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Ansichten

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(September 2013)

Meine Tochter zieht es in die Ferne. Australien, Mexiko, Indien, Vietnam, alles hat sie schon, zumeist auf asketisch-abenteuerliche Art, bereist. Das Fernweh muss sie von mir geerbt haben, obgleich ich inzwischen über Tage hinweg kaum mehr als nur einen Fuß über die Grenzen unseres bescheidenen Anwesen setze. Schon als kleiner Bub im Vorschulalter war ich vom unstillbaren Wunsch beseelt, später einmal als Seemann um die ganze Welt zu fahren. Aus diversen Gründen hat sich dieser Wunsch dann lediglich im Befahren der Ostsee, und auch dies nur in sehr bescheidenem Umfang, manifestiert. Aber zurück zu meiner Tochter. Vergangenes Jahr kehrte sie aus China zurück und brachte wie üblich neben jeder Menge fremdländischer Utensilien auch mir eine Geschenk mit. Eine Mao-Fibel, zweckmäßig im Format, so dass in jede Jackentasche passend, versehen mit einem strapazierfähig-schlichten roten Plastikeinband. Die Zitate und Thesen des Großen Führers darin thematisch und zeitlich geordnet, dargeboten in teilweise liebenswert-fehlerhaftem Englisch. Seitdem lese ich hin und wieder darin. Was ich zu meinem Erstaunen vorfinde, ist mir allesamt bestens bekannt. Zitat für Zitat könnte einem der Lehrbücher, Referate, Diskussionsbeiträge etc. entnommen sein, wie sie einst zu hunderten über mich ergingen. Mit eiferndem Enthusiasmus aufsaugend in meinen frühen Jahren, späterhin gelangweilt und aus eingeredet-notwendiger Disziplin hingenommen, um letzten Endes mit Skepsis, Argwohn und zuweilen mit geringem Schauder selbige in Frage zu stellen. Ich habe kein Problem damit zu gestehen, dass auch ich einige dieser Zitate dereinst im Munde führte: aus unwissender Überzeugung, aus rechthaberischem Drang, den Disputgegner verbal zu liquidieren, aus Parteidisziplin, aus Opportunismus der guten Schulnote wegen.

Ein Zitat hat es mir besonders angetan, war es doch über Jahrzehnte eines meiner obersten Glaubensgrundsätze: The sodalist system will eventually replace the capitalist system; this is and objective, law independent of mans will. However much the reactionaries try to hold back the wheel of history, sooner or later revolution will take place and will inevitably triumph. (Speech at the Meeting of the Surpreme Soviet of the U.S.S.R., in eleboration of the 40th Anniversary of the Great October Socialist Revolution, November 6, 1957) steht so wie hier Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort geschrieben in dem Büchlein. Unterm Strich die Unausweislichkeit und Unabänderlichkeit des prognostizierten historischen Verlaufs.

Seite für Seite, These für These, Zitat für Zitat arbeite ich mich nun durch die Fibel, freilich ohne jegliche Hast und schon gar nicht mehr unter Druck. Und so verwunderlich es auch klingen mag: Ich finde darin nichts Unlogisches. Wer das Große Ziel im Auge hat, und festen Willens ist, dies umzusetzen, kommt nicht umhin, die Zitatenweisheiten nahezu abstrichlos zu befolgen. Ich sehe keine andere Alternative. Es ist keine Ansichtssache, es ist Sachzwang. Ansichtssache hingegen ist das Große Ziel an sich. Und da scheiden sich die Geister, ganz erheblich zumal. Womit ich beim eigentlichen Thema wäre.

Menschen streiten sich seit Aber- und Aber-Zeiten über das Woher und das Wohin. Sie tun dies unter allen möglichen und unmöglichen Umständen, verbunden nur allzu oft mit rein materiellen Motivationen. Das Problem dabei: Die wirklichen Bewegungsgesetze des Universums, darin eingeschlossen die der menschlichen Gesellschaft, waren und sind uns nach wie vor weitestgehend unerkannt. Selbst die Physik, Urmutter aller Naturwissenschaften vermag bei Bemühung der aufwendigsten Methoden die verborgenen Geheimnisse nicht zu entschleiern und flüchtet sich der Erklärung halber in ominöse Raum-Zeit-Betrachtungen und esoterische Stringtheorien, welche bis dato immerhin 11-fach dimensionierte Universen-Strukturen entstehen ließen. Wie sprach doch gleich die Gänsemagd zum Pferdekopf? Oh Falada, der Du da hangest! Was mich dabei zudem bewegt: Bedarf das Universum in seiner Unendlichkeit tatsächlich eines Faktors „Zeit“? Wenn nicht, wohin dann mit ihrer Krümmung und dem „Raum-Zeit-Kontinuum“? Und die Krümmung des Raumes wäre dann auch gleich noch zu hinterfragen.

Noch ärger betrifft’s, was die Wahrheitsdeutung anbelangt, die sogenannten Gesellschaftswissenschaften (Geschichts-, Politik- und ähnliche andere „Wissenschaften“ darin eingeschlossen).

Was letztlich, solange der wirkliche 100ige Beweis nicht vorliegt, verbleibt, sind bloße Ansichten, diese mehr oder weniger stark in ihrem Wahrscheinlichkeitsgehalt durch praktischen Gebrauch belegt. In diesem Sinne sehr stark belegten Ansichten wie dem Axiom „1+1=2“ stehen aus reinen Naturgegebenheiten gänzlich unbelegte Ansichten wie die „Einführung des Mindestlohnes“ gegenüber. Ich stritt in meinen jüngeren Jahren zu meinem heutigen Verdruss selbst mit Freunden, Verwandten und Bekannten, da ich glaubte (damals „wusste“), die Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Verlaufs zu kennen - dem Prinzip nach wenigstens - und vermeinte, meinem jeweiligen dies so nicht bewussten Streitgegenüber auch mit zuweilen recht deutlicher Vehemenz vermitteln zu müssen. Was hin und wieder zu verständlichen Irritationen und Verärgerungen führte.

Mit der Zeit musste ich mir eingestehen, dass besagte Ansichten, welche ich vor Zeiten noch mit dem Begriff „Weltanschauung“ ummantelte, in aller Regel der Ursachen mehrere haben. Theoretische Erkenntnis und Wissen schon, soziale Herkunft, Mentalität, praktische Erfahrung und andere mehr aber nicht minder. Zumal das Wissen, allem voran das individuelle, naturgegeben – emsige Belesung dabei unterstellt – am Ende immer wieder nur knapp bemessen sein wird, je nach Umstand noch bemessener. Was im komplexen Prozess der individuellen Einflussfaktoren über die Jahre und Jahrzehnte entsteht, die individuellen Ansicht, ist von den tatsächlichen Gegebenheiten und Wahrheiten lichtjahreweit entfernt.

Lohnt es dann, darob zu streiten? Mag sein. Lohnt es dann, darob zu kämpfen, zu verkrüppeln, zu sterben? Wohl kaum.

Vornehmlich die gesellschaftlichen Ansichten, geboren aus ethisch-moralischen Befindlichkeiten, aus politischen „Notwendigkeiten“, aus eigenen und kollektiv-historischen Erfahrungen usw. nicht aber aus Naturgegebenheiten (und schon gar nicht aus belegten) befinden sich nach wie vor im Dunstkreis menschlicher Erkenntnis. Ich nenne ein paar prägnante:

Es gibt keinen Gott.

Die Naturreichtümer der Erde gehören allen Menschen.

Völker bedürfen einer starken Führung.

Kapitalismus ist Ausbeutung.

Die Besitzverhältnisse sind ungerecht verteilt.

Wir brauchen direkte Demokratie und Volksentscheide.

Fleischesser sind Unholde.

Präventivkriege sind gerechte Kriege.

Alles Ansichten. Ich belasse es dabei, könnte jedoch noch Seiten damit füllen. Was bleibt? Wenn Ansichten „nicht vollständig belegte Erkenntnisse“ sind, ist - wie hoch auch immer – stets die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass der Widerpart im Streit um Ansichten der wahren Ansicht ist. Das jedoch kann sich erst im Fortgang der Geschichte herausstellen. Bis dahin soll der verbale Streit, die mit Wort geführte Mehrheitengewinnung, nicht aber der waffentechnische Kampf die Plattform für Auseinandersetzung um Ansichten sein.

Ist meine Ansicht eben.

Glaube & Ansichten – Beiträge zur zeitgenössischen deutschen Geschichte

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