Читать книгу Die Sagen von Berandan - Jo W. Gärtner - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеHektisch suchte Yolanda ihre Sachen zusammen. Viel hatte sie eh nicht. Ihre roten Zöpfe hingen schlaff über ihre Schultern. Sie schlüpfte aus dem alten weißen Kleid, welches man an Verbrennungstagen trug. Nackt stand sie vor der hölzernen Truhe, in der sich all ihre wenigen Kleider befanden. Sie war mager geworden während der letzten Monate. Seitdem ihre Mutter krank im Bett gelegen war, hatte sie nicht mehr viel gegessen. Die Beeren im Wald machten nicht satt. Manchmal konnte sie aus den Erkern hinter den Häusern im Dorf, dort wo sich die Vorräte befanden, etwas Brot und ab und zu sogar ein wenig Fleisch stehlen. Doch dies wurde zunehmend gefährlicher, denn die Dorfbewohner argwöhnten bereits und verdächtigten das fremde Mädchen mit der kränklichen Mutter. Wer sollte es auch anders gewesen sein? Nachweisen konnte ihr allerdings niemand etwas. Ein schlechtes Gewissen hatte Yolanda den Dorfbewohnern gegenüber nie gehegt. Sie verachtete die Menschen hier. Weil die Menschen sie und ihre Mutter verachteten. Tagtäglich spürte sie die misstrauischen Blicke, die auf ihr ruhten. Sie sah die Leute tuscheln und hinter vorgehaltener Hand kichern. Bösartig waren die Menschen hier, da war sich Yolanda sicher.
Nur der Junge, der oben auf dem Hügel wohnte, bedachte sie nicht mit einem abschätzigen Blick. Er hatte einen Vater, der früher angeblich ein tapferer Krieger gewesen war. Sie mochte ihn nicht; angewidert ging sie ihrer Wege, wenn der alte Mann sich in seinem Ruhm suhlte und all die anderen, wie von Zauberhand bewegt, andächtig an seinen Lippen hingen.
Yolanda hatte in dem Jungen einen Freund gefunden. Rimon. Ihr Freund. Und wie sie ihn verfluchte, als er ihr mitteilte, dass er sich nicht mit ihr im Dorf blicken lassen dürfe, denn was würden dann sein Vater und seine Freunde dazu sagen. War sie denn solch eine Aussätzige, dass niemand mit ihr auf offener Straße sprechen konnte? Zudem sprach er immer wieder davon, welch großer Reiter und Krieger er werden würde, wenn er erst einmal das sechzehnte Lebensjahr abgeschlossen hätte. So wie es sein Vater von ihm erwartete. Sie verstand ihn nicht. Aber dennoch mochte sie ihn.
Yolanda betrachtete sich in dem alten, milchigen Spiegel, der an der Wand hing. Er war eine der wenigen Kostbarkeiten, die sie besaßen. Ihre Rippen traten deutlich hervor, darunter bildete der Magen eine Kuhle, die auf herausstehenden spitzen Beckenknochen ruhte. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Kindliches behalten, während sie allmählich zur Frau wurde. Ihre Brust wuchs und ihre Scham wurde von dichtem Haar bedeckt, welches nicht wie der Schopf auf dem Kopf rot, sondern tiefschwarz war.
Außer dem Spiegel waren die Holzwände kahl. Nur neben der niedrigen Türe, die in den anderen Raum führte, in dem sich die Kochstelle und der Esstisch befanden, hing ein getrockneter Maulbeerzweig. Er sollte die bösen Geister von ihren Betten fernhalten und den guten den Weg zu ihnen weisen. Darunter stand das unsauber gezimmerte Bett, in dem Yolanda gemeinsam mit ihrer Mutter geschlafen hatte, die Decke lag noch immer zurückgeschlagen, obwohl in der letzten Nacht niemand darin gelegen war. Yolanda war die ganze Nacht über die Felder und Wiesen gezogen und war schließlich unter einer alten Linde eingeschlafen. Neben dem Bett stand eine Truhe. Darüber ließ ein kleines Fenster, in dessen Ecken Spinnweben wucherten, spärlich Licht in das enge Schlafzimmer fallen. Yolanda zog ihre einzige Hose, die sie besaß, an und streifte ein Hemd darüber, das ursprünglich einmal weiß gewesen war. Die lange Wanderung hierher hatte ihre Spuren hinterlassen und neue Kleider konnten sie sich nicht leisten. Einen langen Überwurf, den sie für kalte Wintertage brauchen würde, stopfte sie in ihre kleine Stofftasche. Sie ließ ihren Blick durch das halbdunkle Zimmer gleiten und überlegte, ob sie noch etwas benötigte, dann trat sie ganz nah vor den Spiegel und blickte lange hinein. Ihre Augen. Ihre dunklen Augen. Früher war hier ein ewiges Leuchten und Strahlen zu finden. Jetzt nur noch tiefes dunkles Nichts. Schwarze Augen, die nichts sagen wollten, hinter denen sich nichts befand – nur unendliche Leere. Darunter hatten sich tiefe Ringe eingegraben, das Gesicht war weiß wie Kreide, und der schmale Mund mit den blassrosanen Lippen ließ kein Lächeln zu, auch nicht, als sie es verbissen versuchte. Von ihren Augenwinkeln zogen sich feine weiße Streifen über ihre Wangen hinunter zum Kinn. Yolandas Tränen waren schon längst zu einer trockenen weißen Salzkruste erstarrt. Nun konnte sie nicht mehr weinen, sie hatte alle Tränen verweint.
Dass es mit ihrer Mutter zu Ende gehen würde, hatte sie bereits seit langer Zeit befürchtet. Die Schrecken des letzten Jahres, die Auszehrungen und Entbehrungen der Flucht, das Leben hier im Dorf, welches häufiger noch belastender war als die Zeit, als sie ziellos durch die Wälder und über die Hügel geirrt waren – all das zehrte und nagte an ihrer Mutter. Unaufhörlich, immer tiefer.
Als Yolanda am vorigen Tag aufwachte, lag ihre Mutter noch schlafend neben ihr. Sie wunderte sich sehr darüber, denn gewöhnlich kroch ihre Mutter schon lange vor Sonnenaufgang aus dem harten Bett. Nun lag sie friedlich neben ihrer Tochter. Sie lächelte. Yolanda war leise aus dem Bett gestiegen und tapste vorsichtig in das andere Zimmer, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass die alten Bretter nicht knarrten. Sie wollte für ein Frühstück sorgen.
Doch ihre Mutter wollte nicht frühstücken, sie wollte nicht einmal aufwachen. Friedlich lächelnd lag sich unter ihrer Decke und rührte sich nicht. Yolanda beugte sich über ihr Gesicht und spürte keinen Atem. Ihre Kehle schnürte sich zu. Eng, eng, immer enger. Eine kräftige Hand schien ihr in den Magen zu drücken, so heftig, dass er sich umzudrehen drohte. Yolanda sprang zur Tür, riss sie auf, doch noch ehe die frische klare Morgenluft ihren Magen beruhigen hätte können, musste sie sich übergeben.
Ihre Mutter war tot.
Abwesend, als würde sie sich in einer anderen Welt weit weit weg von hier befinden, ging sie zu dem greisen Mann, der sich um die Kranken im Dorf kümmerte. Dieser folgte ihr in das kleine Haus am Rande des Dorfes, untersuchte ihre Mutter, murmelte dann unverständliche Worte und strich die Lider der toten Frau herunter. Die Nachricht vom Tod der ungewollten Flüchtlingsfrau ging wie ein Lauffeuer im Dorf umher. Bald wussten alle Bescheid und ein jeder war sich sicher, dass dies der Fluch der alten Griza gewesen war.
Yolanda flüchtete in die Wälder, irrte ziellos herum, rannte über Wiesen, und versuchte, der Trauer, die sie verfolgte, zu entfliehen. Doch erst als sie nachts unter der dicken alten Linde zusammensank, stiegen ihr die Tränen auf. Nun flossen sie unaufhörlich und versiegten erst, als Yolanda erschöpft und unruhig unter dem Baum einschlief. Wilde Träume jagten einander, doch ihre Mutter tauchte nie darin auf. Geister mit furchterregendem Gebrüll, Dorfbewohner, die höhnisch lachten, dann wieder ein Wasserfall, der in eine tiefe, unendlich schwarze Schlucht stürzte; und sie hinterher, sie stürzte und stürzte und stürzte und die Dunkelheit um sie herum wurde immer dunkler und erdrückender. Dann rannte sie aus einem tiefschwarzen Wald heraus, Gestalten, Ausgeburten der Hölle, verfolgten sie mit schauerlichen Schreien. Dann war alles schwarz – die Welt hatte aufgehört zu schlagen.
Yolanda erwachte früh, von Schweiß gebadet. Sie blickte nach oben. Durch das dichte Geäst des Baumes schimmerte sanft das erste Licht der Dämmerung. Ein Eichhörnchen lugte von einem sicheren Ast neugierig auf das Mädchen, das unter ihm auf dem Boden lag. Die ersten Vögel begannen den Tag zu begrüßen. Es war friedlich und wunderschön. Dann kamen die Tränen wieder. Yolanda war nun völlig einsam.
Am nächsten Morgen hatten einige Männer aus dem Dorf bereits das Gestell vorbereitet, auf dem der Leichnam verbrannt werden sollte. Vier Männer trugen Yolandas Mutter aus ihrem Haus zu der kleinen Anhöhe außerhalb des Dorfes, wo sie der Luft und Erdan übergeben werden sollte. Es war niemand gekommen. Nur Yolanda, der weise Medizinmann und die vier Helfer standen vor dem Holzgerüst, auf welchem die Frau lag, die Yolanda so sehr geliebt hatte und die allen anderen unheimlich, fremd und unwillkommen gewesen war. Der alte Mann sprach einige Worte über das Glück, welches Yolandas Mutter angeblich erfahren hatte, denn sie durfte nun in die ewige Bahn eintreten, sie konnte nun frei wandeln, wo und wie sie es wollte und sie durfte Erdan angesicht werden. Die Worte wirbelten durch Yolandas Kopf, versuchten, dort Halt zu finden, wurden jedoch alsbald wieder davongeweht. Eine endlose Leere machte sich in Yolanda breit, keine Worte konnte diese Leere füllen.
Dann entzündeten die Männer eine Fackel und steckten den Holzstoß, der unter dem Gestell aufgetürmt worden war, in Brand. Gierig züngelten die Flammen um die Hölzer, zunächst zaghaft, dann immer gefräßiger. Der greise Mann nickte seinen Helfern zu, ging kurz zu Yolanda, legte ihr die Hand auf die Schulter, bevor die fünf Männer zurück zum Dorf gingen. Yolanda blieb alleine zurück. Höher schlagende Flammen flackerten in ihren dunklen Augen. Bald hatten sie die Trage erreicht, züngelten um sie herum und erfassten schließlich auch diese. Nun stand das gesamte Gestell in hellen Flammen, die Hitze wurde beinahe unerträglich. Am liebsten hätte sich Yolanda in die Flammen zu ihrer Mutter gestürzt, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie schaute starr in das Feuer, während sich ihr Leben in dunklen Rauch auflöste.
Irgendwann drehte sie sich um und trottete zurück zum Dorf. Sie war nicht imstande zu denken oder zu fühlen – alles war endlos leer. Als sie auf der staubigen Hauptstraße durch das Dorf ging, vorbei an einfacheren und wohlhabenderen Häusern, vorbei an dem Gasthaus, in dem ihrer Mutter nur Ablehnung gegenüber gebracht wurde, spürte sie die Blicke der Bewohner fest auf sich ruhen. Nur wenige befanden sich auf der Straße. Die Menschen blieben stehen, warfen ihr Blicke zu – hämische, bösartige; aber auch mitleidige, traurige? Yolanda wusste es nicht. Sie spürte aber die Blicke all der anderen, die hinter ihren Fenstern standen und neugierig verstohlen das Mädchen beäugten.
„Ich verachte euch alle“, Yolanda fluchte innerlich. „Ich verfluche euch – alle.“ Und dann brach es aus ihr heraus. Wie wild drehte sie sich im Kreis und schrie in alle Richtungen: „Ich verfluche euch! Ich verfluche euch alle!“
Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte sie los, rannte bis zu ihrer kleinen Hütte, zog das weiße Kleid aus, die Hosen und das Hemd an, packte ihre Sachen. Mit einem dumpfen Knall schlug sie die Holztür des Hauses hinter sich zu, warf sich die Tasche mit ihren Habseligkeiten über die Schulter und rannte los, die staubige Landstraße entlang, hin zu dem Wald, in dem sie sich Frieden vor all diesen Menschen hier erhoffte. Nie wieder wollte sie einen Fuß in dieses verfluchte Dorf setzen! Nie wieder!
* * * * *
Es war dunkel, als er die Augen aufschlug. Der Kopf schmerzte. Grüne Augen. Rote Pupillen. Wie ein böser Traum kam die Erinnerung an die Verfolgung langsam zurück. Eine wild gewordene Horde war hinter ihm her gewesen. Er war weggerannt. Gerannt, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Doch dann verließ ihn sein Gedächtnis. Was war dann geschehen? Wie eine tiefe Grotte nach den ersten Biegungen. Kein Sonnenstrahl konnte hier noch seinen Weg herfinden. Dunkelheit, schwarz wie die schwärzeste Nacht. Rimon grübelte, doch kein heller Strahl wollte die Dunkelheit in seinem Gedächtnis durchbrechen. Es blieb schwarz wie die Nacht. Wie die Nacht, die ihn auch hier an diesem feuchten Platz umgab.
Erst jetzt bemerkte Rimon das erdige Etwas in seinem Mund. Es musste Moos oder Gras sein. Doch als er versuchte, all dies, was sich unter seine Zunge gelegt hatte, auszuspucken, musste er feststellen, dass dies nicht möglich war. Ein Knebel verschloss seinen Mund. Mit einem Male war Rimon hellwach und völlig klar. Er setzte sich auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper – wie ein Blitz von der Stirn bis in die kleine Zehe. Gleichzeitig fiel ein Stück Moos von Rimons Stirn in seinen Schoß und Äste kratzten in seinem Gesicht. Ein kleines Ästchen piekte in seine offene Wunde an der Stirn. Ein von Moos und Gras unterdrückter Schrei war zu hören; dann nur noch wütendes Husten, als Erdkrümel Rimon in die Kehle rutschten. Tränen standen ihm in den Augen. Die Stirn schmerzte. Er musste würgen. Und er sah überhaupt nichts. Alles war nur schwarz. Panik und Verwirrung kämpften in ihm. Gobblins hatten ihn verfolgt, dessen war er sich sicher. Nun wachte er irgendwo wieder auf, jemand hatte ihn geknebelt, aber er war nicht gefesselt. Würden ihn Gobblins jemals ungefesselt lassen? Wäre er nicht gar schon tot, gegrillt und gefressen, wenn er den Gobblins in die Hände gefallen wäre?
Er lag irgendwo im Freien, denn er saß auf feuchter Erde. Wahrscheinlich unter einem Busch, da die Äste, die sein Gesicht verkratzt hatten, sehr tief hingen. Rimon ertastete den Knoten des Knebels an seinem Hinterkopf. Er war nicht fest zugeknotet, so dass er sich leicht lösen ließ. Rasch öffnete er ihn und spuckte und hustete all das Moos, Gras und die Erde aus. Tausende kleine Krümel hingen und klebten überall im Mund. Rimon hustete und spuckte und hustete und würgte. Ein Knacken im Unterholz ließ ihn herumfahren. Jemand kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Dann legte sich inmitten der Finsternis eine Hand auf seine Schulter. „Mensch, Rimon, willst du denn, dass alle Welt weiß, dass du hier bist?“
Ein riesengroßer Stein fiel Rimon vom Herzen und nahm eine Zentnerlast von dort. Sofort hatte er die Stimme wiedererkannt. Erleichterung machte sich bis in die letzten Glieder breit, so dass alle Dämme brachen. Voller Glück und Freude drückte er sich an sie und weinte und schluchzte eine lange Zeit, sicher in ihrem Arm geborgen.
Es war Yolanda.
* * * * *
„Warum hast du mich geknebelt?“ Rimons Verständnislosigkeit war nicht zu überhören. Auch ein Hauch Aggressivität schwang in seiner Stimme mit. Die Erleichterung, dass ihn keine Gobblins verspeist hatten, war rasch der blamablen Erkenntnis gewichen, dass ein junges Mädchen ihn gerettet und dass er zudem, und dies wog weitaus schwerer, in ihrem Arm herzzerreißend geweint hatte.
Yolanda lachte. Die Morgenstunde näherte sich, und in der ersten lichten Dämmerung konnte Rimon die kleinen Grübchen an ihren Mundwinkeln erkennen. Sie lachte, aber ihre traurigen Augen verrieten, dass dies das erste Mal seit geraumer Zeit war.
„Ich musste dich knebeln“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Du warst nicht lange bewusstlos, nachdem du mit deinem Kopf direkt auf einen Stein gefallen warst. Ich hatte die Gobblins schon länger entdeckt. Zuerst wollte ich ins Dorf zurückeilen und Hilfe holen, aber dann erinnerte ich mich, dass ich nie wieder in dieses Dorf zurück wollte.“
Yolandas Blick verdüsterte sich. Rimon horchte auf, eine Handbewegung Yolandas ließ ihn jedoch verstehen, dass dies eine andere Geschichte war und wenn, dann wann anders erzählt werden sollte.
„Daher versteckte ich mich unter diesem Busch“, fuhr Yolanda fort. „Er ist so dicht, dass niemand sehen kann, ob sich jemand darunter verbirgt. Gleichzeitig konnte ich aber zwischen zwei Ästen hindurch Ausschau halten.“ Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach. Sie blickte Rimon nicht an, sondern schaute an ihm vorbei, so, als würde sie nach wie vor Ausschau halten. „Eigentlich wollte ich dich noch warnen, denn schon während des Tages hatte ich dich in deinem Lager entdeckt. Ich wollte mich aber nicht zu erkennen geben, fand es vielmehr lustig, dich noch ein wenig zu beobachten.“
Rimon stöhnte innerlich auf, wollte die Augen verdrehen, tat dies aber nicht. Äußerlich regte er keine Miene.
„Gerade als ich zu deinem Lager aufbrechen wollte, hörte ich ein Pferd wiehern und dann in wildem Galopp durch den Wald preschen. Dann wurde es still, viel zu still. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Doch als ein wildes Gebrüll, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen wollte, durch den Wald tönte, zog ich mich unter meinen Busch zurück. Ich konnte nur noch zu Erdan beten und für dich hoffen.“
Ihr Blick verriet ein leichtes Schuldgefühl. Aber konnte ihr Rimon einen Vorwurf machen, dass sie ihn nicht gewarnt hatte? Was hätte sie denn machen können? Nein, Yolanda hatte richtig gehandelt.
„Dann hörte ich, wie das Gebrüll näher und näher kam. Ich fürchtete bereits, dass die Gobblins irgendwie mein Versteck entdeckt hatten, doch dann sah ich schattenhaft eine Gestalt zwischen den Bäumen umherrennen. Ich musste nicht lange nachdenken, um zu wissen, dass du es warst. Genau neben diesem Busch fielst du mit dem Kopf direkt auf diesen Stein.“
Yolanda schob einige Äste auseinander und zeigte auf einen dahinterliegenden Stein. Ein kleiner Blutfleck war noch zu sehen.
„Du hast auf der Stelle das Bewusstsein verloren. Ich packte dich und zog dich unter den Busch. Die Gobblins rannten allesamt an unserem Versteck vorbei, merkten aber wohl bald, dass sie deine Spur verloren hatten. Sie kamen zurück, schnüffelten durch die Gegend, aber bald schrie einer, der ihr Anführer zu sein schien, einige Worte in einer hässlichen, mir fremden Sprache. Sie gaben die Suche auf und zogen von dannen.“ Yolanda verstummte.
Rimon dachte nach. „Der Blutfleck auf dem Stein, meine Spuren im feuchten Waldboden. Sie hätten uns doch entdecken müssen.“
„Ich weiß. Außerdem haben Gobblins eine unfehlbare Nase. Sie suchten aber nie richtig nach dir. Aus irgendwelchen Gründen hatten sie auch nach deinem Verschwinden feierliche Laune. Du schienst ihnen nur zufällig über den Weg gelaufen zu sein. Die richtige Beute hatten sie anscheinend bereits gemacht.“ Yolanda zuckte mit den Achseln. „Wer weiß, was die hier treiben – so weit jenseits des Mundan. Aber nun sind sie auf jeden Fall weg. Das hoffe ich zumindest.“
Gobblins hier im scheinbar sicheren Teranur. Rimon blickte sich unruhig um. Hielt die Verteidigung am Mundan etwa nicht länger stand? Sollten Bersker, Trolle und Gobblins auch noch dieses Fleckchen Erde unter ihre schreckliche Herrschaft reißen? Eiskalt lief es Rimon den Rücken hinunter. Er schauderte bei diesem Gedanken. Teranur war immer so friedlich und sicher gewesen. Nie hätte er sich vorstellen können, hier von Gobblins angegriffen zu werden.
„Aber warum hast du mich geknebelt? Das konntest du mir noch immer nicht erklären!“
Yolanda grinste – schelmisch, wie ein kleines Mädchen, das sich einen frechen Scherz erlaubt hatte. „Wie gesagt, du warst nicht lange bewusstlos. Du bist kurz aufgewacht, hast irgendwelche unverständlichen Worte gebrummt und bist dann in einen tiefen, unruhigen Schlaf gefallen. Alpträume müssen dich geplagt haben, denn du hast immer wieder laut aufgeschrien. Auch wenn die Gobblins weitergezogen waren, konnte ich mir nicht sicher sein. Daher musste ich dich knebeln, damit du endlich Ruhe gabst.“
Sie lachte, nun ohne Leere, sondern mit einem ehrlichen Leuchten in ihren braunen Augen. Und nun musste auch Rimon lachen.
* * * * *
Yolanda verstand die Welt nicht mehr. Besser gesagt, sie verstand diesen jungen Mann nicht mehr, der da vor ihr stand und sie wegschickte. Fassungslos, mit offenem Mund, glotzte sie Rimon aus großen Augen an und versuchte zu verstehen, konnte dies aber beim besten Willen nicht.
In der Nacht, nachdem sie Rimon vor dem sicheren Tod gerettet hatte, hatte sie ihm vom Tod ihrer Mutter erzählt und wie sie alle angegafft hatten und wie sie das Dorf verlassen hatte und wie sie schließlich das ganze Dorf verflucht und verwünscht hatte. Auch wenn sie damit Rimons gesamte Familie ebenfalls verflucht hatte, hörte Rimon dennoch geduldig zu. Er verstand sie. Das alte Gefühl, das leichte Kribbeln im Magen, keimte in ihr wieder auf. Sie wusste nicht genau, weshalb, sie wusste nur, dass er sie auf magische Weise anzog.
Es war eine wundervolle, friedliche und glückliche Nacht gewesen.
Doch nun, am nächsten Morgen, wies Rimon ihr mit kühlen Worten den Weg. Er müsse nun Yaris wiederfinden. Nein, Yolanda könne dabei nicht mitkommen, denn er müsse alleine beweisen, dass er in der Wildnis überleben könne.
„Aber nach alldem, was ich dir heute Nacht erzählt habe, kannst du mich doch nicht einfach so alleine lassen!“ Yolanda war den Tränen nahe. Würde sie Rimon tatsächlich inmitten dieses Waldes, durch den gestern noch Gobblins gezogen waren, einsam zurücklassen? „Ich habe doch niemanden, zu dem ich gehen kann. Außerdem habe ich dir gestern das Leben gerettet. Da darfst du mich nicht alleine lassen!“
Yolandas Stimme überschlug sich beinahe – hysterisch, panisch schrie sie Rimon ins Gesicht. Doch eigentlich war sie nur verzweifelt. Verzweifelt über alle Maßen.
Aber Rimon blieb vollkommen kühl. „Es tut mir Leid, Yolanda. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass du mir gestern das Leben gerettet hast, und ich hoffe, ich kann dir dies irgendwann einmal zurückgeben. Aber nicht jetzt. Wenn ich ein großer Ritter werden will, wie mein Vater, dann muss ich alleine weiterziehen!“
Steif, aber bestimmt kamen die Worte über seine Lippen. Die Mundwinkel zuckten leicht. Rasch hob Rimon die Arme und wollte Yolanda zum Abschied umarmen. Doch Yolanda wich angewidert aus. Langsam ließ Rimon die Arme wieder sinken. Er blickte zu Boden, murmelte etwas unverständlich vor sich hin, dann schaute er wieder auf, direkt in Yolandas Augen.
Leise, mit brüchiger Stimme sagte er: „Mach es gut, Yolanda. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“
Yolanda war sich nicht sicher, ob sie Traurigkeit in Rimons Augen entdecken konnte. Sie glaubte es. Wollte es glauben. Verwirrt, traurig, wütend blickte sie ihm hinterher. Rimon verschwand zwischen den Bäumen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mit energischen Schritten ging er von dannen, bis der Wald ihn verschluckt hatte.
Zum Abschied, der nicht erwidert wurde, hob Yolanda langsam ihre Hand und blickte ihm mit hängenden Schultern nach.
„Ich hasse dich!“, flüsterte sie.
Eine Träne tropfte von ihrer Wange auf ihr schmutziges Hemd.