Читать книгу Die Gelegenheit und ihr Dieb - Joachim Grindl - Страница 3

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Das offene Fenster

Chong Ng (gesprochen Inh) flanierte die Orchard Road entlang um ein wenig die Auslagen der verschiedenen Händler zu betrachten und alte Bekannte zu begrüßen. Zumindest hatte man diesen Eindruck, wenn man ihn so gemütlich dahinschlendern sah. Aber er tat niemals etwas nur aus Müßigkeit, oder weil er gerade nichts Besseres vor hatte. Seine wachen Augen ruhten zuweilen auf den oberen Etagen und Dächern der Shophouses. Langsam kam er in die Gegend der reichen Händler für Seide und Luxuswaren, was an der stetig zunehmenden Größe der Häuser und Grundstücke zu erkennen war. Bei den kleinen und mittelgroßen Händlern lagen die Shophouses noch dicht an dicht und unterschieden sich nur durch die Anzahl der Stockwerke, sowie ihre Breite. Bei den reichen Kaufleuten standen die Häuser auf ansehnlichen Grundstücken und hatten vereinzelt zusätzliche Nebengebäude. Es war bereits sechs Uhr und Dunkelheit legte sich langsam über die Straßen Singapurs. Der Abendverkehr setzte ein und die unzähligen Rikschafahrer hatten dadurch immer weniger Mühe an Fahrgäste zu kommen. Chong Ng wechselte die Straßenseite und wich dabei geschickt dem Gewimmel an Menschen und Fahrzeugen aus. Bald kam sein Lieblingsgebäude in Sicht, direkt gegenüber stand ein beliebtes Teehaus, das er nun ansteuerte. An der Balustrade im ersten Stock war ein kleiner Tisch frei, wie für ihn reserviert. Beim eifrig herbeieilenden Kellner bestellte er sich Jasmin Tee und süßes Gebäck. Er grüßte zwei Bekannte, die ihn an ihren Tisch winken wollten, zog es aber vor, alleine zu bleiben. Schon kam der Kellner mit der Bestellung zurück, nahm die Bezahlung, zusammen mit einem großzügigen Trinkgeld, entgegen und zog sich geschwind, unter einigen tiefen Verbeugungen, zurück. Das waren die Momente, die Chong Ng in seinem Leben am meisten genoss. Das laute Treiben vor ihm auf der Strasse, sowie das immer präsente Stimmengewirr des Teehauses störten ihn nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, auch wenn es viele Menschen für unmöglich hielten, dies waren genau die Voraussetzungen, die er brauchte, um sich in totaler Konzentration seinen Beobachtungen und Gedanken hinzugeben. Es war, als würde er in dieses Meer von Geräuschen eintauchen und wie unter Wasser, alles um sich herum nur noch als dumpfe, undeutliche Laute wahrnehmen.

Langsam in seinem, immer noch zu heißen, Jasmin Tee rührend, ließ er den Blick über das gegenüberliegende Gebäude streifen. Es gehörte dem wahrscheinlich reichsten Händler Singapurs und war dementsprechend prächtig. Vier Stockwerke hoch, mit einem Dach chinesischer Bauart, geschwungen und ausladend, gedeckt mit roten Ziegeln und Drachenköpfen an den Ecken der Dachfirste. Die Holzbalken glänzten immer wie frisch poliert und die Innenausstattung war exquisit. Ein kaum hörbarer Seufzer entfuhr ihm. Sein Traum war es, einmal in dieses Haus einzusteigen und den prall gefüllten Safe um seinen Inhalt zu erleichtern. Danach bräuchte er sich nie wieder die Hände schmutzig machen. Mit dem Ertrag aus dieser Beute, sowie allem, was er bisher bereits zusammengetragen und gespart hatte, konnte er sein restliches Leben in Luxus schwelgen und wahrscheinlich noch eine Generation nach ihm. Nur hatte er bisher noch nie eine Schwäche entdecken können, die es ihm möglich gemacht hätte unentdeckt in das Haus einzudringen. Des Nachts wurden alle Fensterläden geschlossen und von innen verriegelt, das Grundstück von zwei Angestellten bewacht. Die verriegelten Fensterläden für sich genommen, stellten natürlich kein Problem für ihn dar. Auch die Bewachung störte ihn nicht besonders. Das Haus stand jedoch recht exponiert und die Orchard Road war, wegen ihrer großen Bedeutung, eine der wenigen Strassen, die bereits mit Gasbeleuchtung ausgestattet war. Das Grundstück selber wurde noch einmal zusätzlich von zwei Gaslaternen erhellt. Die Verriegelung der Fensterläden war keine einfache, wie normalerweise üblich, sondern doppelt und ein wenig komplexer. Das hatte er bereits bei einem Besuch des Shophouses, jedoch zur normalen Ladenöffnungszeit, herausgefunden und sich die extravagante Doppelverriegelung für seinen eigenen Laden erworben, um daran zu trainieren. Mittlerweile konnte er sie auch beinahe mühelos von außen öffnen, jedoch nahm es eine gewisse Zeit in Anspruch und genau da lag das Problem, die hatte er nicht. Wenn die Wachen auch nur ein bisschen was taugten und davon war in diesem Fall auszugehen, war das Risiko entdeckt zu werden, einfach zu hoch.

Das Geheimnis seines bisherigen Erfolgs war, unter anderem, die große Vorsicht, die er bei allen seinen Raubzügen an den Tag legte. Er arbeitete stets allein und legte größten Wert auf exakte Planung und die Vermeidung von unnötigen Risiken. Wenn er einen Einbruch durchführte, dann in der Regel erst nach einigen Wochen eingehender Recherche und Auskundschaftung vor Ort. Darum war er noch nie erwischt worden und konnte seine wahre Leidenschaft hinter der Existenz eines, wenn auch recht ungewöhnlichen, Händlers verbergen. Er musste zwar zugeben, dass er mit einem Partner weitaus größere Erfolge würde erzielen können, jedoch stets der Gefahr ausgesetzt wäre, dass der Andere ihn hinterging. In dieser Branche war naturgemäß niemandem zu trauen. Außerdem hatte er extrem hohe Ansprüche, was Intelligenz und Geschicklichkeit eines möglichen Kompagnons betraf. Bisher war ihm noch niemand begegnet, der diese Bedingungen auch nur annähernd erfüllte. In seinem offiziellen Beruf als Händler hatte er sich auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert. Er besorgte Waren aller Art für seine Berufskollegen, wenn diese mal in Lieferschwierigkeiten kamen. Bevor sie eine Konventionalstrafe riskierten, oder was noch viel schlimmer war, in den Ruf gerieten ihre Abschlüsse als Kaufleute nicht einhalten zu können, weil sie sich bei der Größe eines Auftrages verschätzt hatten, oder wiederum ihr eigener Zulieferer in Schwierigkeiten war, kam er ins Spiel. Chong Ng besorgte die Ware, was es auch sei, pünktlich und zuverlässig, natürlich mit einem gepfefferten Preisaufschlag. Alles Zetern und Schreien des verzweifelten Kaufmanns half nichts, das meiste davon war eh nur aufgesetzt. Er musste schließlich auch seine eignen, nicht gerade geringen, Auslagen decken. Niemand fragte jemals nach, woher er die Ware bezog, es war besser, es nicht zu wissen.

So war er denn auch kein besonders angesehener aber nichtsdestotrotz ein gern gesehener Mann, denn fast jeder geriet irgendwann einmal in Lieferschwierigkeiten und da war es immer von Vorteil, gute Beziehungen zu ihm zu pflegen. Außerdem schröpfte er seine Kundschaft nie über Gebühr, da er eher an langfristigen Geschäftsbeziehungen interessiert war, als an schnellem Gewinn. Teils kaufte er die Waren direkt am Hafen von den Kapitänen der Handelsschiffe. Manchmal löste er Gefallen ein, oder bezog das Gesuchte von Hehlern, wobei er immer nur mit denselben zusammen arbeitete. Personen, die wie er hinter der Fassade einer gutbürgerlichen Existenz ihr illegales Geschäft betrieben, zu gewieft um je erwischt zu werden. Zwei Dinge vermied er allerdings tunlichst: direkt von Dieben zu kaufen, sowie direkte Kontakte zu den Triaden. Die ließen einen nie mehr in Ruhe, wenn man sich einmal mit ihnen eingelassen hatte und verlangten fortan immer ihren Anteil.

Langsam wurde es Zeit zu gehen, er wollte sich nicht zu lange in dem Teehaus aufhalten. Noch ein letztes Mal blickte er sehnsüchtig zu dem Prachtbau auf der anderen Straßenseite und wollte sich gerade erheben, als ihm etwas auffiel. Alle Fensterläden in den oberen Stockwerken waren bereits geschlossen, bis auf eines. Es war in dem schwachen, flackernden Licht der Gaslaternen kaum auszumachen, doch sein geübtes Auge erkannte im vierten Stock an der Nordostseite eine leichte Öffnung des letzten Fensters. Er sah kurz weg um nicht aufzufallen und vergewisserte sich dann nochmals für eine Sekunde beim Aufstehen. Tatsächlich, da war ein Spalt! Konnte das möglich sein, hatte er wirklich die Schwachstelle gefunden, nach der er so lange suchte? Äußerlich ruhig, verließ er das Teehaus mit klopfendem Herzen. So eine Gelegenheit bekam er nie wieder. Aber es bestand immer noch die Möglichkeit, dass der Fehler entdeckt und korrigiert wurde. Er würde sich zu später Stunde noch einmal vergewissern. Dies versprach eine aufregende Nacht zu werden, vielleicht die aufregendste seines bisherigen Lebens.

Unten an der Straße angekommen, wandte er sich nach links und steuerte eine senkrecht auf die Orchard Road zulaufende Seitenstraße an. Jetzt nach einem Rikschafahrer zu winken, machte wenig Sinn, da inzwischen die Nachfrage das Angebot bei weitem überstieg und der Verkehr nur noch zähflüssig vorankam. Chong Ng zog es vor, zu Fuß nach Hause zurückzukehren. Er wollte aber erst noch kurz bei seinem Laden vorbeisehen, ob vielleicht ein neuer Auftrag eingegangen war. Im leichten Laufschritt bewegte er sich durch die Straßen. Für einen Mann seines Standes nicht unbedingt ziemlich, doch das war ihm egal, denn so brauchte er nur ca. 15 Minuten bis zu seinem Ziel. Nur niedere Angestellte, Dienstboten und einfache Arbeiter liefen. Wer etwas auf sich hielt, fuhr mit der Rikscha oder bewegte sich zumindest gemessenen Schrittes, in würdevoller Haltung, durch die Gegend. Die wirklich reichen Leute ließen sich in einer Sänfte tragen, mit vorauseilenden Dienern, die den Weg frei machten und des Nächtens mit Laternen für ausreichend Helligkeit sorgten. Nicht das noch einer der Sänftenträger über irgendwelchen Unrat auf der Straße stolperte und das Gleichgewicht verlor. Eine auf dem Pflaster entlangschrammende Sänftenecke, oder gar ein dadurch verursachtes Herauspurzeln ihres wertvollen Inhalts, würde für einen spontanen Heiterkeitsausbruch der Umstehenden sorgen, mit der Folge des Gesichtsverlusts für den verbeulten Passagier.

Mit solcherlei Problemen musste sich Chong Ng Gott sei Dank nicht herumschlagen, oder zumindest noch nicht. Bei seinem Laden angekommen entriegelte er die Tür und schob sie auf. Er blickte kurz auf den Boden, zwei Zettel lagen dort. Er hob sie auf und überflog die Zeilen. Das silbrige Licht des Halbmondes reichte dazu gerade aus. Zwei Aufträge, nicht besonders schwer zu erledigen. Darum würde er sich morgen früh kümmern. Chong Ng verfügte nicht über eigene Angestellte. Da er keine regelmäßige Laufkundschaft hatte, würde sich das bei ihm nicht lohnen. Wenn er nicht anwesend war, schoben seine Auftraggeber einfach Zettel mit entsprechenden Anweisungen durch einen Türschlitz. Für den Warentransport hatte er eine kleine Auswahl an Tagelöhnern zur Hand, die er kurzfristig anheuern konnte. Alles fleißige, zuverlässige Leute, die er immer gut bezahlte. Sein Shophouse bestand aus Erdgeschoß und Obergeschoß. Da er manchmal kurzzeitig beide Räume zur Zwischenlagerung brauchte, wohnte er hier nicht. Nur eine Schlafpritsche und eine kleine Kochstelle in der Nähe des Eingangs ließen darauf schließen, dass er hier manchmal die Nacht zubrachte. Ab und an kam es vor, dass er eine wertvolle Ladung erst am nächsten Tag ausliefern konnte, dann kümmerte er sich persönlich um die Bewachung. Da es hier weiter nichts zu tun gab, verschloss er die Tür und machte sich auf den Heimweg.

Sein Wohnhaus lag nur etwa 10 Minuten entfernt, wenn man eine zügige Gangart vorlegte. Außer ihm lebte noch seine Großmutter Kee Hong dort. Der Rest seiner Familie war entweder verstorben, oder über die Welt verstreut. Eine Tante in Shanghai, zusammen mit seiner jüngeren Schwester, ein Onkel in San Francisco, mit seinen Cousinen und seinem kleinen Bruder, sowie einige Cousins in New York. Im Haushalt eines Händlers wohnten normalerweise einige Diener, Köche und Dienstboten. Kee Hong bestand jedoch darauf, dass Geld hierfür lieber zu sparen und alle notwendig anfallenden Arbeiten selber zu erledigen. Sie war zwar schon etwas betagt, aber immer noch sehr rüstig und verfügte über einen äußerst scharfen Verstand. Der Zustand des Hauses gab ihr absolut recht. Alles war sauber und gepflegt, die reichlichen Speisen, die sie jeden Abend auftischte, schmeckten köstlich und jeden morgen lag die frische Wäsche, fein säuberlich gefaltet, neben seinem Bett. Er musste, nein durfte, ihr nie auch nur einen Handschlag helfen. Dennoch wollte Chong Ng es ihr zumindest ein wenig einfacher machen, aber jedes Mal, wenn er davon begann nun endlich eine Dienerin einstellen zu wollen, fiel ihm seine Großmutter ins Wort, ob er sie denn jetzt schon ins Grab bringen wolle. An dem Tag, an dem er sie nicht mehr brauche, würde auch ihr Lebenswille schwinden. Dies brachte ihn regelmäßig zum sofortigen verstummen, was Kee Hong nur allzu genau wusste, standen sie sich doch beide sehr nahe. Seine Großmutter hatte ihn praktisch, nach dem frühen Tod seiner Mutter, aufgezogen und er mochte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

An Heirat hatte er bisher noch keinen Gedanken verschwendet. Frauen waren doch meistens recht neugierige Wesen und so etwas konnte er sich in seiner Situation nicht leisten. Seine Großmutter wusste zwar grundsätzlich über sein Doppelleben bescheid, aber er erzählte ihr nie irgendwelche Details. Je weniger sie wusste, da waren sie sich beide einig, desto besser. Insgeheim hatte er auch Angst, dass sich bei zwei Frauen im Haushalt, welche sich beide den Rang streitig machten, ein gewisses Aggressionspotential entwickeln könnte, was sich wiederum äußerst negativ auf die von ihm so sehr geschätzte harmonische Atmosphäre auswirken würde. Anders ausgedrückt, wer geht schon gerne heim, mit dem Bild zwei sich ankeifender Drachen vor Augen. Seine Pritsche im Laden, als Alternative, war ihm auf Dauer dann doch ein wenig zu hart. Nein, er würde zumindest so lange warten, bis er genug zusammen hatte, um seine Karriere als Einbrecher an den Nagel zu hängen. Dann würde er sich ein größeres Haus leisten, das selbst für Kee Hong nicht mehr alleine zu pflegen wäre. So groß, dass man sich ohne Mühe aus dem Wege gehen konnte und jede der Damen mit ihrem eigenen Verantwortungsbereich versehen. Nicht das er schon eine bestimmte Frau im Auge hatte, auch hier waren seine Ansprüche so groß, dass ihm noch keine geeignete Kandidatin begegnet war. Wenn ihn mal ein gewisses Verlangen überkam, gab es genügend Orte in der Stadt, wo einem alle Wünsche erfüllt wurden. Er ging jedoch nie zweimal hintereinander in dasselbe Etablissement. Der Inhaber konnte sonst fälschlicherweise der Annahme verfallen, er wäre einer bestimmten Dame besonders zugetan, was sich bei der Preisverhandlung dann deutlich zu seinen Ungunsten auswirken würde. Er hatte zwar durchaus die eine oder andere Favoritin, aber das musste dort ja niemand mitbekommen. Viele Männer, selbst ansonsten hart gesottene Geschäftsleute, waren diesbezüglich äußerst naiv und wurden dementsprechend ausgenommen. Da blieb er lieber indifferent und überließ die Wahl auch ab und an mal dem Zufall.

Daheim angekommen, zog er sich im Eingangsbereich die Schuhe aus und schlüpfte in seine angenehmen Hauspantoffeln. „Chong, bist Du’s?“, rief seine Großmutter aus der Küche. Ihre Stimme klang weder zittrig noch alt, sie hatte einen klaren, fast jugendlichen Tonfall. Das Haus war eingeschossig und hufeisenförmig angelegt, in der Mitte der Eingangsbereich und Salon, auf der Ostseite die Küche, der Wasch- und Hygienebereich, sowie die leer stehenden Räume für die Dienerschaft. Auf der Westseite die Aufenthalts- und Schlafräume von Kee Hong und Chong Ng. In der Mitte war ein kleiner Garten mit einem Fischteich angelegt, begrenzt von einer Mauer, welche das Hufeisen abschloss. Obwohl er bei der Heimkehr nie ein vernehmbares Geräusch machte und auch sonst keinen Laut von sich gab, wusste seine Großmutter stets bescheid, dass er wieder zu Hause war, als könne sie seine Anwesenheit spüren. „Ja, ich bin zurück“, gab er zur Antwort. Er gesellte sich zu ihr in die Küche, sog den Duft der verschiedenen Speisen ein und versuchte den Deckel einer der dampfenden Töpfe ein wenig zu liften. „Autsch!“, entfuhr es ihm. Aber nicht etwa die Berührung des heißen Deckelgriffs ließ ihn schmerzhaft zusammenfahren. Es war der unsanfte Klaps, den seine Großmutter ihm mit den Chopsticks auf seinen Handrücken versetzte. „Finger weg! Das man dir das in deinem Alter immer noch sagen muss“, schimpfte sie. „Ich teste nur Deine Reflexe, Großmütterchen.“ „Na, für Dich reicht es immer noch“, gab sie schlagfertig zurück. „Was hast du dir denn heute feines einfallen lassen?“ „Das wirst Du noch früh genug sehen. Jetzt wasch Dich erst mal und zünde die Lampen im Salon an.“ Er genoss diese kleinen Neckereien vor dem Essen, es war wie eine liebe Gewohnheit, die er nicht missen wollte. Nachdem er gehorsam Kee Hongs Aufträge erledigt hatte, wartete er am Tisch im Salon, bis sie auf einem großen Tablett die dampfenden Speisen herein trug. Sie setzte das schwere Tablett am Tischrand ab und schob es in dessen Mitte. Dann nahm sie die Deckel von den kleinen Tiegeln und Schalen und setze sich. Es gab seine geliebte Won Ton Suppe, kurz gebratenes rotes Schweinefleisch, verschiedene Gemüse und natürlich Reis. Ein leises Klirren war zu vernehmen, als sich beide ihre Schalen füllten und dabei mit den Essstäbchen ans Porzellan stießen. „Heute Nacht muss ich noch mal aus dem Haus“, gab Chong Ng kauend von sich. „Ist recht.“ Seine Großmutter betrachtete ihn kurz aus den Augenwinkeln. Sie erwartete keine weiteren Ausführungen. Ihr war klar, dass es sich um keinen Nachtspaziergang handelte, deshalb machte sie sich jedes Mal ein wenig sorgen, auch wenn sie das ihm gegenüber niemals zugeben würde. Ihre gemeinsamen Abendessen verliefen meist recht schweigsam, sie brauchten sich nicht viel zu sagen, ein jeder genoss die Anwesenheit des Anderen.

Nach dem Essen begab sich Chong Ng in seine Räume und bereitete alles für das nächtliche Unterfangen vor. Dann legte er sich hin, entspannte sich und programmierte seinen Körper zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Wenn er Kee Hong sagte, dass er nachts noch etwas vorhatte, störte sie ihn nicht mehr. Er hatte dieses Ritual schon viele Male vollzogen, aber heute viel es ihm ein wenig schwerer als sonst einzuschlafen. Schon vor Jahren hatte er sich selbst die Fähigkeit antrainiert, im Traum bereits alle Abläufe vorab durchzuspielen, wie bei einer Probe vor dem großen Auftritt. Genau zur richtigen Zeit öffnete er die Augen, und war sofort hellwach. Er zog seine Beinkleider und Jacke aus mitternachtsblauer Seide an. Eine Maske aus demselben Material, sowie einen großen zusammengefalteten Beutel schob er in seine Innentasche. Einen Gürtel mit Werkzeugen und anderen zweckdienlichen Utensilien, band er sich unter der Jacke um den Bauch. Alle Bewegungen verrichtete er im Dunkeln, die Lage der Gegenstände und Sachen, sowie alle nötigen Handgriffe, kannte er auswendig. Es war ungefähr halb zwei Uhr nachts, als Chong Ng lautlos das Haus verließ, nicht ahnend, dass seine Großmutter noch wach im Bett lag, beunruhigt durch eine böse Vorahnung.

Die Straßen waren um diese Zeit menschenleer, alle waren daran gewöhnt, früh aufzustehen und begaben sich deshalb entsprechend zeitig zu Bett. Chong Ng bewegte sich schnell und zielsicher durch die Viertel. Aus Erfahrung wusste er, dass um zwei Uhr nachts die Müdigkeit der Wachen und damit auch ihre Unaufmerksamkeit, am Größten waren. Kurz vor diesem Zeitpunkt erreichte er die Orchard Road, ungefähr auf der Höhe des Tee Hauses. Dort war alles ruhig und dunkel. Die Gaslaternen warfen ihren flackernden Lichtschein auf die Strasse und ließen seinen Schatten einen bizarren Tanz vollführen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schien auch alles ruhig zu sein. Er spähte noch einmal zu besagtem Fenster und kniff dabei die Augen leicht zusammen. Der Spalt schien tatsächlich noch da zu sein. Um ganz sicher zu gehen, musste er sich die Lage vor Ort ansehen. Von der Straßenseite her war ein Eindringen auf das Grundstück zu riskant. Er wollte es von der Rückseite versuchen. Die Lage hatte Chong Ng schon vor langer Zeit ausgekundschaftet. Das entsprechend angrenzende Haus war unbewacht und die Strasse davor ohne Beleuchtung. Die Mauer, die beide Grundstücke voneinander trennte, war auch nicht allzu hoch. Er lief die Orchard Road noch ein wenig hinunter, bis zur nächsten gegenüberliegenden Seitenstrasse und überquerte sie dann erst. Danach ging er im Karret bis er am Ziel war. Er vergewisserte sich noch mal kurz, dass niemand zu sehen war, holte seine Maske aus der Innentasche und band sie sich um. Dann sprang er auf die mannshohe Mauer, zog sich in einer fließenden Bewegung nach oben und glitt auf der anderen Seite lautlos herunter. Das Grundstück durchmaß er mit eiligen Schritten. Das darauf befindliche Haus war unbeleuchtet, kein Lauf war zu hören. Schon hatte Chong Ng die Trennmauer erreicht. Er überwand sie genauso geschickt, wie das erste Hindernis. Ab jetzt galt es äußerst vorsichtig zu agieren. Auf dem Grundstück standen ein paar Büsche und Bäume, die ihm Schutz boten. Langsam und vorsichtig schlich er sich an das Haus heran. Etwas entfernt waren Stimmen zu hören. Im Wachhäuschen brannte Licht. Wie erwartet, waren die beiden Wächter nicht mehr ganz so munter und hatten beschlossen sich einen starken, grünen Tee zu brauen. Der eine hantierte gerade im Wachhäuschen, während der andere eigentlich ein waches Auge auf die Umgebung haben sollte. Er zog es aber vor ein kleines Schwätzchen mit seinem Kollegen zu halten. Umso besser für Chong Ng. Er erhob sich aus der Hocke hinter einem Busch, lief zur Hauswand hinüber und kletterte geschmeidig an der Fassade empor. Er hatte einen durchtrainierten, sehnigen Körper und kam schnell voran, ohne außer Atem zu geraten. Im vierten Stockwerk angekommen, blickte er nach unten. Die beiden Wachen hatten sich auf einen Hocker gesetzt und schlürften ihren Tee. Er befand sich außerhalb ihres Sichtfeldes und wenn er hier keinen allzu großen Lärm veranstaltete, würden sie niemals nach oben in seine Richtung blicken.

Auf einem eingelassenen Querbalken balancierte er auf Zehenspitzen entlang bis zum äußersten Fenster. Der Spalt war nur wenige Zentimeter breit. Mit der einen Hand hielt er sich am Sims fest, mit der anderen zog er ein kleines Fläschchen Öl aus seinem Gürtel. Fehlte gerade noch, dass die Scharniere des Fensterladens knarrten, so kurz vor dem Ziel. Er goss jeweils einen Tropfen auf das obere und untere Scharnier und ließ das Ölfläschchen dann wieder in seinem Gürtel verschwinden. Es war soweit, er stand kurz davor, seinen lang ersehnten Traum zu verwirklichen. Chong Ng zögerte kurz, eine leise Stimme in seinem Hinterkopf wisperte ihm die Warnung zu, dass dies alles viel zu leicht ging. Aber er beschloss sie zu ignorieren, diese Gelegenheit war einmalig und schließlich konnte auch in so einem Haus jemandem mal ein kleiner Fehler unterlaufen. Mit zwei Fingern zog er am Fensterladen und schwang ihn auf. Dann stemmte er sich hoch, stützte sich mit den Knien kurz auf dem Sims ab und war eine Sekunde später im Haus. Sofort schloss er den Fensterladen. Aus seinem Gürtel zog er ein etwa handflächengroßes Utensil, dessen Verwendungszweck auf den ersten Blick nicht erkennbar war. Ein kleiner metallener Ölbehälter mit einem Docht und einem kleinen Justierrädchen zum herauf- und herunterdrehen desselben. Auf der Oberseite befand sich, ganz nahe am Docht, eine kleine aufgeraute Walze, sowie eine Halterung mit einem winzigen Feuerstein. Der Docht führte in einen dünnen, nach einigen Zentimetern im 90 Grad Winkel gebogenen, Metallzylinder. Dieser hatte, auf der Höhe der Krümmung, an der geschlossenen Seite einen kleinen Hohlspiegel, sowie an der Oberseite der gekrümmten Hälfte ein paar Luftschlitze eingestanzt. Über den kleinen Luftschlitzen war, in einem Winkel von etwa 45 Grad, nochmals ein abgerundeter, metallener Hohlspiegel mit dem Zylinder verbunden. Es war seine eigene Erfindung und er hatte sie selber zusammengebaut. Zweck der Konstruktion war es, den Lichtschein der Flamme abzuschirmen und nur in eine bestimmte Richtung zu lenken, also einen Lichtstrahl zu erzeugen. Die kleine Walze war auch zur Hälfte vom Zylinder abgedeckt. Wenn man sie schnell drehte, rief die Reibung am Feuerstein einen Funken hervor, der den ölgetränkten Docht entzündete. Nach einigen Versuchen gelang es Chong Ng und eine kleine Flamme schoss den Metallzylinder empor. Über das kleine Rädchen justierte er die Länge des Dochtes und damit die Größe der Flamme. Der stockfinstere Raum erhellte sich nur ein klein wenig und ein dünner Lichtfinger durchschnitt die Dunkelheit, wo immer er die Öffnung des Zylinders mit seiner Hand hinlenkte. Der Raum war nicht besonders groß und diente wohl als Archiv für Rechnungen, Aufträge und Bestellungen. An den Wänden und im Raum verteilt befanden sich hohe Regale, gefüllt mit Papierstapeln und Schriftrollen. Seiner Meinung nach müsste sich der Safe in irgendeinem Raum hier auf diesem Stockwerk befinden. Er glitt zwischen den Regalen hindurch zur Tür und öffnete sie. Er musste nicht damit rechnen, hier irgendjemandem zu begegnen, denn die Kaufmannsfamilie residierte in einem luxuriösen Anwesen in der Scotts Road. Entsprechend sorglos konnte er sich durch die Zimmer und Flure bewegen. Im ersten und zweiten Stock wurden die Waren ausgestellt. Der dritte Stock diente als Lager und der vierte war für die Administration bestimmt. Der Safe war praktischerweise bei den Buchhaltern untergebracht, manchmal aber auch im Büro des Kaufmanns selbst. Er wandte sich zunächst nach rechts, im ersten oder zweiten Raum nach dem Archiv sollte die Buchhaltung untergebracht sein. Bei der zweiten Tür hatte er Glück. Im Zimmer verteilt standen mehrere Stehpulte, mit dicken Folianten darauf, dazu auf der flachen Oberkante Tintenfässchen, sowie Kalligraphie Pinsel. Er durchschritt den Raum bis zur Mitte und leuchtete mit seiner Richtstrahllampe, wie er das umgebaute Taschenfeuerzeug nannte, in alle Ecken. Es war kein Safe zu entdecken. Nun gut, blieb noch das Kaufmannsbüro. Das sollte ein zentrales, großzügig angelegtes Office an der Nordseite sein. Er ging zurück auf den Flur und wandte sich nach links. Am Ende des Ganges angekommen, bog er nach rechts um die Ecke. In der Mitte des Gebäudes war das Treppenhaus angelegt. Jetzt stand Chong Ng ungefähr im Zentrum, ihm gegenüber eine große, zweiflügelige Tür mit Rundbogen. Die nächsten beiden Türen, rechts und links davon, lagen jeweils einige Meter entfernt. Das musste es sein. Er drückte die Türklinke hinunter und trat ein. Der Raum war deutlich größer, als die anderen zuvor. Aber irgendetwas hier war anders. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Er hob die Hand mit seiner Lampe, wobei der wandernde Lichtstrahl kurz die Umrisse einer Gestalt streifte. Er war wie erstarrt. „Eine Falle!“, schoss es ihm durch den Kopf. Nur einen Augenblick später wurden mehrere große Öllampen entzündet, die den Raum beinahe taghell erleuchteten. Chong Ng war für einige Sekunden wie geblendet.

Die Gelegenheit und ihr Dieb

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