Vertrauen darin.“

Rimon blickte seiner Mutter tief in die Augen, doch er fand nur eine endlose Leere, kein Ufer, an dem er festmachen und erkennen konnte, was seine Mutter fühlte. Nichts. Nur Leere.

Rasch wandte er sich ab und ging zu Tama, seiner Schwester. Sie weinte ein wenig, sagte aber nichts. Mit ihren großen dunklen Augen schaute sie ihn traurig an. Rimon gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Sorge dich um Mutter, Tama. Ich mache mir Sorgen um sie.“

Tama nickte, sagte aber noch immer nichts. Dann drehte sich Rimon um und trat vor seinen Vater, der ihm seine große rechte Hand auf die linke Schulter legte. „Sei tapfer, mein Sohn! Auch in auswegloser Situation gibt es einen Ausweg. Nicht immer erkennt man ihn auf den ersten Blick. Schau genau hin und du findest ihn. Und erkenne, dass manches, was du heute als unwichtig erachtest, schätzenswert ist. Befrage die Vergangenheit. Sie kann dir viel erzählen. Und höre auf die Geschichten, die dir die Flüsse, die Bäume und der Wind erzählen. Sie wissen viel mehr als du und jeder Mensch.“

Fest und tief blickte Thors Rimon in die Augen. Es schien, als bliebe ihm nichts verborgen, was Rimon dachte, wovor er Angst hatte, wie er fühlte. Rimon fühlte sich unwohl. Rasch wandte er den Blick ab, marschierte festen Schrittes zu seinem Pferd, das ungeduldig wartete, stieg in den Steigbügel und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Dann hob er die Hand zum Gruß und trieb sein Pferd an. Langsam schritt es den Weg hinunter zum „Polternden Krug“. Als er ein letztes Mal zurückblickte, sah er seinen Vater, wie er neben Jarla stand und seinen Arm um ihre bebenden Schultern legte.

Vor dem Wirtshaus standen einige Bewohner des Dorfes und riefen ihm Glückwünsche, Erfolg und Mut zu, während ein paar kleine Kinder zu ihm heranliefen und Blumen in die Stiefelschnallen und die Mähne steckten. Als er weiterritt, entdeckte er seine Freunde auf der Straße. Kira vom Nachbarhof stand dort, ebenso wie Rollo, Gralan und Tom.

„Lass uns noch ein paar Gobblins übrig!“, schrie Tom und lachte.

Kira winkte mit ihrem rechten Arm, wobei der Ärmel ihres Kleides ein wenig herunterrutschte. Ein weißer, dünner Oberarm kam zum Vorschein. Man sah ihr an, dass sie in ihrem Leben nur selten hart gearbeitet hatte. Ihr Vater besaß eine Pferdezucht. Die Menschen kamen von weit her, um sich bei ihm ein Pferd zu kaufen. Geldsorgen musste er sich nicht machen. Auch Yaris stammte aus dem Stall von Kiras Vaters. Sie rief ihm zu, dass er auf sich aufpassen solle und nie seine Freunde vergessen dürfe, denn sie würden ihn auch nie vergessen.

Rimon verabschiedete sich nur kurz. Jeder längere Abschied hätte ihn noch trauriger gemacht. Zügig ritt er weiter. Als er am letzten Haus des Dorfes vorbeikam und die Bewohner hinter sich gelassen hatte, trat ein junges Mädchen aus dem bereits etwas zerfallenen Haus.

Es hatte rötliche Haare, die es zu zwei Zöpfen, die auf beiden Seiten des Kopfes herabhingen, geflochten hatte. Auf seinen Wangen verteilten sich unzählige Sommersprossen, besonders rundum die kleine Nase. Die Augen, die immer fröhlich strahlten, schauten jetzt traurig zu Rimon auf.

Es war Yolanda. Sie lebte erst seit kurzem in Wiesenau. Mit ihrer Mutter war sie im Winter hergezogen. Man erzählte sich, dass sie aus dem Süden gekommen waren, wo sie von Berskern vertrieben worden waren. Doch niemand wusste es genau, denn niemand hatte danach gefragt. Die Menschen des Dorfes beäugten alle fremden Menschen voller Misstrauen und arme Mütter mit ihren Kindern erst recht. Der Dorfvorsitzende gab ihnen schließlich das Haus am Ortsrand. Schon lange lebte hier niemand mehr, seitdem die alte Griza gestorben war. Keiner wollte in das Haus ziehen, denn die Leute munkelten, Griza hätte sich mit seltsamer Zauberei abgegeben und nachts mit mysteriösen Gestalten wilde Tänze aufgeführt. Nein, in dieses Haus wollte wahrlich niemand. Doch für die beiden Flüchtlinge aus dem Süden war es gerade recht.

Rimon hatte Yolanda eines Tages im Wald getroffen. Er musste auf die Jagd gehen, denn er sollte seinem Ausbilder einen großen Vogel auf den Teller bringen. Gerade hatte er sich vorsichtig an einen mächtigen Auerhahn herangepirscht und die Armbrust schussbereit angelegt, als plötzlich ein lauter gellender Schrei durch den Wald tönte. Der Auerhahn war ebenso erschrocken wie Rimon selbst. Noch während Rimon verwundert um sich schaute, woher denn der Schrei gekommen war, rannte dieses Mädchen mit den roten Haaren und den lustigen Zöpfen zwischen den Bäumen hervor und direkt auf den Auerhahn zu, der zunächst vor Schreck erstarrte, bevor er schließlich panisch die Flucht ergriff.

„Hee, du dummer Vogel, bleib stehen! Ich will doch nur mit dir spielen. Wir wollen doch nur spielen. Dummer Vogel, du, bleib da bei mir, bevor ich noch ungeduldig werde!“ Yolanda schrie dem Auerhahn hinterher, sah dann aber ein, dass sie damit keinen Erfolg haben würde. Dafür hüpfte sie nun im Kreis und schrie dabei: „Hey hey, Frühling, hey, endlich bist du da. Hey hey, Frühling, Yolanda ist auch da!“

So sprang sie eine Weile, bis sie sich erschöpft auf das weiche Moos des Waldbodens fallen ließ. Die Arme und Beine weit von sich gestreckt, rief sie „Dummer Vogel, dummer du! Wollte doch nur mit dir spielen!“ Und dann fügte sie in einer anderen Sprache hinzu: „Faglar-krâlk!“

„Hättest du mich in Ruhe schießen lassen, dann wäre dir der Vogel nicht entwischt.“ Rimon kam aus seinem Versteck hervor. Er war ärgerlich, denn diese Göre hatte ihm die sichere Beute und damit ein großes Lob von seinem Mentor verjagt.

Yolanda erschrak so sehr über das plötzliche Auftauchen des fremden Mannes, dass sie fluchtartig davonrannte und erst nach einigen Rufen stehen blieb und zurückkam.

Yolanda machte Rimon zunächst heftige Vorwürfe, weshalb er denn diesen schönen Auerhahn umbringen wollte, und Rimon ärgerte sich darüber, dass sie die Beute einfach so vertrieben hatte. Doch dann freundeten sie sich rasch an. Yolanda lachte viel und herzlich. Sie liebte die Natur und noch viel mehr liebte sie den Frühling. Und sie war anders als seine Freunde, sie dachte anders. Zwar verstand er sie nicht immer, aber auf irgendeine Weise faszinierte ihn das Mädchen.

Von nun an trafen sie sich öfters im Wald. Im Dorf durfte sich Rimon nicht mit der Fremden blicken lassen. Nicht nur sein Vater hätte ihm den Kontakt verboten. Wahrscheinlich hätten sich auch seine Freunde, allen voran Kira, von ihm abgewendet. Doch Yolanda wollte nicht verstehen, weshalb sie sich nur im Wald treffen sollten. Rimon versuchte, es zu erklären, aber sie verstanden sich nicht.

Nun stand sie am Straßenrand. Ihre langen Zöpfe hingen über ihre Schultern und Brüste, die sich unter dem zerschlissenen Kleid, das sie trug, abzeichneten. Die Füße waren staubig und dreckig und ihre Haut schon gebräunt.

Rimon zügelte sein Pferd und schaute zu Yolanda herüber. Keiner sprach ein Wort. Traurige Augen sahen ihn an. Er erwiderte den Blick nur kurz. Dann trieb er Yaris an und galoppierte aus dem Dorf.

* * * * *

Die ersten drei Tage und Nächte musste er in der freien Wildnis verbringen – so wie es die Tradition gebot. Erst wenn er hier seinen Mut gezeigt hatte, konnte er weiterziehen, großen Taten entgegen.

Während der Ausbildung hatte er eine Nacht lang unter freiem Himmel lagern müssen. Es war Sommer gewesen und der Mond hatte hell geschienen. Eine friedliche Nacht, in der sich Rimon nicht fürchten hatte müssen.

Aber jetzt sollte er inmitten des Waldes drei Nächte verbringen. Bären und Wölfe trieben sich manchmal im Frühjahr durch die Region. Noch waren sie ausgezehrt von einem harten und unerbittlichen Winter. Nun kamen sie von den Bergen herab und nutzten die ersten warmen Tage, um sich die Bäuche voll zu schlagen.

Er war ein Angsthase, nichts weiter, redete sich Rimon ein. Was sollte denn schon groß geschehen? Er würde sich ein prasselndes Feuer machen, an dem er sich wärmen konnte und das die wilden Tiere fürchteten. Rimon richtete sich im Sattel auf, reckte das Kinn leicht in die Höhe und versuchte, stark und tapfer auszusehen. Mut war schließlich auch eine Frage der Haltung.

Plötzlich verdunkelte sich die Sonne. Der lange Schatten, den er und Yaris eben noch geworfen hatten, verschwand und ein frischer Wind hob an. Dunkle Wolken waren aufgezogen und hatten sich vor die Sonne geschoben. Sie waren von Norden gekommen und türmten sich nun mächtigen Bergen gleich über ihm auf. Sie brachten das Grau mit sich und legten ihren Schatten über alles. Über jeden Baum und Strauch, über das Gras und die Hügel, über Yaris und Rimon. Das Grau kroch fahl durch seine Haut und legte sich eisig auf sein Herz. Bevor Rimon darum bitten konnte, dass es doch nicht regnen sollte, fühlte er bereits die ersten Tropfen auf seiner Stirn. Die Vögel, die vor wenigen Augenblicken noch vergnügt in den Büschen am Wegesrand gepfiffen und gezwitschert hatten, ver­stummten und zogen sich in den Schutz ihrer Nester zurück. Stille kehrte ein, nur der Wind blies stärker und lauter. Bange blickte sich Rimon um. Er war ganz allein. Nirgends ein Mensch, ein Tier, ein Vogel am Himmel, nichts. Nur er und Yaris, der Wind und die dunklen Wolkentürme über ihm. Ein unwohles Gefühl stieg in Rimon auf.

Und da war noch etwas anderes, das er fühlte. Etwas, das langsam und kalt seinen Rücken emporkroch und sich schwer auf ihn legte. Es war Angst.

* * * * *

Nasse schwere Äste schlugen Rimon ins Gesicht, als er von der Straße in den unwegsamen Wald abbog. Es regnete inzwischen in Strömen. Der Mantel, den er sich über die Schultern geworfen hatte, bot nur wenig Schutz und so war er schon bald bis auf die Knochen nass. Die Kälte kroch in seine Stiefel und Rimon zitterte am ganzen Leib.

Zwischen den Bäumen konnte er einen kaum erkennbaren Pfad aus­machen. Wahrscheinlich ein alter Wildwechsel. Hier konnte Rimon schneller reiten und nur selten schlugen Äste gegen seine Stirn.

Es war rasch dunkel geworden. Der Regen und der dichte Wald verhinderten, dass das Tageslicht bis zu ihm durchdringen konnte.

Dann öffnete sich das Unterholz und Rimon ritt auf eine kleine Lichtung. Sie war nicht sonderlich groß, aber die Bäume, die den Platz umgaben, schlossen sich mit ihren dichten Baumkronen zu einer schützenden Decke zusammen, so dass nur wenige Tropfen auf den Boden fielen.

In der Mitte der freien Fläche waren einige Steine aufgetürmt. Sie schienen nach einer gewissen Regelmäßigkeit aufgebaut worden zu sein. Die Steine bildeten einen Kreis, in dessen Mitte ein flacher und kreisrunder Stein lag. Dieser war geschwärzt von Ruß und ein wenig Asche lag obenauf.

Da hat sich aber jemand viel Mühe mit der Feuerstelle gemacht, dachte Rimon und musste schmunzeln. Aber warum legte jemand eine Feuerstelle dermaßen kunstfertig an? Und – wer legte hier an diesem verlassenen Ort inmitten dieses unwegsamen Waldes überhaupt eine Feuerstelle an?

Bei diesem Gedanken verschwand Rimons Lächeln und er wurde unruhig. Wer konnte sich hier nur herumtreiben? Ein Cuirfon, ein Gesetzesloser, oder vielleicht sogar Gobblins? Nein, Gobblins würden sich nicht lange mit der Gestaltung der Feuerstelle aufhalten.

Rimon blickte sich um, strengte seinen Blick an, als er zwischen den Bäumen in die Dunkelheit des Waldes starrte, aber er konnte nichts Auffälliges entdecken. Nur der Regen prasselte unaufhörlich von oben auf das Blätterdach. Rimon ging zur Feuerstelle und untersuchte sie genauer. Die Asche und der Stein waren kalt, auch waren keine Fußtritte in der weichen Erde zu sehen.

Wenn jemand hier gewesen war, dann schon vor einer längeren Zeit, dachte Rimon und er wurde wieder etwas ruhiger.

Er nahm aus einer Satteltasche etwas trockenes Holz, das er heimlich zu Hause eingesteckt hatte und machte sich ein kleines Feuer. Yaris stand nahe eines großen Baumes und knabberte an Jungfarnen, die dort büschelweise wuchsen. Auch Rimon bekam Hunger, doch er wollte nicht mehr jagen. Die Nacht war inzwischen herein­gebrochen, weshalb er sich nicht weit von seinem provisorischen Lager entfernen wollte. Ganz in der Nähe fand er einen Busch mit Waldhimbeeren und aß eifrig davon, bis ihm übel wurde.

Seine Angst hatte sich gelegt. Er hatte einen angenehmen Platz gefunden, nichts und niemand schien ihn behelligen zu wollen und außerdem hatte er Yaris bei sich. Er würde sicherlich unruhig werden, wenn sich jemand nähern würde.

Vielleicht war das Leben in der Wildnis überhaupt nicht so unangenehm, dachte Rimon, wickelte sich in seine Decke aus dicker Schafswolle und legte sich nahe ans Feuer, wo ihm schnell wohlig warm wurde.

Mit einem Lächeln im Gesicht schlummerte er ein, als er von einem Knacken aufgeschreckt wurde. Rimon riss die Augen auf, blieb ansonsten aber ganz ruhig liegen. Wenn es ein Bär sein sollte, wollte er ihn nicht aufschrecken.

Hatte er nur geträumt? Regen prasselte. Ansonsten war es wieder still. Er musste sich geirrt haben.

Wieder schloss er die Augen, als ein weiteres Knacken nun ganz in seiner Nähe ihn emporfahren ließ. Er spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufstellten.

Wo war sein Dolch? Er hätte sich ohrfeigen können. Er hatte ihn in der Satteltasche vergessen! Hektisch blickte er sich um. Niemand war zu sehen. Das Feuer erhellte noch immer den ganzen Platz bis zu den Bäumen. Dahinter aber wurde es stockdunkel.

„Wer ist da?“, rief Rimon mit zitternder Stimme.

Er saß in seine Decke gewickelt neben dem Feuer und der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren. Nichts rührte sich.

Doch da – ein seltsames Krächzen. „Chrrrrchrrrr...“

Es kam von irgendwo hinter einem Baum auf der anderen Seite des Feuers. Panik stieg in Rimon auf. Was konnte das nur sein? Blitzschnell stand er auf und wollte zu Yaris rennen, wo er seinen Dolch zu finden erhoffte. Doch die Decke war zu fest um seine Beine gewickelt, so dass er aufstehen, aber nicht gehen konnte. Mit einem lauten Schrei fiel er der Länge nach auf die Nase. Er fluchte. Wieder hörte er das Krächzen. Nun noch bedrohlicher. Schnell rappelte er sich wieder auf. Die Beine konnten sich aus der Decke befreien, Rimon sprang zu der Satteltasche, suchte kurz, bis er den Dolch fand, zog ihn aus der Scheide und stellte sich damit neben das Feuer. Mit dem Mut der Verzweiflung schrie er in die Nacht, den Bäumen entgegen: „Wer auch immer du bist, komm nur. Jetzt bin ich bereit. Ich habe keine Angst vor dir!“

Doch die keuchende Stimme und die Schweißperlen auf der Stirn verrieten das Gegenteil. Das Krächzen war verstummt. Stattdessen begann nun ein lautes, schallendes Gelächter. Gelächter einer jungen Frauenstimme. Rimon runzelte irritiert die Stirn und machte einen Schritt rückwärts. Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen und hervor trat – Tama. Sie lachte so heftig, dass sich kleine Tränen in ihren Augen sammelten. Über ihr Haar hatte sie ein rotes Kopftuch gezogen, das ebenso wie das dreckige Kleid völlig durchnässt war. Sie hatte keine Schuhe an, ihre Füße waren nass und dreckig. In der Armbeuge ihres linken Armes hatte sie einen Korb eingehängt, über dessen Inhalt ein großes Tuch gebreitet war.

Rimon traute seinen Augen nicht. Mit offenem Mund stand er da, die rechte Hand mit dem Dolch hing schlaff an der Seite des Körpers. Mit der linken Hand rieb er sich die Augen, so, als verstünde er nach wie vor nicht, wer da plötzlich vor ihm stand.

„Du...? Was machst du denn hier?“, stammelte er. „Wie hast du mich gefunden und warum bist du mir überhaupt gefolgt?“

Rimon glotzte seine Schwester, die noch immer lachte, aus großen Augen an. Aufgeregt wippte ihr Brustkorb auf und nieder.

„Nun setze dich doch erst. Dann erzähle ich dir alles. Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht“, sagte sie und deutete mit einem geheimnisvollen Blick auf den verdeckten Korb.

Als sie sich neben das Feuer gesetzt hatten, zog Tama einen großen Schinken, einen Laib Brot und einen mit Wasser gefüllten Schlauch aus ihrem Korb. Rimon glotzte nun noch mehr, dass ihm beinahe die Augäpfel aus den Höhlen gepurzelt wären.

„Was...?“, stammelte er, doch Tama fiel ihm ins Wort.

„Wie ich dich kenne, wärst du innerhalb der nächsten Tage verhungert. Wahrscheinlich hättest du sogar die passende Ausrede dafür parat.“

Rimon wollte protestieren, aber Tama ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Vielleicht hätte der Eber, an den du dich kunstvoll herangeschlichen hast, magische Fähigkeiten und hätte dich entdeckt, obwohl er dies bei deinem geschmeidigen Schleichen überhaupt nicht können dürfte!“

Sie lächelte, vielleicht etwas spöttisch, doch eigentlich voller Zuneigung für ihren älteren Bruder, dem sie nun überlegen war. „Vielleicht aber“, fuhr sie fort, „hätte auch ein urplötzlicher Donnerschlag, der im wahrsten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel gekommen war, die schon sicher geglaubte Beute vertrieben oder aber...“, Tama hob ihre Stimme bedeutungsvoll an, „... ein fremdes Mädchen wäre plötzlich mit lautem Schrei auf den Eber zugerannt und wollte mit ihm spielen!“

Nun konnte Tama ihre gespielte Ernsthaftigkeit nicht länger aufrecht­erhalten und musste lachen. Sie hob sich den Bauch und konnte und konnte nicht mehr aufhören.

„Das war damals tatsächlich so. Ich schwöre bei Erdan, dass es wahr ist!“, protestierte Rimon. „Außerdem habe ich einen Auerhahn und keinen Eber gejagt. Welches Mädchen würde denn mit einem wilden Eber spielen wollen?“

Tama grinste ihn vielsagend an und schob ihm den Korb zu. Rimon schwieg und griff zögernd hinein. Sein Heißhunger trieb ihn an, alles augenblicklich zu verschlingen, doch diese Blöße konnte er sich vor seiner Schwester nicht geben.

„Interessiert es dich denn gar nicht, woher ich das alles habe?“, fragte Tama.

Rimon blickte auf. Ein Fetzen des Schinkens hing an seinem Mundwinkel. „Hmm?“, grunzte er.

„Ich habe es aus dem „Polternden Krug“ gestohlen!“, verkündete die kleine Tama stolz.

„Bist du verrückt, Tama!? Gestohlen? Aber… Du bist doch erst zwölf Jahre alt! Wie kannst du da schon stehlen? Und dann auch noch bei Krigor, unserem alten Wirt!?“ Rimon wurde wütend. Das Essen wollte ihm plötzlich nicht mehr schmecken, war es auch noch so lecker.

Tama setzte den Kopf schief und schaute ihren Bruder skeptisch an. „Du redest schon wie ein Erwachsener. Vor kurzem hättest du dich noch über so etwas gefreut. Schließlich haben wir Krigor immer geärgert. Er war nie freundlich zu uns Kindern. Immer, wenn wir in der Nähe seines Hauses gespielt hatten, kam er mit seinem dicken Holzstock und hat uns damit verjagt. Hast du das etwa bereits vergessen?“

„Nein, das habe ich nicht“, antwortete Rimon, „aber dennoch ist es nicht in Ordnung, wenn man anderen etwas stiehlt. Das weißt du so gut wie ich.“

Tama schwieg. Dann meinte sie: „Vielleicht hast du recht. Dennoch wollte ich dir helfen. Ich weiß doch, dass du das alles hier nicht gerne machst. Also will ich für dich da sein!“

Rimon lächelte gezwungen. So sehr er sich über Tamas Anwesenheit freute, so unangenehm war ihm ihre Hilfe. „Wie hast du mich eigentlich gefunden? Es ist finster und in der Dunkelheit sieht man seine eigene Hand nicht vor den Augen. Woher weißt du, wo ich in den Wald abgebogen bin?“

Tama hatte den Kopf noch immer schief gelegt, schaute nun aber nicht mehr skeptisch, sondern nur noch ungläubig. „Du fragst mich tatsächlich, wie ich dich gefunden habe? Rimon, selbst ein Blinder hätte deine Spur gefunden! In der Erde sind die Abdrücke von Yaris sehr deutlich zu erkennen. Auch der Regen konnte die Spuren in dieser kurzen Zeit nicht wegspülen. Überall hast du Äste abgeknickt und das Feuer kann man selbst aus großer Entfernung erkennen. Wenn du mir jetzt erzählen willst, dass du deine Spuren auch noch verwischen wolltest, dann bist du der schlechteste Spurenverwischer, den ich kenne.“

„Nein, ich wollte meine Spuren nicht verwischen. Ich habe mich nur gewundert, dass du mich so einfach gefunden hast.“

„Das war wirklich kein Problem“, sagte Tama und blickte ihren Bruder belustigt an. „Ich muss jetzt wieder los, bevor Vater mich zu Hause vermisst und nach mir sucht. Morgen kann ich wieder vorbeikommen, wenn du willst.“

Tama stand auf und wandte sich zum Gehen. Als sie die Bäume erreicht hatte, drehte sie sich nochmals um und meinte mit leiser Stimme: „Übrigens ist Mutter heute schwer krank geworden, nachdem du gegangen warst. Sie liegt im Bett, ist völlig blass und redet ständig wirre Dinge.“

Rimon sprang auf. „Was sagst du da? Sie ist krank? Wegen mir?“ Er grübelte nur kurz, dann ging er zu Yaris und sagte: „Ich muss zurück zu ihr. Ich kann nicht zulassen, dass sie krank im Bett liegt und ich schuld daran bin!“

„Nein, Rimon, bleib hier. Du bist nicht schuld daran. Mutter wird schon wieder, da bin ich mir sicher. Immerhin sitzt Vater ständig an ihrem Bett, hält ihr die Hand und wischt ihr den Schweiß von der Stirn. Vielleicht hat alles etwas Gutes. Wer weiß. Mach dir keine Sorgen, Rimon. Ich muss gehen. Bis morgen.“

Damit verschwand sie zwischen den Bäumen im Dunkel. Rimon blieb allein zurück. Erschöpft ließ er sich neben dem Feuer niederfallen. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Doch einer kam immer wieder, er war lauter als die anderen, stärker. Rimon fühlte sich schlecht. Miserabel. Feige. Nichtsnutzig.

Beinahe war es irrwitzig. Da kam seine Schwester, gerade einmal zwölf Jahre alt, von der Welt und ihren Gefahren keine Ahnung, einfach vorbeispaziert, als würde sie diesen Weg ständig gehen, als wäre es ein Spaziergang. Sie hatte ihn ohne ein erkennbares Problem gefunden. Auch wenn Rimon seine Spur nicht verstecken wollte, war es ihm doch sehr unangenehm, dass sogar ein unerfahrenes, junges Mädchen ihn dermaßen leicht auffinden konnte. Dann brachte sie ihm einen großen Korb mit reichhaltigem Essen mit, weil sie ihrem großen Bruder nicht zutraute, dass er sich selbstständig ernähren konnte. Welch eine unerträgliche Schande! Und das Schlimmste dabei war, dass sie wahrscheinlich sogar Recht hatte. Dann marschierte sie auch noch durch Nacht und Regen, ohne irgendein Anzeichen der Angst zu zeigen. Er, Rimon, immerhin sechzehn Jahre alt, hätte sich beinahe in die Hosen gemacht, als dieses unheimliche Krächzen zwischen den Bäumen zu hören war. Ja, er hatte sogar Angst, als es zu regnen und zu stürmen begann. Wie sollte er große Abenteuer bestehen, wenn er bei solch einer Kleinigkeit bereits verzagte?

Und schließlich kam noch die Sache mit seiner Mutter hinzu. Sie lag krank im Bett, weil er sie im Stich gelassen hatte. Er hätte nicht gehen dürfen. Aber seine Schwester hatte wahrscheinlich Recht. Nun gab es kein Zurück mehr. Jarla musste damit zurechtkommen. Und vielleicht, ja vielleicht brachte es tatsächlich etwas Gutes mit sich, wenn Thors nun an Jarlas Bett saß und sich um seine Frau kümmerte.

Die Ermutigungen, die er sich selbst zusprach, halfen nur zu einem kleinen Teil. Er fühlte sich dennoch schuldig an Jarlas Krankheit. Aber was weitaus schlimmer wog, war die Tatsache, dass seine Schwester ihn dermaßen gedemütigt hatte.

* * * * *

Rimon schlief sehr unruhig. Mitten in der Nacht meinte er, dass ein Tier oder irgendein anderes Wesen an ihm herumzupfte, aber als er sich aufsetzte, konnte er im Schein der letzten Glut nichts erkennen.

Als er erwachte, war es kalt geworden. Rimon fror. Zunächst entfachte er das Feuer erneut und ging dann an einen nahe gelegenen Bach, um Wasser zu holen. Er wusch sie und genoss die eisige Kälte in seinem Gesicht. Sie brachte neues Leben in seinen steifen Körper.

Nebel hing schwer zwischen den Bäumen. Der Boden war feucht und weich. Irgendwo klopfte ein Specht. Rimon trottete zur Lagerstelle zurück. Als er wieder auf die Lichtung trat, zuckte er zusammen.

Da, direkt neben der Stelle, an der er geschlafen hatte. Sie waren schwach, aber dennoch deutlich zu erkennen. Dann hatte er also doch recht gehabt! Rimons Herz schlug schneller. Er ging in die Knie und fuhr mit dem Finger die winzigen Fußspuren, die er entdeckt hatte, entlang. Die Eindrücke waren nicht besonders tief. Das Tier konnte nicht allzu schwer gewesen sein. Doch die Spuren kamen ihm nicht bekannt vor. Kein Tier setzte solche Abdrücke in die Erde. Die Abdrücke waren eher die... eher die eines Menschen. Hinten ein etwas tieferer Eindruck von der Ferse und vorne die fünf Zehen. Obwohl – nein – das waren nicht fünf, der Abdruck hatte nur vier Zehen. Was konnte das nur sein?

Rimon blickte sich um. Nirgends sonst waren Anzeichen zu sehen, dass jemand in der Nähe gewesen war. Die Spuren führten bis zu einem Baum, um ihn herum, doch dahinter lagen kleinere und größere Steine, auf denen sich die Spur verlor.

Rimon wurde unbehaglich. Er fühlte sich plötzlich beobachtet. Da – ein Knacken! Rimon fuhr herum. Ein Vogel schreckte auf und flog zwitschernd davon.

„Ruhig, Rimon, ruhig!“, redete er sich zu. „Du hast Spuren von einem unbekannten Tier entdeckt. Aber es hat dir in der Nacht nichts getan, warum sollte es dir nun etwas Böses wollen? Nur die Ruhe.“

Er wärmte sich kurz am Feuer, löschte es dann mit Erde, die er darüber warf, sattelte Yaris, schwang sich auf sein Pferd und ritt davon. Er musste etwas zu essen finden. Schließlich konnte er nicht dasitzen und darauf warten, dass seine kleine Schwester mit einem Korb Leckereien vorbeischauen würde.

Weit reiten konnte er nicht. Das Unterholz wurde so dicht, dass er bald absteigen und Yaris zurücklassen musste. Bewaffnet mit seinem Bogen schlug er sich weiter durch das immer dichter werdende Gestrüpp. Umso tiefer er in den Wald drang, desto näher rückten die Bäume aneinander. Langsam wurde es dunkel. Die Bäume ließen keinen Sonnen­strahl, der das Herz ein wenig ermutig hätte, hindurch. Ein Uhu kauzte und weit in der Ferne heulte in Wolf. Rimons Herz klopfte schwer in seiner Brust, aber das Heulen war tatsächlich weit entfernt. Er musste sich deswegen keine Sorgen machen.

Als er gerade ein altes, ausgetrocknetes Bachbett durchquerte und an der anderen Seite die felsige und glitschige Wand emporkletterte, fühlte er es ganz genau. Eisig lief es ihm den Rücken hinunter. Jemand beobachtete ihn. Rimon spürte die Blicke, die auf ihm lasteten. Hastig kletterte er die Felsen hinauf. Als er oben angekommen war, drehte er sich blitzschnell um und blickte auf die andere Seite der Mulde hinüber. Gerade noch konnte er einen Schatten erkennen, der sich hinter einem Baum versteckte.

Dann herrschte Stille. Nur irgendwo oben in den Baumwipfeln krächzte ein Vogel mit unsäglich hässlicher Stimme.

Jemand stand dort, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, hinter einem dicken Baum, dessen Stamm über und über mit Moos bewachsen war. Wer konnte das sein? Wer folgte ihm? Oder ist dieser Schatten ihm überhaupt nicht gefolgt und hier nur zufällig auf ihn getroffen? Aber wer trieb sich hier herum? Hier, wo es beinahe kein Durchkommen gab.

Rimon ging vorsichtig einige Schritte rückwärts, den Baum, der den Schatten verbarg, stets im Blick. Schließlich erreichte auch er einen Baum, hinter dem er sich verstecken konnte. So verging eine Weile. Rimon stand hinter seinem Baum und schaute hinüber zu dem anderen Baum, hinter dem sich nach wie vor nichts bewegte. Sollte er sich geirrt haben?

Warten.

Reglos.

Stille.

Nichts geschah.

Doch dann ging alles ganz schnell.

Er hörte ein lautes Wiehern. Yaris! Nochmals ein Wiehern. Ein scheuendes, nervöses. Yaris war in Gefahr! Ohne sich um den Schatten auf der anderen Seite des ausgetrockneten Bachbettes zu kümmern, rannte Rimon hinter seinem Baum hervor, kletterte die Felsen in den Graben hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Vor dem dicken alten Baum machte er Halt. Langsam schlich er heran und sprang mit einem lauten Schrei über eine dicke Wurzel auf die andere Seite des Baumes – doch niemand stand mehr dort. Deutlich waren die Abdrücke von Händen im Moos am Baumstamm zu entdecken. Er hatte sich also nicht geirrt. Jemand hatte ihn tatsächlich beobachtet.

Erneut wieherte Yaris und riss Rimon aus seinen Gedanken. Er rannte los, sprang über Wurzeln und kleine Gräben, Äste schlugen ihm ins Gesicht und rissen blutige Kratzer in seine Arme. Die Bäume schienen enger zu stehen. Als wären sie aneinander gerückt. Sein rechter Fuß verhakte sich in einer Wurzel, er fiel und stieß mit dem Kopf hart auf einen Stein. Das letzte, an das er denken konnte, war Yaris.

* * * * *

Nässe drang durch Schuhe, Hose, Hemd. Rimon kam nur langsam zu sich. Benommen schaute er sich um. Vor ihm Gestrüpp, neben ihm Gestrüpp, unter seinem Kopf ein Stein, auf dem Blut klebte. Sein Blut. Vorsichtig tastete er an seine Stirn. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als er in die Wunde langte. Rimon versuchte, sich zu erinnern, was passiert war. Stück für Stück setzte sich wieder zusammen.

Yaris!

Er wollte Yaris retten!

Irgendwer war bei ihm gewesen, ansonsten würde er nicht wiehern – nicht so laut und erschreckt.

Rimon erhob sich, der Schmerz an der Stirn pochte unaufhörlich. Wie trunken taumelte er vorwärts, streifte einen Busch, stolperte gegen einen Baum und fiel mehrmals über Steine und Wurzeln.

Als er an einen kleinen Bach kam – es musste derselbe Bach sein, an dem er bereits am Morgen gewesen war –, kniete er sich nieder und wusch mit dem klaren Wasser seine Wunde aus. Eiskalt war es, doch es tat gut. Neue Kraft durchströmte ihn. Er stand auf und ging weiter, bis die Bäume wieder etwas auseinandertraten und der Weg leichter wurde. Als er an die Stelle kam, an der er Yaris zurückgelassen hatte, konnte er seinen Augen nicht glauben. Yaris stand friedlich da, fraß genüsslich Blätter von einem Busch und schnaubte fröhlich, als er Rimon kommen sah. Rimon verstand allmählich gar nichts mehr. Spuren von unbekannten Wesen, ein Schatten, der ihn beobachtete, Yaris, den er entführt glaubte und der jetzt hier vor ihm stand, als wäre nichts, aber auch rein gar nichts geschehen.

Er stürzte seinem Pferd um den Hals und tätschelte es so lange, bis es Yaris offenbar zu viel wurde und er sich wiehernd und Kopf schüttelnd aus dem Griff des Glücklichen befreite. Erleichtert, aber vollständig verwirrt, ritt Rimon an seinen Lagerplatz zurück. Beute hatte er keine gemacht, aber wenn er diese Geschichte seiner Schwester erzählte, würde sie ihn herzlich, aber bestimmt auslachen. Der Gedanken an seine Schwester ließ ihn zittern. Er wusste nicht, wer oder was sich in diesem Wald herumtrieb, und Tama würde sich am Abend erneut auf den Weg zu ihm machen. Er musste sie irgendwie beschützen, aber er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Endlich hatte Rimon seinen Lagerplatz erreicht. Er war erleichtert, denn aus irgendwelchen Gründen fühlte er sich hier sicherer. Die Feuerstelle war wie ein Schutz gegen den unheimlichen Wald, inmitten dessen er sich befand. Doch als Rimon an die Feuerstelle trat, stockte ihm erneut der Atem. Jedes sichere Gefühl war mit einem Mal wie weggeblasen. Noch eben hatte er sich einigermaßen gut gefühlt, doch was er jetzt sah, verwirrte ihn völlig. Und da war sie wieder – die Angst. Nur stärker und drückender als die Male zuvor.

Der Stein in der Mitte der Feuerstelle war von jeglichem Unrat gesäubert. Weder Kohle noch Asche lagen mehr darauf. Die Platte schien fein säuberlich gefegt worden zu sein. Doch was in Rimon einen Schauer hervorrief, war das Blut, das nun auf dem Stein verspritzt war. Rotes, dunkelrotes Blut. Alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Kreidebleich stand er da und starrte und starrte und …

Was ging hier nur vor?

* * * * *

Am selben Abend kam Tama erneut mit einem Korb voller Brot, Obst und Fleisch. Rimon schlug sich damit den Magen voll. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Seine Schwester nahm ihm die Geschichte sogar ab. Keine übliche Ausrede. Sie war zwar ohne Schwierigkeiten zu dem Lagerplatz gekommen, doch die Feuerstelle ließ sie ebenfalls glauben, dass merkwürdige Dinge hier im tiefen Wald vor sich gingen. Sie sprach ihm Mut zu und verschwand bald wieder in der Dunkelheit. Rimon machte sich keine Sorgen um sie. Sie würde den Weg sicher nach Hause zurückfinden. Tamas Unbekümmertheit würde sie beschützen.

Doch er machte sich Sorgen um sich selbst. Die Angst, die sich ganz tief in ihm eingenistet hatte, ließ sich nicht mehr vertreiben. Sie war da und sie war mächtig.

Trotz aller Bedenken machte er sich in der Feuerstelle ein neues Feuer, trug Holz heran, zündete es an, schon bald erinnerte nichts mehr an die Säuberung und das Blut. Das beruhigte ihn ein wenig. Und das Feuer bot immerhin Schutz vor wilden Tieren.

Yaris wieherte und scheute ein wenig. Unruhig trat er auf den Hufen. Rimon fuhr hoch und zog seinen Dolch, den er seit der letzten Nacht unaufhörlich bei sich trug. Nichts war zu hören und zu sehen.

Stille. Erdrückende Stille. Wieder fühlte sich Rimon beobachtet. War es nur Einbildung oder ruhten tatsächlich Blicke auf ihm? Oh ja, er war sich ganz sicher. Und sie lagen schwer auf ihm. Die Angst fraß sich gierig in sein Herz. Er würde wieder nach Hause reiten, sich als Feigling beschimpfen lassen, und was den Leuten sonst noch an Schmähungen einfallen würde. Aber dann hätte er zumindest seinen Frieden und müsste nicht ständig in Angst leben.

Doch dann stand Yaris wieder völlig still. Die Nüstern blähten sich nochmals auf, so als schnuppere er nach etwas Fremdem in der kühlen Nachtluft, doch nichts schien das Pferd mehr zu beunruhigen. War gar Yaris zu nervös? War es nicht er, sondern sein Pferd, das ihn durch sein nervöses Wiehern schaudern ließ? Ein angenehmer Gedanke, dem Rimon jedoch kein Gehör schenkte. Nein, dieses Pferd wäre nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.

Nachdem er noch lange am Feuer gesessen hatte und bei jedem Geräusch zusammengeschreckt war, fiel er in einen leichten und unruhigen Schlaf. Außer einem Blitz, der am entfernten Rand des Waldes in einen hohen Baum einschlug, geschah nichts in dieser sternlosen und dunklen Nacht.

* * * * *

Rimon hatte sich vorgenommen, die nähere Umgebung seines Lagerplatzes genauestens zu untersuchen. Wenn in der Nacht jemand hier gewesen war, ihm würde es auffallen. Zunächst versuchte er, die Spuren, die er am Vortag entdeckt hatte, jenseits der Steine, auf denen sie sie verloren hatten, wiederzufinden. Vergebens. Dann untersuchte er die Bäume, die um den Platz herumstanden, nach verdächtigen Spuren. Wenn jemand hinaufgeklettert wäre, müsste er am Stamm etwas entdecken können. Nichts. Schließlich suchte er nach abgebrochenen Ästchen, Fußspuren und Handabdrücken. Hoffnungslos.

Er wollte schon die Suche aufgeben, als er leises Gemurmel hörte. Es kam von irgendwo hinter dichtem Dornengestrüpp her und verlor sich fast im leichten Wind, der am Morgen aufgekommen, unten am Waldboden jedoch kaum zu spüren war. Rimon kroch durch das Gestrüpp und musste immer wieder schmerzhaften Kontakt mit den dornenbewehrten Ästen machen. Auf der anderen Seite fiel das Gelände leicht ab, um wenige Meter später wieder anzusteigen. Der Anstieg war nur mit wenigen Bäumen bewachsen, stattdessen wuchsen viele Sträucher eng an eng und schienen niemanden durchlassen zu wollen.

Unterhalb dieses Gestrüpps kniete jemand am Boden. Es musste ein Mensch sein. Aber Rimon war sich nicht sicher. Es könnte genauso gut auch ein Gobblin oder ein anderes Wesen sein. Es hatte braune Lederhosen an, die abgenutzt und von Wind und Wetter gegerbt waren. Darunter waren leichte Stiefel aus feinem, aber ebenso abgenutztem Leder zu entdecken. Die Person trug einen weiten grün-gräulichen Mantel aus grobem Stoff, der sie beinahe ganz bedeckte. Mehr konnte Rimon nicht entdecken. Das Wesen reckte ihm sein Hinterteil entgegen, und der Kopf war verschwunden. Er steckte bis zu den Schultern in einem Loch, das dort, unterhalb der dichten Sträucher, in den Boden gegraben war.

Leise und undeutlich hörte man den Mann oder das Wesen oder was auch immer es war flüstern. Rimon wollte näher herankriechen, doch er wusste, dass er dann die schützende Deckung des Gebüsches verlassen würde.

Angestrengt versuchte er, die Laute zu verstehen, doch der Wind wehte sie davon, so dass er sie nicht fassen konnte. Was ging hier in diesem dunklen, dichten Wald nur vor? Vorsichtig kroch Rimon etwas auf dem feucht riechenden, moosigen Boden nach vorne. Eine Dorne verhakte sich dabei in seinem Unterarm, woraufhin seinen Lippen ein leiser Schmerzensschrei entfuhr, den er jedoch sofort unterdrückte. Doch das Wesen in dem Loch schien etwas gehört zu haben. Das Gemurmel brach ab und die Person schnellte aus dem Erdloch heraus. Rimon presste sein Gesicht in die feuchte, kühle Erde. Wie erstarrt lag er in seinem Versteck und wagte nicht, sich zu rühren. Kein Glied bewegte er. Sein Atem ging flach. Er schmeckte Erdkrümel zwischen seinen Lippen. Wenn das Erdlochwesen in meiner Richtung sucht, so bin ich verloren. Ich habe keine Chance, schoss es ihm durch den Kopf. Doch der Körper blieb starr, ließ ihm keine Möglichkeit zur Flucht. Wohl wäre dies auch nicht von Vorteil gewesen, hätte er doch mit jeder Bewegung die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So lag er flach gepresst auf der Erde, er wusste nicht, wie lange. Irgendwann, nachdem niemand nach ihm zu suchen schien, hob Rimon langsam wieder den Kopf – vorsichtig – Zentimeter um Zentimeter. Als er den Kopf so weit gehoben hatte, dass er das Erdloch wieder im Blick hatte, atmete er erleichtert auf. Das Wesen hatte den Kopf wieder in das Erdloch gesteckt. Auch das Gemurmel war wieder hörbar. Kurz überlegte Rimon, ob er die Möglichkeit nutzen sollte und mit gezücktem Dolch auf das Loch zupreschen und das Wesen aus diesem herausziehen sollte. Doch im selben Moment verbannte er diesen Gedanken aus seinem Kopf. Nichts und niemand hätte ihn dazu bewegen können, sich dieser Gefahr zu stellen. Töricht wäre er gewesen, sein Schicksal in einem Kampf mit einem Wesen zu suchen, bei dem er nicht einmal wusste, ob es überhaupt ein Mensch war. Wer wusste schon, welche Gestalten sich hier in diesem Wald herumtrieben.

Langsam kroch Rimon zurück, ließ das Gebüsch hinter sich, sprang auf dem Rückweg von Stein zu Stein, um keine Spuren in der weichen Erde zu hinterlassen und kam rasch und sicher in sein Lager zurück.

Hier fühlte er sich wieder sicher. Die Blicke, die ihm gefolgt waren, spürte er nicht.

* * * * *

Rimon hatte den ganzen Tag über nur einmal das Lager verlassen, um Beeren zu sammeln. Er hätte jagen können, doch wollte er kein Feuer machen, über dem er das Wild hätte braten müssen. Mehrmals schritt er den Rand der kleinen Lichtung ab, überprüfte jeden Baum und jeden Stein, aber er konnte nirgends Spuren oder etwas anderes Verdächtiges finden. Die meiste Zeit saß er an einen großen Baum gelehnt, dessen dicke Wurzeln weit ausluden. Zwei Wurzeln hatten einen solch perfekten Abstand, dass sich Rimon zwischen sie setzen und sie als Armlehnen benutzen konnte. So saß er an dem mächtigen Baum, der wohl schon hier stand, als das kleine Dorf, in dem er geboren wurde, noch lange nicht existiert hatte. Die Arme hatte er auf den Wurzellehnen ausgestreckt, die Augen halb geschlossen, obwohl er hellwach die Umgebung beobachtete.

Er ließ seine Gedanken schweifen, dachte an die Zeit, die ihm nun bevorstand, dachte an seine Freunde, an Tama, an die Geschehnisse hier im Wald, ja, er dachte sogar an Erdan, den großen und einen Gott, der über alles herrschte, der alles erschaffen hatte, der wusste, was Gut und Böse war. Doch stets wanderten seine Gedanken zurück zu seiner Mutter. War sie wirklich ernsthaft krank? Oder war es nur Kummer? Musste er sich Sorgen machen?

Schließlich schloss er die Augen ganz. Seine Mutter, die weinte, tauchte auf, verschwand, kehrte wieder, dann trat Thors hervor, schob seine Mutter zur Seite und blickte ihn, Rimon, mit strengem Blick in die Augen. So ging es eine Weile. Jarla und Thors tauchten abwechselnd auf, zogen sich wieder zurück, schoben einander weg, so als ob sie um den vordersten Platz in Rimons Gedanken kämpfen wollten. Doch dann, völlig unvermittelt, verblassten sie beide, Vater und Mutter, und zunächst herrschte voll­kommene Leere. Schließlich tauchte ein Schatten auf, klein und ver­schwommen, dann größer und klarer, bis Rimon sie erkannte. Es war Yolanda, das rothaarige Mädchen aus dem heruntergekommenen Haus am Rande des Dorfes. Langsam kam sie Schritt für Schritt näher. Anfangs umhüllte sie ein leichter Nebel, doch je näher sie kam, desto klarer wurde sie. Sie lächelte. Es war nur ein kleines Lächeln, und doch so unschuldig und rein, wie sonst niemand hätte lächeln können. Rimon meinte, einen Duft riechen zu können – den Duft des Frühlings. Frisch, kühl, aber dennoch warm. Wenn Gedanken riechen könnten, dachte Rimon und ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Mit diesem Lächeln schlummerte er ein.

Die Schritte vieler Füße, die ganz in der Nähe der Lichtung sich ihren Weg durch den Wald bahnten, hörte er schon nicht mehr.

* * * * *

Ein Keuchen riss Rimon aus seinen Träumen. Noch immer hatte er Yolanda vor seinen Augen gehabt. Ihr Lächeln, der Duft, der Frühling. Doch gegen Ende, so glaubte er sich erinnern zu können, hatte sich ein Schatten auf ihr Gesicht gelegt.

Das Keuchen war direkt neben ihm. Was war das? Ein Traum? Ein heftiger Ruck an seiner Schulter brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.

„Wach auf, Rimon, wach auf!“ Tamas Stimme klang eindringlich und schrill in seinem Ohr. Erneut schüttelte sie ihren älteren Bruder an der Schulter. Jetzt endlich öffnete er die Augen.

Es war dunkel. Er musste lange geschlafen haben. Seine Schwester kniete neben ihm, ihr Atem ging schnell, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ihre ansonsten so großen und ruhigen Augen waren zu schmalen, ängstlich umherirrenden Schlitzen verengt. Mit einem Male war Rimon hellwach. Er hatte seine Schwester noch nie so erlebt. Sie war stets ruhig. Wenn sie dermaßen aus der Fassung geraten war, musste tatsächlich etwas Schlimmes geschehen sein.

Mutter! Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz und lähmte ihn. „Was ist mit Mutter?“ Seine Stimme war brüchig, zitterte. Mit seiner Rechten fasste er Tamas Hand. „Nun sag schon! Was ist mit Mutter?“

„Nichts. Nichts ist mit Mutter!“ Tamas Augen rasten wild hin und her, als suchten sie etwas. „Du musst weg hier! Schnell! Hier auf der Lichtung finden sie dich sofort!“

Rimon verstand überhaupt nichts. „Was? Was ist los? Warum soll ich denn weg?“

Gedanken schossen wie wild durcheinander. Der Schatten hinter dem Baum. Die Spuren. Das Blut auf der Feuerstelle. Der Mann im Erdloch.

„Du musst weg! Bitte! Sie finden dich hier!“ Tama wurde immer unruhiger. Ihre Augen blickten zur anderen Seite der Lichtung, schienen aber nichts zu bemerken.

Rimon umfasste mit seinen Händen Tamas Kopf und versuchte, diesen still zu halten. Nur widerwillig ließ Tama dies zu. Schließlich blickte sie ihm tief in die Augen. Angst, ja, regelrechte Panik flackerte in ihren tiefen, dunklen Augen. Sie holte tief Atem, versuchte, etwas ruhiger zu werden.

„Ich weiß nicht, wie Gobblins aussehen“, sagte sie. „Ich habe nur die vielen Geschichten der Alten und von Vater gehört, wenn sie von ihren Aben­teuern und Kämpfen gegen Bersker, Trolle und Gobblins erzählt hatten. Aber nun bin ich mir sicher, dass ich eben hier auf dem Weg zu dir eine Horde Gobblins gesehen habe. Ich wollte dir gerade einen Korb mit Essen bringen. Den habe ich fallen lassen. Als ich diese hässlichen Gnome zwischen den Bäumen entdeckt habe, konnte ich nicht mehr klar denken. Sie kamen direkt auf mich zu. Ich habe den Korb vor Schreck fallen lassen und bin zu dir gerannt. Sie müssen den Korb mit all den Leckereien entdeckt haben und wissen, dass hier jemand im Wald ist!“ Mit den letzten Worten schwoll Tamas Stimme wieder an und klang erneut so schrill wie zu Beginn. Ihre Blicke wanderten am Rand der Lichtung entlang, doch noch immer wirkte alles still. „Nun mach schon, Rimon, schnapp dir Yaris und verschwinde hier! Ich renne zurück ins Dorf und schlage Alarm, dass sich hier Gobblins im Wald herumtreiben. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich weiß mich zu verstecken! Nun mach schon!“

Noch ehe Rimon etwas erwidern konnte, ehe er seine Schwester zum Bleiben aufhalten konnte, war sie bereits zwischen den Bäumen ver­schwunden. Zunächst wollte er ihr hinterher. Schließlich war er ihr älterer Bruder. Er musste sie beschützen und konnte sie nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen.

Bevor er ihr aber hinterher rennen konnte, lenkte Yaris seine Aufmerksam­keit auf sich. Das Pferd begann zu scheuen, warf unruhig den Kopf hin und her, tänzelte und dann – stieg es, wieherte laut und ängstlich, galoppierte zwischen Bäumen hindurch und verschwand in der Dunkelheit.

„Nein!!! Yaris! Bleib stehen!“ Die verzweifelten Rufe Rimons konnten das Pferd nicht zurückholen. Mit Yaris waren auch der Bogen und sämtliches Gepäck verschwunden. Nur der Dolch, den Rimon an seinem Gürtel trug, blieb ihm. Doch für die Verteidigung gegen eine Horde Gobblins war dies eindeutig zu wenig. Tausende Gedanken schienen gleichzeitig durch den Kopf zu schießen. Panik und ein Gefühl in der Magengrube, das Rimon beinahe erbrechen ließ, machten sich breit. Er war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Da bemerkte er, wie still es um ihn herum geworden war. Kein Vogel gab mehr einen Laut von sich, kein Rascheln mehr im Unterholz. Die Stille war unheimlich, wollte ihn niederdrücken. Langsam drehte sich Rimon der Lichtung zu, war nicht fähig, aufrecht zu stehen, so sehr drückte die ohrenbetäubende Stille. Doch noch immer schien sich niemand der Lichtung genähert zu haben. Angestrengt suchte Rimon den gegenüberliegenden Rand des Lagerplatzes ab. Nichts. Ein zweites Mal ließ er seinen Blick über die Bäume, Büsche und die Dunkelheit dazwischen wandern. Wieder nichts. Doch da – in einem Busch! Rimons Herz schlug schneller und wollte in seine Hose rutschen. In einem Busch waren zwei Augen. Ja – da waren zwei Augen. Grüne Augen mit einer roten Pupille. Ruhig blickten die roten Punkte zu Rimon. Das Grün war wie Gift. Gift mit einem roten Pfeil in der Mitte, der bereit lag, direkt auf Rimon abgeschossen zu werden. Da entdeckte Rimon zwischen dem Busch und dem danebenstehenden Baum ein weiteres Augenpaar. Auch dieses von giftigem Grün und bedrohlichem Rot. Dann tauchte ein weiteres auf, und noch ein weiteres, und noch eines. Schließlich blickten ihn sechzehn dieser schrecklichen Augen an.

Rimon wusste, dass dies sein Ende war. Bereits nach drei Tagen allein in der Wildnis hatte er den Kampf verloren. Die Finger tasteten nach dem Griff seines Dolches. Es war ein leichtes Gespür von Sicherheit, als er das warme Leder des Griffes fühlte. Er würde seine Haut wenigstens teuer verkaufen.

Doch dann entschied er sich anders, machte kehrt, nahm seine Füße unter die Arme und rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Hinter ihm erhob sich ein wildes Geschrei – höhnisch, verächtlich und vor allem tödlich. Rimon rannte und rannte. Im Dunkel der Nacht und des Waldes sah er überhaupt nichts. Er stolperte über eine Wurzel, fiel, rappelte sich wieder auf, rannte weiter, stieß sich sein Knie an einem Felsen. Plötzlich prallte er mit voller Wucht gegen einen Baum. Er taumelte. Doch die fürchterlichen, vor Lust und Blutgier quietschenden Stimmen, die sich ihm immer bedrohlicher näherten, trieben ihn weiter. Erneut stolperte er über eine Wurzel, fiel, konnte sich nicht halten, schlug mit der Stirn hart gegen einen Stein am Boden. Noch ehe er das Bewusstsein verlor, spürte er, wie sich eine Hand seinem Mund näherte, diesen zupresste, während eine andere Hand seinen Arm packte und ihn wegzog. Dünne Äste kratzten über sein Gesicht. Dann wurde es Nacht.

Die Sagen von Berandan

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