Читать книгу Die Magie der Sucht - Joachim Bräunig - Страница 9
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ОглавлениеAm folgenden Samstagnachmittag herrschte auf dem Polizeirevier in Waren/Müritz die übliche Gelassenheit und der Revierleiter führte die Auswertung der vergangenen Nacht durch. Entsprechend der ihm vorliegenden Protokolle von Störungen waren keine besonderen Auffälligkeiten auszuwerten. Es gab einige Ruhestörungen und zwei Schlägereien, zu denen seine Mitarbeiter gerufen worden waren. Das einzige nennenswerte Vorkommnis war ein offensichtlicher Familienstreit, der zu einer Messerstecherei geführt hatte. Die Beamten hatten den Streit beendet und den offensichtlich stark alkoholisierten Täter in Verwahrung genommen. Die Uhr zeigte kurz vor 12 Uhr an, als beim Revierleiter das Telefon klingelte und eine aufgeregte Stimme fragte: „Bin ich richtig bei der Polizei?“
„Ja, wie kann ich ihnen helfen?“
„Sie müssen sofort zu meinem Vater fahren“, erwiderte der Anrufer.
„Beruhigen sie sich. Wie ist ihr Name?“
„Ich heiße Martina Sorge und mein Vater ist Ulf Sorge.“
„Ist ihr Vater Ulf Sorge, der Anwalt?“, wollte der Revierleiter wissen.
„Ja.“
„Ihr Vater ist in der Gegend bekannt.“
„Das glaube ich, aber darum geht es nicht.“
„Was ist genau ihr Anliegen?“
„Meinem Vater muss etwas zugestoßen sein. Ich habe ihn seit gestern Abend bis heute mehrmals versucht telefonisch zu erreichen, aber er meldet sich nicht.“
„Vielleicht ist er verreist.“
„Mit Sicherheit nicht, dass hätte er mir mitgeteilt. Er verreist selten und wenn, dann gibt er mir zuvor Bescheid. Wir telefonieren oft und besonders am Wochenende. Ich bin mir sicher, dass ihm etwas zugestoßen ist.“
„Könnte ihr Vater krank sein?“
„Davon ist mir nichts bekannt, im Gegenteil, er war stolz auf seine Gesundheit.“
„War er mit dem Fahrzeug unterwegs, vielleicht hatte er einen Unfall?“
„Er trug stets einen Notfallpass bei sich. Bei einem Unfall hätte das Krankenhaus oder andere Personen mich sicherlich in formiert.“
„Wann haben sie mit ihren Vater das letzte Mal gesprochen?“
„Am Freitagabend, da war er bester Stimmung und freute sich auf das Wochenende.“
„Gut, Frau Sorge. Wir werden unsererseits die festgelegten Maßnahmen ergreifen und zugleich alle Reviere bezüglich ihres Vaters befragen.“
„Das reicht mir nicht, ich verlange, dass sie sofort zum Grundstück meines Vaters fahren.“
„Die einzuleitenden Maßnahmen überlassen sie bitte uns“, erwiderte der noch immer freundliche Revierleiter.
„Ich bin überzeugt, dass ihm etwas Schlimmes widerfahren ist. Vielleicht benötigt er dringend ärztliche Hilfe und sie unternehmen nichts. In dem Fall mach ich sie verantwortlich“, brüllte Martina Sorge ins Telefon.
„Bitte beruhigen sie sich. Ich werde die entsprechenden Schritte einleiten. Wie kann ich sie erreichen, für den Fall, dass wir ihre Hilfe benötigen?“
„Meine Telefonnummer haben sie. Ich werde mich nicht vom Telefon entfernen. Ich rufe aus Australien an und ersuche sie dringend, nach dem Befinden meines Vaters zu schauen.“
„Gut, sobald wir näheres wissen, melden wir uns bei Ihnen“, sprach der Revierleiter und beendete das Gespräch.
Nach dem Auflegen des Hörers entschloss sich der Beamte einen Streifenwagen nach Röbel zu dem Grundstück von Detlef Scholz zu schicken, wobei er diese Maßnahme nur aus Sicherheitsgründen und zur Beruhigung der Anruferin festlegte, ohne im Geringsten zu ahnen, was seine Kollegen erwartete. Die Streifenpolizisten trafen nach wenigen Minuten auf dem Grundstück von Ulf Sorge ein und läuteten an der Pforte. Nachdem niemand öffnete sagte einer der Polizisten: „Lass uns zum Haus gehen und an der Haustür läuten.“
„Einverstanden“, erwiderte der andere.
Sie gingen zur Haustür und läuteten erneut mit dem gleichen Ergebnis, dass sich niemand meldete.
„Lass uns das Grundstück besichtigen, vielleicht können wir von einem Fenster Einblick in die Wohnung erlangen“, schlug einer vor und beide begaben sich auf einen Rundgang um das Gebäude, mit dem Ergebnis, dass sie keinen Blick in die Wohnung des Anwaltes gewinnen konnten.
„Was nun?“
„Weiß auch nicht, schlage vor, wir rufen unseren Chef an.“
Sie riefen ihren Vorgesetzten an und schilderten die Lage vor Ort. Der Revierleiter überlegte und sagte: „Wir haben für das Haus keinen Durchsuchungsbeschluss.“
„Vielleicht ist Gefahr im Verzug“, antwortete ein Streifenpolizist.
„Ja, aber dann könnt ihr dennoch nicht einfach einbrechen. Ich schicke euch einen Schlüsseldienst und in der Zwischenzeit beantrage ich einen Durchsuchungsbeschluss“, legte der Chef fest.
Die Polizisten warteten auf dem Grundstück von Ulf Sorge auf den Schlüsseldienst und beiden kam die Lage merkwürdig vor. Das Auto von Ulf Sorge war nicht zu sehen, aber es konnte in der Garage stehen, die nicht einsehbar war.
„Es ist schon seltsam, dass vom Anwalt kein Lebenszeichen spürbar ist und er sich nicht bei seiner Tochter gemeldet hat. Ich schätze ihn und dafür ist er bekannt, als sehr gewissenhaft und gründlich ein, warum meldet er sich dann nicht bei seiner Tochter. Nach circa zwanzig Minuten traf der Mitarbeiter von Schlüsseldienst ein. „Euer Anliegen muss sehr dringend sein, wenn ich von meinem Boss von einem eiligen Auftrag abgezogen werde. Dann wollen wir das Haus mal öffnen“, sagte der Mann und hatte binnen Sekunden die Haustür geöffnet.
„Mein Boss wird euch die Rechnung schicken“, sagte er und verabschiedete sich.
Die Polizisten betraten den Flur des Hauses und riefen nach Herrn Sorge, woraufhin sie keine Antwort bekamen. Der Flur wirkte aufgeräumt und sauber. An der Flurgarderobe hingen Sommermäntel und leichte Jacken und die Schuhe standen ordnungsgemäß und sauber davor.
„Lass uns die Zimmer anschauen“, sagte einer der beiden und ging in die Wohnstube voraus. Sie betraten die Wohnstube, ohne das ihnen anfangs Besonderheiten auffielen. Sie gingen Richtung Fernseher, wobei sie an dem Sessel vorbeikamen und beiden vor Erschrecken fast der Atem stockte. Der Anwalt, Ulf Sorge, saß mit weit aufgerissenen Augen im Sessel und war offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben.
„Schau dir das an.“
„Ja, ich sehe, der Mann hat Würgemerkmale am Hals.“
„Es sieht nach einer brutalen Hinrichtung aus.“
„Der Mann ist schon weit erkaltet, demnach liegt das Verbrechen bereits einige Zeit zurück.“
„Ja, ich stimme dir zu.“
„Ich werde jetzt unseren Chef anrufen.“
„Schildere die Lage exakt“, antwortete der andere Polizist.
„Hör mal, wie lange arbeiten wir bereits zusammen und gehen auf Streife, da müsstest du wissen, dass ich meine Arbeit gründlich erledige“, entsetzte sich sein Kollege.
„Reg dich nicht auf, sollte ein Spaß sein.“
Der Polizist setzte seine Meldung an seinen Vorgesetzten ab, der über diese Nachricht entsetzt war.
„Ihr bleibt vor Ort. Ich leite alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Abteilung der Spurensicherung ein. Anschließend komme ich persönlich zum Tatort.“
„Wenn es der Tatort ist“, entgegnete der Polizist.
„Das werden wir alles aufklären. Bis dann und sichert das Grundstück großflächig ab, wir brauchen keine unnützen Schaulustigen, die eventuell noch Spuren zertrampeln“, legte der Revierleiter fest und beendete das Gespräch, um die notwendigen Maßnahmen in einem Mordfall einzuleiten. Nach einigen Telefonaten wollte sich der Revierleiter soeben zu seinem Fahrzeug begeben, als erneut das Telefon läutete und eine aufgeregte weibliche Stimme sich nach dem Befinden ihres Mannes erkundigte.
„Mit wem spreche ich?“, fragte der Revierleiter.
„Lia Sorge.“
Der Revierleiter stutze und wusste für einen Augenblick nicht wie er sich der Frau des Getöteten gegenüber verhalten sollte. Schließlich fragte er: „Wie kann ich ihnen helfen?“
„Meine Tochter hat mich soeben aus Australien angerufen und mir mitgeteilt, dass mein Mann nicht zu erreichen ist. Sie hat bei ihnen eine Vermisstenanzeige aufgegeben.“
„Ja, ich weiß, Frau Sorge.“
„Was ist mit meinem Mann, haben sie neue Erkenntnisse?“
„Frau Sorge, wann haben sie letztmalig mit ihrem Gatten gesprochen?“
„Ich habe am Donnerstagabend das letzte Mal mit ihm telefoniert. Ich bin zurzeit in Berlin und pflege meine Eltern, was sehr aufwendig ist und deshalb kann ich leider nicht täglich mit meinen Mann sprechen.“
„Ich verstehe, Frau Sorge, aber im Augenblick kann ich ihnen leider nichts Neues mitteilen, wir ermitteln weiter bezüglich des Verbleibes ihres Gatten“, sagte der Revierleiter, weil er sich im Augenblick nicht schlüssig wurde, der besorgten Frau das Ableben ihres Mannes mitzuteilen und außerdem wollte er auf Grund der bisher vorliegenden Erkenntnissen nicht voreilig falsche Schlüsse ziehen. Zudem konnte er sich nicht entschließen, die Frau telefonisch über den gewaltsamen Tod ihres Gatten zu informieren. Er entschloss sich daher, das Ableben ihres Mannes vorerst zu verschweigen und sprach: „Sobald wir Informationen zum Aufenthalt ihres Mannes haben, werden wie sie in Kenntnis setzen.“
„Ich erwarte ihren Anruf, damit ich auch meine Tochter informieren kann.“
„Hat ihr Mann bei ihrem letzten Gespräch einen Ausflug erwähnt?“
„Nein.“
„Hatte er anderweitig etwas geplant?“
„Nein und wenn hätte er mich mit Sicherheit informiert.“
„Hat er über körperliche Beschwerden gesprochen?“, fragte der Beamte, um die Frau abzulenken.
„Keinesfalls, er war immer gesund.“
„Gut, Frau Sorge, wir melden uns wieder bei Ihnen.“
Nach diesem Telefonat ging er zum Wagen und fuhr Richtung Röbel, das er von zahlreichen Ausflügen mit seiner Familie gut kannte. Er sah bereits von weitem seine Mitarbeiter auf der Zufahrtstraße stehen und war zufrieden, dass sie das Grundstück gut abgesichert hatten. Die meisten Passanten gingen teilnahmslos an ihnen vorbei, sodass nicht mit großem Auflauf zu rechnen war. Er fuhr sein Fahrzeug bis zum Grundstück von Ulf Sorge und lief danach zu seinen Untergebenen zurück.
„Waren sie schon im Haus?“, wurde er gefragt.
„Nein, dass erledige ich anschließend.“
„Sind die Spurensicherung und die Kripo unterwegs?“
„Ja, müssten beide in Kürze eintreffen.“
„Eigentlich haben wir Dienstschluss“, warf ein Polizist ein.
„Ich weiß und ich habe ihre Ablösung bereits veranlasst.“
„Wie lange wollen sie heute noch arbeiten?“, kam die nächste Frage.
„Solange, bis ich diesen Fall der nächsten Schicht problemlos übergeben kann. Ich denke, dass die Kripo die weiteren Schritte und Ermittlungen aufnimmt.“
Sie unterhielten sich noch einige Zeit, als das Handy des Revierleiters erneut läutete und sich die Wache seines Revieres meldete.
„Sie müssen sofort zurückkommen“, sagte der Beamte.
„Weshalb?“
„Uns liegt eine weitere Vermisstenanzeige vor.“
„Seit wann ist die Person vermisst.“
„Nach Aussage des Anrufers erfolgte der letzte Kontakt vorgestern, also am Donnerstag.“
„Um welche Person handelt es sich?“
„Der Vermisste ist Detlef Schmidt.“
„Der Immobilienmakler aus Vipperow?“
„Ja.“
„Von wo kam der Anruf und wer rief an?“
„Der Anrufer war sein Sohn und der Anruf kam aus Ahlbeck.“
„Sobald die Kripo und die Spurensicherung hier in Röbel vor Ort sind, werde ich im Fall Detlef Schmidt die notwendigen Maßnahmen einleiten. Gab es weiteren Kontakt zwischen Sohn und Vater?“
„Der Sohn hat ihn gestern Abend angerufen, aber keinen Kontakt bekommen, woraufhin er die Bitte um Rückruf auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat er jedoch kein Lebenszeichen von seinem Vater bekommen, was nach Meinung des Sohnes sehr ungewöhnlich ist.“
„Gut, bis später“, beendete er das Gespräch und ging zu seinen Kollegen.
„Der Tag wird noch etwas länger für euch“, sprach er zu ihnen.
„Wieso?“, fragten beide verdutzt.
„Es gibt eine weitere wichtige Vermisstenanzeige.“
„Das ist jetzt aber nicht wahr, Chef.“
„Doch und ich habe keine weiteren Leute in der jetzigen Schicht.“
„Ein tolles Wochenende, auf welches ich mich gefreut habe.“
„Tut mir leid Jungs, aber es geht nicht anders“, sagte er und konnte mit Genugtuung die Ankunft der Spurensicherung begrüßen, die er sofort zum Grundstück weiterschickte.
„Ihr fahrt beide nach Vipperow zum Grundstück von Detlef Schmidt, lasst euch von der Wache einweisen. Wenn ihr angekommen seid, gebt mir sofort Bescheid. Ich gehe jetzt mit der Spurensicherung alles durch und komme nach der Absprache mit der Kripo zu euch.“
„Das kann ein schönes Wochenende werden, ich hoffe nur in Vipperow erwartet uns nicht das gleiche Bild wie hier“, lächelte ein Streifenpolizist.
„Der Ort ist doch nur rund fünfzehn Kilometer von hier entfernt.“
„Ja, aber die Spurensicherung und die Kripo können nicht gleichzeitig an zwei Orten sein.“
„Macht euch auf den Weg, ich komme sobald als möglich nach“, sagte der Chef und ging zum Grundstück von Ulf Sorge zurück, wo die Kollegen bereits warteten. Er erkundigte sich bei den Mitarbeitern der Spurensicherung und der Kripo nach bisherigen Ergebnissen, wobei ihm mitgeteilt wurde, dass gegenwärtig noch keine konkreten Aussagen möglich seien.
„Es gibt seit zwanzig Minuten eine weitere Vermisstenanzeige, der wir sofort nachgehen müssen“, sagte der Beamte und schaute seine Kollegen an, die leicht verwirrt dreinschauten.
„Es handelt sich um eine ziemlich bekannte Persönlichkeit.“
„Bei uns gibt es keine Bewertung nach dem Bekanntheitsgrad eines Vermissten.“
„Das wollte ich nicht zum Ausdruck bringen“, entschuldigte sich der Revierleiter.
„Wir haben hier noch einige Zeit zu tun“, schätzten die Kollegen der Kripo ein.
„Ich werde zum Ort des neuen Vermissten fahren, meine Kollegen habe ich bereits vorgeschickt, gegebenenfalls setzte ich mich mit ihnen in Verbindung.“
Der Chef des Polizeireviers von Waren/Müritz setzte sich in Richtung Vipperow in Bewegung und hoffte, dass sich in diesem Fall der Vermisstenanzeige keine weiteren Komplikationen herausstellten. Nach fünfzehn Minuten traf er auf dem Grundstück von Detlef Schmidt am Ende des Ortes ein und fragte seine Mitarbeiter: „Wie ist die Lage?“
„Alles ruhig und niemand anzutreffen.“
„Habt ihr das Grundstück abgesucht?“
„Ja, aber keine Auffälligkeiten festgestellt. Wir haben mehrmals geklingelt und gerufen, aber keine Antwort bekommen.“
„Ist die Zugangstür verschlossen?“
„Ja.“
„Gibt es andere Zugänge?“
„Ja, zum Keller, aber auch diese Tür ist verschlossen und die Tür von der Veranda in das Wohnhaus ist gleichfalls verschlossen, sodass ein Zugang in das Innere des Hauses auf normalem Weg nicht möglich ist.“
„Fenster sind auch alle verriegelt?“
„Ja“, antworteten die Polizisten leicht erzürnt über diese Frage ihres Vorgesetzten.
„Lasst uns die Haustür etwas genauer betrachten“, sprach der Chef und ging mit seinen Kollegen zur Haustür, wo er feststellte, dass es sich um ein normales Sicherheitsschloss handelte. Er schaute seine Kollegen an und alle hatten ein ungutes Gefühl, betreffs der Stille auf dem Grundstück. Detlef Schmidt war allen bekannt und er genoss einen guten Ruf, wobei er für seine Verschlossenheit bekannt war, die sich nach seiner Scheidung weiter verstärkt hatte und er außerhalb seiner Geschäftstätigkeit wenig Kontakt pflegte.
„Die Kollegen der Spusi und Kripo sind noch in Röbel beschäftigt und ich werde die Verantwortung übernehmen und uns Zutritt in das Haus verschaffen.“
„Habt ihr neugierige Einwohner gesehen?“
„Nein, der Ort wirkt etwas verschlafen und außerdem ist es bereits Abend geworden.“
Dem Revierleiter fiel erst jetzt auf, das es bereits weit nach 21 Uhr geworden ist. Der Verlauf der zurückliegenden Stunden war sehr ereignisreich gewesen und hatte die Zeit schnell vergehen lassen.
„Es ist gut für uns, dass dieses Grundstück am Ortsrand liegt und wir keine Schaulustigen zu befürchten haben. Ich schlage vor, wir entfernen die Beschläge aus den Angeln der Tür, sodass wir danach die Tür ausheben und uns somit Zutritt verschaffen können.“
„Wollen sie keinen Schlüsseldienst holen?“, fragten beide Streifenpolizisten gleichzeitig.
„Nein, ich nehme diese Entscheidung auf meine Kappe“, sagte mit entschlossener Stimme der Chef.
Nach wenigen Minuten hatten sie ohne große Schwierigkeiten die Tür aus den Angeln gehoben und standen im Flur der Wohnung von Detlef Schmidt. Sie riefen seinen Namen ohne eine Antwort zu bekommen. In der Wohnung herrschte völlige Dunkelheit und die Polizisten mussten zunächst das Licht einschalten, um sich bewegen zu können. Im Flur auf der Garderobe lag der Hausschlüssel und sie wollten später die Tür wieder einhängen, um Fremden keinen Zutritt zu gewähren. Sie gingen in die in gerader Linie liegende Wohnstube und konnten nichts feststellen, woraufhin sie in die Küche gingen und zu ihrem Entsetzten den getöteten Detlef Schmidt fanden.
„Nicht schon wieder“, rief einer der Polizisten.
„Ich fasse es nicht“, stimmte der Chef zu.
„Wie geht es jetzt weiter?“, wollten die Polizisten von ihren Chef wissen.
„Gute Frage, lasst mich überlegen“, sagte dieser und setzte sich auf einen Küchenstuhl.
Nach einiger Zeit angestrengten Nachdenkens sprach der Revierleiter schließlich: „Unsere Kollegen sind noch in Röbel im Einsatz und es ist bereits nach 22 Uhr, sodass ansonsten nur noch der Bereitschaftsdienst eingesetzt werden kann und gegenwärtig ist mir nicht bekannt, welche Kollegen heute Bereitschaft haben und welchem Tätigkeitsbereich sie angehören. Zudem glaube ich, dass diese Angelegenheit für unser Revier eine gewaltige Nummer zu groß ist. Einerseits von der personellen Kapazität und andererseits von der fachlichen Kompetenz.“
„Da geben wir ihnen völlig recht“, sagten seine Mitarbeiter.
„Daraus schlussfolgernd werde ich, nach meiner Ankunft im Revier, sofort meine übergeordnete Dienststelle anrufen und über beide Vorkommnisse informieren und sie darauf hinweisen, dass wir zur Aufklärung der beiden Mordfälle, um die es sich nach meiner festen Überzeugung handelt, nicht befähigt sind.“
„Was geschieht mit uns?“, fragten die Streifenpolizisten.
„So leid es mir tut, aber ihr müsst vorerst vor Ort bleiben, aber ich werde so schnell wie möglich eine Ablösung für euch organisieren.“
„Das kann lange dauern.“
„Möglich, hängt auch von der Freigabe der Tatorte durch die Ermittler ab.“
„Ich bekomme allmählich ein großes Hungergefühl“, erwiderte einer.
„Ich fahre jetzt ins Revier und werde alles Nötige veranlassen.“
Der Revierleiter verließ, nachdem er die Ermittler in Röbel von den Verbrechen in Vipperow benachrichtigt und sie gleichzeitig zur Aufnahme ihrer Tätigkeit im zweiten Tötungsfall ersucht hatte, in seine Dienststelle. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte, wen er benachrichtigen musste und wie er die scheußlichen Taten erklären sollte. Er wusste, dass diese Verbrechen eine großangelegte Ermittlungsaufgabe erfordern würden, einschließlich notwendiger Fahndungsmaßnahmen und gerichtsmedizinischer Untersuchungen. Ein solches Vorkommnis hatte es in seiner langjährigen Tätigkeit in seinem Dienstbereich noch nicht gegeben. Die Zeit war bereits weit vorangeschritten und die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht, aber er wollte diese Vorkommnis nicht auf seinem Schreibtisch liegen lassen und er war sich sicher, alle bisher notwendigen Aufgaben zur Sicherung der Tatorte und sich aller daraus ergebenden Notwendigkeiten veranlasst zu haben. Er ahnte, dass sein unmittelbarer Vorgesetzter zu dieser späten Nachtzeit bereits zu Bett gegangen sein könnte und entschloss sich dennoch, ihn zu Hause anzurufen. Nach einiger Zeit des Wartens am Telefon meldete sich sein Vorgesetzter: „Das muss aber sehr wichtig sein, wenn sie mich jetzt anrufen.“
„Davon bin ich überzeugt.“
„Was gibt es Besonderes?“
„Ich habe zwei Tötungsverbrechen zu melden.“
„Wenn das ein Scherz sein soll, ist er ihnen nicht gelungen, berichten sie.“
Der Revierleiter schilderte die Ereignisse der letzten Stunden mit den aufgefundenen getöteten Personen und berichtete seine eingeleiteten Maßnahmen, einschließlich des gegenwärtigen Standes mit der Sicherung der Tatorte, denn er war der festen Überzeugung, dass die Fundorte gleichzeitig die Tatorte waren. Nach Beendigung seines Berichtes wartete er gespannt auf die Erwiderung seines Vorgesetzten. Nach einigen Augenblicken des Schweigens seines Vorgesetzten, indem der Revierleiter eine deutliche Anspannung seines Chefs verspürte. „Sie haben, nach meiner jetzigen Einschätzung klug und umsichtig gehandelt. Erstellen sie bitte einen ausführlichen Bericht über alle Vorgänge der letzten Stunden und versuchen sie die zurzeit vorliegenden Erkenntnisse der Ermittler mit einzubeziehen, auch wenn diese noch etwas vage und noch nicht bestätigt sind. Wir benötigen alle Informationen, um ein Bild zu erstellen. Alle möglichen Angaben zu den getöteten Personen und ihrer Tätigkeiten sowie ihrer häuslichen Umgebung sollten in den Bericht einfließen. Ich werde sofort in ihr Revier fahren und von dort die weiteren Meldungen vornehmen. Bis gleich“, sagte der Vorgesetzte und beendete das Gespräch. Der Revierleiter versuchte die Ereignisse der letzten Stunden akribisch in seinen Bericht einzuarbeiten und keine Details zu vernachlässigen. Sein Vorgesetzter traf nach circa fünfzig Minuten im Revier ein und las kurz den Bericht durch, wobei er zufrieden mit dem Kopf nickte.
„Ich schätze, den Fall müssen wir an eine höhere Stelle weiterleiten, da er nach meiner Ansicht durchaus eine Größenordnung erreicht hat, die wir nicht selbstständig bearbeiten können und uns zudem die Erfahrung auf diesem Gebiet fehlt, womit ich keinesfalls ihre Arbeit abwerten möchte.“
„Ich vertrete den gleichen Standpunkt.“
„Das wird nicht einfach, um diese Zeit die Verantwortlichen zu erreichen, aber die Schwere der Taten erfordert ein schnelles Handeln.“
Der Vorgesetzte des Revierleiters informierte die nach seiner Ansicht zuständigen Polizeistellen und setzte noch in der Nacht einen gewaltigen Apparat in Bewegung, der nach Ansicht aller zuständigen Behörden zur Aufklärung der Verbrechen erforderlich war.