Читать книгу Lennox und die letzten Tage von Riverside: Das Zeitalter des Kometen #15 - Jo Zybell - Страница 9

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Riverside, Kalifornien, 8. Dezember 2011

CNN lieferte Bilder ohne Ende. Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt. Sie saßen in Colin Ashtons Garage. Pete Armagosa und sein Enkel Rudy auf Gartenstühlen, Simon auf dem Beifahrersitz des Mercedes Cabriolets, und Colin auf dem Kotflügel. Es war gegen fünf Uhr nachmittags, ein Donnerstag. Der Fernseher stand auf der Werkbank an der Rückwand der Garage. Nagelneues Gerät; Colin hatte es erst drei Tage zuvor angeschafft. Ein tadellos frisierter Jüngling mit rotem Schlips und in dunklem Anzug verlas zum x-ten Mal die Spitzenmeldung des Tages: »Die für den zweiundzwanzigsten Dezember geplante Ablösung der Besatzung der Internationalen Raumstation wird immer fraglicher. Wie gestern erst bekannt wurde, weigert sich die Besatzung – zwei US-Amerikaner, zwei Russen, ein Deutscher, ein Franzose und zwei Japaner –, vor dem achten Februar 2012 den Rückflug zur Erde anzutreten …«

»Saftärsche!« Colin warf seine leere Bierdose in den Fernsehkarton unter der Werkbank. Zerknautschte Dosen bedeckten Styropor und Zellophanfolien. »Weicheier! Fahnenflucht ist das!«

»Psst!« Simon Lennox hob die Hand. Er war die halbe Nacht und den ganzen Tag zum Angeln am Lake Perris gewesen, zusammen mit Arthur Cassidy. Er kannte den letzten Stand der Dinge noch nicht.

»… weder ESA noch NASA noch eine der betroffenen Regierungen wollten zu diesen Informationen Stellung nehmen …«

»Die wissen warum«, orakelte Pete Armagosa, »glaubt mir, die wissen ganz genau, warum sie keine Stellung nehmen wollen.«

Colin stieß einen Fluch aus, beugte sich zu dem mannshohen Kühlschrank an der Wand und zog ihn auf. Ein kurzer Blick in die Runde; die Männer nickten und leerten ihre Dosen.

Nacheinander flogen sie in den Karton unter dem TV-Gerät, und nacheinander fingen sie den Nachschub, den Colin ihnen zuwarf.

»Sie wissen mehr als wir, glaubt mir das, Jungs, sie wissen mehr.« Petes Stimme klang weinerlich. Simon beobachtete ihn von der Seite. Fast grau erschien ihm die Gesichtsfarbe des kleinen, etwas dicklichen Pete. Wenn man ihn besuchte, hing er regelmäßig vor der Glotze und ließ sich das Hirn von CNN abfüllen. Und wenn man ihn durch seinen Garten schlurfen sah, fielen seine hochgezogenen Schultern und sein schleppender Gang auf.

»Schaut hin, dann wisst auch ihr genug.« Mit einer Kopfbewegung wies der junge Rudy Armagosa auf die Mattscheibe. Panzer rollten über die East Houston Street von Manhattan. Hunderte von meist jungen Menschen flohen vor ihnen. Angehörige der Nationalgarde jagten ihnen hinterher und prügelten auf sie ein. »Guckt euch das an!«

Ähnliche Bilder aus anderen Teilen der Welt: Aufgebrachte Massen vor dem britischen Parlament, Militärkolonnen auf den Champs-Élysées, Schüsse in die Menge vor dem brasilianischen Präsidentenpalast, den das Militär in tagelangen Kämpfen zurückerobert hatte.

»Ihr habt doch Augen im Kopf!«

Rudys Stimme überschlug sich. Der aggressive Unterton beunruhigte Simon. Genau wie sein Großvater hatte sich auch der schlaksige Bursche mit den vielen Ringen in Ohren und Nase und dem langen schwarzen Zopf auf dem ansonsten kahlen Schädel verändert.

Feierte wilde Partys im Nachbarhaus, ließ sich sogar tagsüber nur mit Bierdose in der Faust blicken und ging nur noch ins College, wenn es ihm passte. »Vielleicht wissen sie nichts, aber sie ahnen es«, sagte er lauter als notwendig. »Glaubt mir, sie ahnen es!«

»Schwachsinn!«, knurrte Colin.

»Vollkommener Schwachsinn!«

Simon zuckte zusammen, als er den Verschluss seiner Dose knallen ließ.

»Er hat doch Recht.« Pete schüttete den Kopf und seufzte. »Es ist hundert Mal schlimmer als damals, als diese Teufel das World Trade Center platt machten, wisst ihr noch? Das Fanal für die Religionskriege, wisst ihr es noch? Damals roch alles nach Weltuntergang. Jetzt stinkt es danach … Rudy trifft den Nagel auf den Kopf! Es geht zu Ende mit …«

»Halt endlich das Maul!«, blaffte Colin.

Die Tür im Garagentor öffnete sich. Gina und Eve traten ein. »Ach, hier seid ihr!« Eve beugte sich zu Simon hinunter und küsste ihn auf die Wange. Ihr Gesicht nahm einen missmutigen Ausdruck an, als sie die Bierdose in seiner Hand sah.

»Tim hat angerufen«, flüsterte sie. »Er ist unterwegs nach New York City.«

»Warum ausgerechnet in den Big Apple?«

»Er wollte noch einmal bei Burt vorbeischauen.«

Noch einmal bei Burt vorbeischauen!

Simon Lennox nickte. CNN hatte zu einer Pressekonferenz ins Pentagon umgeschaltet. Ein Mann mit Glubschaugen stand an einem Rednerpult. Die Bilder rauschten an Simon vorbei. Wie betäubt fühlte er sich für Sekunden.

Noch einmal bei Burt vorbeischauen!

Als wäre es das letzte Mal. Simon blickte in die graublauen Augen seiner Frau. Angst hatte sich darin eingenistet. Seit Tagen – oder seit Wochen? Sie glaubte es auch; innerlich hatte sie sich schon damit abgefunden. Ihre Sprache verriet sie: Noch einmal bei Burt vorbeischauen …

»Macht endlich die Glotze aus.« Gina Ashton schlug einen energischen Ton an. Den hatte sie sich in neunzehn Ehejahren mit einem Betonschädel angeeignet.

Gina war eine kräftig gebaute Frau Anfang vierzig, mit schwarzem Haar und herben Gesichtszügen. Sie stammte von italienischen Einwanderern ab. Ihr Vater war bis vor drei Jahren Bürgermeister von Riverside gewesen.

»Kommt lieber ins Haus und guckt euch an, was Kathleen da auf die Beine stellt!« Stolz schwang in ihrer Stimme. Seit Kathleen aus Deutschland zurückgekehrt war, arbeitete sie an einem Theaterstück.

Niemand beachtete Gina sonderlich. Alle Augenpaare hingen am Bildschirm. Der Mann, der dort hinter einem Rednerpult hin und her tänzelte, hieß Jacob Blythe. Eine Einblendung stellte ihn als Professor der Astrophysik und Doktor der Medizin vor. Und als Chef der Astronomie Division der US Air-Force.

»CNN bringt euch noch um den Verstand«, nörgelte Gina. »Und das Bier gibt euch den Rest.« Sie nahm Rudy Armagosa die Dose weg. »Was soll das, Rudy? Bist gerade mal siebzehn und hältst mit den Männern mit?« Sie funkelte ihren Gatten an. »Kannst du mir bitte verraten, wie ein Gesetzeshüter das mit seinem Gewissen vereinbaren kann?«

»Wir sind hier nicht in der Öffentlichkeit, Honey.« Colin küsste seine Frau auf den Mund, nahm ihr die Dose weg und drückte sie dem Jungen wieder in die Hand. »Außerdem hab ich frei. Sei so lieb und hol uns Nachschub, der Kühlschrank ist leer.«

Eine steile Falte erschien zwischen Ginas Brauen. »Du kannst mich mal.« Sie schnaubte wütend. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte sie sich neben Colin und blickte ebenfalls in die Mattscheibe.

Dort behauptete der Chef der Astronomie Division, es gäbe keine neuen Informationen, also auch keinen Grund zur Beunruhigung, und die Besatzung der Raumstation plagten wohl die gleichen Ängste wie weite Teile der Bevölkerung.

Einer der Reporter fiel ihm ins Wort. Er habe gute Beziehungen zu einem renommierten Observatorium, rief er laut. »Dort zweifeln ein paar ernst zu nehmende Leute längst nicht mehr daran, dass Alexander-Jonathan uns erwischen wird. Und die gleichen Leute nennen als Kollisionsdatum den achten Februar …«

Simon hielt den Atem an. Pete und sein Enkel saßen plötzlich stocksteif auf ihren Stühlen. Colin erhob sich. Mit nach vorn geschobenem Unterkiefer und vorgerecktem Schädel starrte er in den Fernseher, als wäre der Apparat ein zu allem entschlossener Angreifer. Eve zog die Wagentür auf und setzte sich zu ihm auf die Kante des Beifahrersitzes. Ihre Hand tastete nach seiner. Kalt und feucht fühlten sich ihre Finger an.

Ein Tumult entstand im Pressezentrum des Pentagon. Plötzlich sah man den Chef der Astronomie Division von zahllosen Reportern und ihren Mikrophonen umringt. Kameras versperrten zeitweise den Blick auf ihn. Blitzlichtgewitter ging auf ihn nieder. Und ein Hagel von Fragen.

»Ist das wahr?«

»Haben die Geräte Ihres Observatoriums versagt?«

»Enthält uns die Regierung Informationen vor?«

»Hat man Ihnen einen Maulkorb verpasst?«

Der hagere Mann mit dem knochigen Gesicht, den Glubschaugen und dem blonden Haarzopf blickte nach allen Seiten, als suche er einen Fluchtweg. Aber da gab es kein Entkommen.

»Was kann ich für die Nachrichtenpolitik des Weißen Hauses?« Er wurde laut. »Die Bahn des Kometen ist unberechenbar! Kann sein, er fällt uns am achten Februar auf die Köpfe, kann auch nicht sein …«

8. Februar.

Simon nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierdose. Noch zwei Monate. Er dachte an Tim.

Will er womöglich zurück nach Deutschland? Sehnsucht nach seinem Sohn überkam ihn. Und Angst. Die Angst, ihn nie wieder zu sehen.

»Siehst du?«, rief Colin laut, vermutlich mehr an sich selbst als sonst jemanden gewandt. »Man weiß nichts Genaues! Schwachsinn, jetzt sein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen! Business as usual, sag ich!«

Wieder erschien der korrekt frisierte Anchorman auf der Mattscheibe.

»Seit heute Vormittag beunruhigt außerdem eine Meldung der Nachrichtenagentur TASS die Krisenstäbe der Welt. Nach ihr lägen dem Kreml bereits seit einer Woche gesicherte Daten vor, die sich nicht anders interpretieren ließen, als dass der Komet Alexander-Jonathan am achten Februar 2012 zwischen sechzehn und siebzehn Uhr mitteleuropäischer Zeit mit der Erde kollidieren wird.«

Der Anchorman wurde überblendet. CNN schaltete nach Rom. Hunderttausende auf dem Petersplatz. Der Papst hielt eine Ansprache.

»Das war‘s dann.« Pete Armagosa brach schier die Stimme. Simon konnte sehen, wie er schluckte.

»Blödsinn!«, donnerte Colin. Gina war plötzlich sehr still. Aus großen feuchten Augen schien sie durch das Fernsehgerät hindurch zu blicken.

»Es ist vorbei.« Rudy kicherte. Hysterisch kam er Simon vor. »Es ist tatsächlich vorbei…«

Er schüttete so viel Bier in sich hinein, dass es ihm durch den Bartflaum rann und auf seinen Trenchcoat tropfte. »Die letzten Tage der Menschheit sind angebrochen!« Er rülpste und wischte sich das Bier mit dem Handrücken aus dem Gesicht. »Lasst uns das Beste daraus machen.«

»Absoluter Schwachsinn!« Colin knüllte die Dose zusammen und schleuderte sie in den Karton. »Scheißt euch doch nicht in die Hosen!«

»Wir haben noch zwei Monate Zeit«, sagte Simon.

»Quatsch nicht.« Colin öffnete eine neue Bierdose. »Tastatursklaven sind das, Sesselfurzer – niemand kann sagen, ob er uns trifft oder vorbeifliegt. Hast du nicht zugehört? Ich glaub‘s erst, wenn ich ihn am Himmel über Kalifornien sehe.«

»Wir haben noch zwei Monate Zeit«, wiederholte Simon. »Nicht zwei Tage, nicht zwei Wochen – zwei Monate.« Ein Blick des Armagosa-Jungen traf ihn, ein Blick aus unnatürlich großen und glänzenden Augen. Ein Blick, der Simon Sorgen machte. Rudy schien das Bier nicht zu vertragen.

Auch Colin und Pete sahen Simon an, Colin unwirsch, Pete traurig. Und beide irgendwie begriffsstutzig. Simon trank sein Bier aus.

»Danke, Colin – wir sehen uns.« Er und Eve verließen die Garage. Arm in Arm liefen sie über den Gartenweg aus dem Grundstück der Ashtons. Die Terrassentür des Hauses stand offen; Musik und laute Stimmen waren zu hören.

»Was ist denn da los?«, wunderte sich Simon. Sie blieben stehen. Durch die offene Glasfront sahen sie Gestalten in wehenden Gewändern und mit Masken. Ein Mädchen mit langem, schwarzen Haar kam auf die Terrasse. Kathleen Ashton. Sie winkte und verschwand sofort wieder im Treiben innerhalb des Hauses.

»Kathleen hat das Wohnzimmer in einen Probenraum verwandelt«, sagte Eve. »Sie hat fast ein Jahr lang an einem Stück geschrieben. Zu Weihnachten will sie es aufführen.«

»Ein Theaterstück!« Sie gingen weiter.

»Jemand inszeniert in den Zeiten des Kometen ein Theaterstück?« Simon konnte es kaum glauben.

»Du weißt doch, dass sie immer davon geträumt hat, Stücke zu schreiben und aufzuführen.«

Lennox und die letzten Tage von Riverside: Das Zeitalter des Kometen #15

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