Читать книгу Die Gelegenheit und ihr Dieb - Joachim Grindl - Страница 5

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Geschäfte

Die schwere Eichentür war noch nicht wieder ganz geschlossen, als seine männlichen Nachkommen Sim Lim bestürmten. „Dieser ungehobelte, arrogante Mensch, wie kann er es wagen, so mit dir zu reden, Vater! Du kannst nicht im Ernst mit ihm zusammen arbeiten wollen“, beschwor ihn sein erster Sohn. „Bitte, wenn einer von Euch gerne den Job übernehmen möchte, hat er jetzt die Gelegenheit, sich freiwillig zu melden“, erwiderte dieser trocken. Das brachte die Schar kurze Zeit zum verstummen, doch dann ging es wieder los mit dem Gezeter, sogar noch schlimmer als zuvor, denn jetzt redeten alle wild durcheinander. Sim Lim hob die Hand und sofort kehrte wieder Ruhe ein. „Siu Li, was hältst du von ihm?“, fragte er. „Ich denke, er ist der Richtige für diese Aufgabe und außerdem haben wir, in Anbetracht der Zeitumstände, gar keine andere Wahl“, gab sie zur Antwort. „Ja, natürlich stimmst du für ihn, es war ja auch Dein Vorschlag, ihn an Bord zu holen und deine Idee mit der Falle. Jetzt haben wir alle erlebt, was für ein dreister Kerl das ist. Nur in einem Punkt stimme ich mit Chong Ng überein, für eine Frau ist das wirklich nichts. Ich habe auch noch immer nicht verstanden, was du überhaupt in unserem Familienrat zu suchen hast. Du solltest Dich lieber darum kümmern, eine gute Partie zu finden. Bald wird dich keiner mehr haben wollen!“ Das war Siu Li’s Cousin Wok, ein ehrgeiziger Streber und ihr ärgster Feind im Familienrat. Ein plötzlicher Knall ließ alle zusammenfahren. Sim Lim hatte mit der flachen Hand auf die polierte Edelholztischplatte geschlagen. „Genug! Siu Li ist im Familienrat, weil ich sie reingeholt habe, damit das ein für allemal klar ist. Von ihr kommen jedenfalls konstruktive Vorschläge, von Euch anderen höre ich immer nur Kritik. Wenn irgendjemand einen besseren Einfall hat, würde ich mich sehr freuen ihn jetzt zu hören.“ Nach Sim Lim’s Zornesausbruch herrschte absolute Stille im Raum. „Meldet sich jemand zu Wort?“, fragte er noch mal. Keine Stimme erhob sich. „Dachte ich’s mir“, sagte er resigniert. „Dann ist das also jetzt beschlossene Sache und ich will keinerlei Beschwerden mehr darüber hören! Lasst uns jetzt aufbrechen und nach Hause gehen, viel Schlaf werden wir eh nicht mehr bekommen“, damit beendete der Vorsitzende die Sitzung des Familienrats und erhob sich. Die Gruppe löste sich auf und alle begaben sich nach draußen zur Orchard Road. Dort wartete bereits Sim Lim’s Sänfte. Er kletterte hinein und ließ sich auf die seidenbezogenen Kissen fallen. Ein Diener schloss von außen die Vorhänge. Im Inneren der Sänfte baumelte von der Decke eine Halteschlaufe herab, die das Klanoberhaupt ergriff und das Signal zum Aufbruch gab, indem er mit der freien Hand an die Seitenwand klopfte. Sofort reagierten die Träger und hoben die Sänfte gleichzeitig an. Zwei Diener mit Laternen liefen voraus und die Träger trabten im Gleichschritt hinterher. Sim Lim lehnte sich an die gepolsterte Rückwand und ließ die letzten Geschehnisse der Nacht Revue passieren. Dieser Chong Ng war wirklich ein Original. Ein wenig impertinent aber durchaus witzig. Und er war offensichtlich Gebildeter, als Sim Lim angenommen hatte. Irgendwie mochte er diesen Kerl, er nahm kein Blatt vor den Mund und das gefiel ihm. Sein kleiner verbaler Schlagabtausch mit Chong Ng hatte ihn richtig erfrischt. In Anbetracht der frühen Stunde hätte er eigentlich ziemlich müde sein müssen, er fühlte sich jedoch noch recht munter und auf angenehme Weise erregt. Wenn einer seiner Nachkommen nur ein bisschen so wäre, wie dieser dreiste Einbrecher, aber er war nur von Jasagern und Speichelleckern umgeben. Einzig seine Enkelin Siu Li bildete eine erfreuliche Ausnahme. Sie war die älteste Tochter seines zweiten Sohnes Song. Dieser hatte schon von frühester Jugend an große Eigenständigkeit und einen äußerst geschickten Umgang mit Zahlen bewiesen. Deshalb hatte er ihm auch die Leitung seiner Geschäfte in Hong Kong anvertraut. Manchmal fehlte er ihm hier, gerade in diesen Zeiten könnte er Song gut gebrauchen. Der zweite Sohn war der einzige, der ihm zumindest hin und wieder Kontra bot und seine Meinung sagte. Dessen Tochter Siu Li schien da ganz nach ihm zu geraten. Aber als Frau würde sie es, in einer von Männern bestimmten Gesellschaft, immer schwer haben. Sie wurde im Familienrat nur geduldet, aber nicht respektiert. Alle männlichen Nachkommen erhielten eine hervorragende Ausbildung von Privatlehrern. Sie waren alle nicht dumm, aber es mangelte ihnen an Kreativität und Einfallsreichtum. Vielleicht ging er auch zu hart mit ihnen ins Gericht, es waren gute Söhne, die ihren Vater respektierten und ehrten, so wie es die Lebensphilosophie des K’ung-fu-tzu vorschrieb. Möglicherweise hatten sie davon aber auch ein wenig zu viel abbekommen. Er brauchte nun mal ab und zu Reibung und Opposition, denn auch seine Entscheidungen waren nicht immer optimal, da war es wichtig verschiedene Möglichkeiten auszudiskutieren. Seine Söhne mussten sich nie wirklich anstrengen, in einer reichen Kaufmannsfamilie aufwachsend, war ihnen immer alles zugefallen. Vielleicht lag es ja gerade daran, dass er nicht mehr von ihnen erwarten durfte, es war ihnen immer zu leicht gemacht worden. „Not macht erfinderisch“, heißt es in einem Sprichwort, aber Not hatten seine Söhne niemals erfahren müssen.

Alle weiblichen Nachkommen erhielten eine gute Grundausbildung und wurden dann, möglichst „gewinnbringend“ für die Familie, verheiratet. Song hatte allerdings bei Siu Li eine Ausnahme gemacht. Schon früh erkannte er ihre Intelligenz und ihren unbedingten Ehrgeiz, immer die Beste zu sein. Also entschied er sich in ihrem Fall für eine umfangreiche Ausbildung, sowohl geistiger, als auch körperlicher Art. Sie erhielt den gleichen Unterricht von Privatlehrern wie seine Söhne und darüber hinaus noch Unterweisungen von einem Wu Shu Meister. Als er davon erfuhr, war er ziemlich wütend. Aber heute musste sich Sim Lim eingestehen, dass es eine hervorragende Idee gewesen war und sich sein Sohn diesbezüglich Gott sei Dank gegen ihn durchgesetzt hatte. Leider war Song in letzter Zeit sehr kränklich und er selbst würde auch nicht ewig leben. Irgendwann musste er seinen Nachfolger bestimmen. Die Konkurrenz schlief nicht und er machte sich ernsthafte Sorgen um das Fortbestehen des Unternehmens. Wochenlang marterte er sein Hirn, was er tun könne, schlief kaum noch und aß wenig, bis ihm, wie der Blitz aus heiterem Himmel, die Lösung einfiel. Mit der Information aus dem Brief, den Chong Ng besorgen sollte, konnte er soviel Reichtum und Macht ansammeln, dass das Familienunternehmen die nächsten hundert Jahre, ohne Schaden zu nehmen, auch von Affen geleitet werden konnte. Sim Lim schob den Vorhang ein wenig zur Seite und riskierte einen Blick nach draußen. Sie waren schon in der Scotts Road, bald würden sie das Anwesen erreichen. Er rief einen der Diener zu sich und trug ihm auf, voraus zu eilen, um seine Lieblingskonkubine zu wecken. Wenn er jetzt zu Bett ging, würde er den Rest der Nacht eh wach liegen, also warum die Zeit nicht gleich etwas angenehmer verbringen. Zu Hause angekommen, begab er sich umgehend in seine Räumlichkeiten. Kurz darauf erschien, hastig angekleidet und kaum geschminkt, besagte Konkubine. Noch ganz schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Diese Geste würde sie während der nächsten paar Stunden noch des Öfteren vollführen, allerdings aus ganz anderen Gründen. Sim Lim hatte seine alte Vitalität wiedergewonnen.

Siu Li verließ das Haus mit gemischten Gefühlen. Mit diesem Mann sollte sie also zusammenarbeiten. Offen gestanden war sie anfangs sogar ein wenig beeindruckt von seinem unerschrockenen Auftreten ihrem Großvater gegenüber. Das hatte sich allerdings geändert nach Chong Ng’s heftigem Ausbruch, als er erfuhr, er solle mit einer Frau als Partner arbeiten. Er war also keinen Deut besser, als all die anderen Männer, denen sie bisher begegnete. Und dann musste ausgerechnet ihr Cousin Wok, dieser nichtsnutzige Möchtegern, auch noch sein großes Maul aufreißen. Der sah sich, als erster Sohn des ersten Sohnes, schon auf dem Chefsessel. Seinen, derzeit noch höher gestellten Verwandten gegenüber verhielt er sich stets höflich und ehrerbietig, fast schon kriecherisch. Nur wenn er die Chance sah, auf einen schwächeren einzuhacken, nutzte er sie weidlich, um sich selber dabei zu profilieren. Hatte er sachlich nichts zu kritisieren, was eh meist der Fall war, wechselte er auf die persönliche Ebene, wie bei ihr mit der Heirat. Aber heute ging der Schuss nach hinten los. Sie konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als ihr Großvater sie lobte und die anderen zusammenstauchte. Auch sie befand sich in einer Sänfte auf dem Weg zum Familienanwesen in der Scotts Road. Dort wohnte außerdem noch Chu, der Vater von Wok, mit ihren noch unverheirateten Cousins und Cousinen. Dazu kamen noch ein paar Nachzügler, Onkel und Tanten, die weit jünger waren als Siu Li, da ihr Großvater, trotz seines Alters, immer noch recht aktiv war. Gott sei Dank begegnete sie Wok nicht allzu oft. Zum einen war das Haus so groß, dass man sich locker aus dem Wege gehen konnte, und zum anderen war Wok mit der Aufsicht der Liegenschaften der Familie betraut, diverse Obstplantagen, sowie Gemüse- und Reisfarmen auf den umliegenden Inseln Singapurs, die er entsprechend oft aufsuchen musste. Außerdem hatte sich noch gehört, dass Wok auch für ein paar kleinere Unternehmen verantwortlich sei, die allerdings nichts mit dem Hauptgeschäftsfeld zu tun hatten. Genaueres hierüber wusste sie allerdings nicht. Doch selbst wenn er mal im Hause war, hatte sie das Gefühl, er würde es tunlichst meiden ihr zu begegnen und schon gar nicht alleine. Vielleicht hatte er Angst, sie würde ihn ordentlich verdreschen, denn er wusste um ihre Ausbildung in Wu Shu. Sicherlich nicht ganz unbegründet diese Angst, lächelte Siu Li in sich hinein. Sie war zwar in Singapur geboren, aber in Hong Kong aufgewachsen, nachdem ihrem Vater die große Verantwortung übertragen worden war, die dortige Niederlassung zu leiten. Seither hatte dieser ihren Großvater nie enttäuscht, die Geschäfte verliefen sehr erfolgreich. In letzter Zeit machte sie sich allerdings über Songs gesundheitlichen Zustand sorgen. Wenn es nach ihr ging, würde sie sofort wieder nach Hong Kong zurückkehren. Nicht nur, um sich um ihren kranken Vater zu kümmern, das Leben dort gefiel ihr auch deutlich besser. Es war schließlich ihre Heimat und dort gab zumindest so etwas Ähnliches wie Jahreszeiten. Hier in Singapur war es hingegen das ganze Jahr über annähernd gleich heiß und schwül. Dieses Klima machte ihr ein wenig zu schaffen. Siu Li war erst vor wenigen Monaten, auf Geheiß ihres Großvaters, nach Singapur gereist. Zu ihrer eigenen und wohl auch der Anderen, großen Überraschung, hatte sie Sim Lim in den Familienrat berufen. Die anfängliche Freude über diese ehren- und verantwortungsvolle Aufgabe, hatte sich jedoch bald gelegt, als sie erkennen musste, dass sie dort, außer dem Klanchef, niemand ernst nahm. Sie hatte auch mit ihm darüber gesprochen und erklärt, wie sinnlos das Ganze aus ihrer Sicht sei. Der bat sie jedoch noch um ein wenig mehr Geduld, da dies eine entscheidende Zeit für das gesamte Familienunternehmen wäre und er sie hier dringend brauchen würde. Das dies nun auf ein solchermaßen gestricktes Unterfangen hinauslaufen würde, hätte sie sich niemals träumen lassen. Als sie das Anwesen erreichten, begab sie sich sofort in ihre Gemächer und ließ sich auf das weiche Bett sinken. Ihre Amah Wei Wei schlurfte herbei und machte sich daran, sie zu entkleiden. Wei Wei war die einzige Person, die sie nach Singapur begleitet hatte. Seit Siu Li ein Baby war, hatte sie sich um sie gekümmert und sie würde diese Aufgabe noch bis zu ihrem Tode erfüllen. Amahs waren vor allem in den Familien der Adeligen und hohen Beamten ein vertrautes Bild, aber auch bei reichen Kaufmannsfamilien häufig anzutreffen. Für Siu Li war Wei Wei eine Ersatzmutter, ihre einzige Vertrauensperson hier in Singapur und ihre Spionin, was Familientratsch- und klatsch anbetraf. Für ihre Amah war Siu Li wie ihr eigenes Kind, das sie kurz nach der Geburt hatte hergeben müssen, ihr einziger Schatz auf Erden, den sie behütete und beschützte, notfalls auch und ohne zu zögern, mit ihrem eigenen Leben. „Haylah, was fällt deinem Großvater nur ein, dich so lange zum Aufbleiben zu zwingen! So eine gut aussehende Frau wie du braucht ihren Schönheitsschlaf“, murmelte Wei Wie entrüstet und schüttelte dabei ihren Kopf. Nachdem sie Siu Li komplett ausgezogen hatte, stülpte sie ihr ein seidenes Nachthemd über und tätschelte ihr zärtlich den Kopf: “nun schlaf schön, meine Kleine.“ Siu Li schlüpfte unter das Moskitonetz. “Gute Nacht Wei Wei.“ Sie dachte noch, „morgen gibt es viel zu erledigen“ und schlief kurz darauf ein.

In Chong Ng’s Kopf rasten die Gedanken, als er Sim Lim’s Shophouse verließ. Was für eine Nacht! Und dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen. Er konnte sich selber in den Hintern beißen, dass er nicht vorsichtiger gewesen war und auf seine innere Stimme gehört hatte. Aber es machte keinen Sinn, weiter zu lamentieren. Er war in die Falle getappt und musste nun mit den Konsequenzen leben. Überall standen Sim Lim’s Leute herum, als er das Haus durch die Vordertür verließ und draußen auf der Straße warteten schon die Sänften. Auf dem Weg nach Hause ließ er alle Szenen noch einmal Revue passieren. In Anbetracht der Situation, hatte er sich insgesamt wohl ganz gut geschlagen. Nur, wie sollte er mit seiner neuen, zwangsverordneten Partnerin umgehen und was sagte er Kee Hong, oder war es besser gar nichts zu erzählen? Nichts als Probleme und keine Antworten. Das Beste war es wohl, sich noch ein paar Stunden aufs Ohr zu legen. Nach dem Aufstehen und mit einem guten Frühstück im Magen, sah die Welt schon wieder anders aus. Zu Hause angekommen, begab er sich so leise wie möglich in seine Räume, zog sich aus und tauchte unter das Moskitonetz. Er legte sich kerzengerade hin, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die offenen Fragen. Bis zum Aufwachen sollte sein Gehirn an den Lösungen arbeiten. Kurz darauf war auch er eingeschlafen.

Der Morgen begann mit einem heftigen Regenschauer, der jedoch nicht allzu lange anhielt. Kee Hong war schon eine Weile auf und hatte das Frühstück vorbereitet. In der Nacht war sie bis zu Chongs Heimkehr wach geblieben. Diesmal war er ungewöhnlich lange aus gewesen und sie hatte sich schon große Sorgen gemacht. Dann hatte sie schließlich seine Anwesenheit wahrgenommen, aber irgendetwas war geschehen. Nicht nur seine lange Abwesenheit ließ sie zu diesem Schluss kommen, auch die Atmosphäre war ganz anders als sonst. Normalerweise spürte sie so etwas wie Erregung oder sogar Freude, diesmal nahm sie jedoch Sorge wahr. Sie würde von sich aus nichts erwähnen, wenn er es für richtig hielt, kam Chong bestimmt von alleine auf sie zu. „Guten Morgen“, begrüßten sie sich beide, als er in die Küche kam. „Bereitest du schon mal den Tisch vor, ich komme gleich mit dem Essen“, bat Kee Hong. In anbetracht der Situation hatte sie einige der Leibgerichte ihres Enkels zubereitet. Chong Ng nahm es mit Freude zur Kenntnis. Er begab sich in den Salon und tat, wie ihm geheißen. Kurz darauf erschien seine Großmutter mit dem vollen Tablett. Das Morgenmahl selber verlief sehr ruhig. Chong Ng genoss die Speisen und war ansonsten in Gedanken versunken. Als er alle Schalen geleert hatte, machte er sich sofort auf den Weg. „Ich denke, ich werde heute den ganzen Tag unterwegs sein“, verabschiedete er sich. Das Frühstück hatte ihm gut getan. „Kee Hong ist wirklich die Beste“, dachte er voller Zuneigung, „sie hat sicher gemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt und deswegen auch meine Lieblingsspeisen gekocht. Bestimmt hat sie gespürt, dass ich das brauchte, mich aber in keiner Weise bedrängt. Was würde ich nur ohne sie tun.“ Trotz der wenigen Stunden Schlaf, fühlte er sich frisch und erholt. Er hatte auch Antworten für seine dringendsten Probleme gefunden. Durch ihr großartiges Verhalten, machte es ihm seine Großmutter leicht. Ihr würde er nur etwas erzählen, falls es sich gar nicht mehr vermeiden ließe. Was Siu Li betraf, die wollte er heute ein paar ausführlichen Tests unterziehen. Wenn sie durchfiel, konnte er ihre Qualifikation und damit ihre Teilnahme offen in Frage stellen. Sollte sie, wider erwarten, seinen hohen Anforderungen gerecht werden, dann würde er die unfreiwillige Partnerschaft akzeptieren und als Möglichkeit betrachten, eine vollkommen neue Erfahrung zu machen. Schließlich war dies eine einmalige Angelegenheit, sie waren ja nicht dauerhaft aneinander gebunden. Als erstes beschloss er zu seinem Shophouse zu gehen. Jeden Morgen warteten ein paar seiner Tagelöhner dort auf ihn, um zu fragen, ob es Arbeit gab. Für heute hatte er ja zwei kleinere Aufträge. Außerdem wollte Siu Li dort auf ihn warten. Als er ankam, war von ihr jedoch noch nichts zu sehen. Vier hagere, von der Sonne gebräunte, Männer saßen vor dem Eingang. Als sie ihn sahen, standen sie sofort auf und grüßten ihn höflich. „Hast du heute Arbeit für uns Chong Ng?“, fragte einer. Normalerweise würde es ein Händler niemals dulden, sich von einem einfachen Tagelöhner auf so vertrauliche Weise ansprechen zu lassen, doch er pflegte einen lockeren Umgangston mit ihnen. „Ja, es gibt zwei Aufträge, das reicht für Euch alle. Ho und Wong, ihr beide kommt in einer Stunde wieder mit Euren Transportkarren, ich muss erst noch die Preise mit den Auftraggebern aushandeln. Wir treffen uns hier und gehen dann zusammen zu meinem Kontakt, die Ware liefert ihr dann direkt zum Händler. Zhao und Wee, Euch treffe ich dann in zwei Stunden mit Euren Transportkarren hier. Alles klar?“ Die vier nickten, bedankten sich freudig und machten sich auf den Weg. Noch immer keine Siu Li zu sehen, also ging er los zum ersten Auftraggeber. Ein gewisser Wen, seines Zeichens Futonhändler. Als er meinte, beim richtigen Shophouse angelangt zu sein, verglich er zur Sicherheit noch einmal die Schriftzeichen auf seinem Zettel, mit denen auf dem Schild über dem Eingang. Hier handelte es sich um einen Neukunden und es wäre äußerst peinlich, da beim Falschen seine Aufwartung zu machen. Er betrat das Haus und wurde sofort von einem Angestellten begrüßt. Links und rechts an den Wänden aufgestapelt lagen die Futons, nach Qualität und Preis sortiert. Nahe am Eingang lag die billigere Ware, in der Mitte war ein Gang freigehalten, der zu den höherpreisigen Futons führte. Es galt als unschicklich und aufdringlich, mit der teuersten Ware gleich am Eingang zu protzen. Höflich erkundigte er sich nach dem Inhaber des Geschäftes. Sogleich erschien dieser auf der Bildfläche. „Werther Herr Wen, darf ich mich vorstellen, mein Name ist Chong Ng. Ihr hattet die Freundlichkeit, mir diese Nachricht zukommen zu lassen“, dabei präsentierte er den Zettel so, dass nur Wen die Notiz lesen konnte. „Geehrter Herr Ng, welche Freude, dass Sie es einrichten konnten, persönlich vorbei zukommen. Lassen Sie uns doch nach oben in mein Büro gehen“, bot Wen an. Am Ende des Ganges führte eine Treppe in den ersten Stock. Das Haus hatte eine ganz ansehnliche Größe, dem Händler schien es recht gut zu gehen. Neben dem Büro des Kaufmannes waren auf der gleichen Etage noch die Buchhaltung und das Warenlager untergebracht. In der Luft klebte ein Duftgemisch aus Wolle, Leinen und Hanf. Trotz der überall geöffneten Fenster, war die Luft sehr stickig. Im zweiten Stockwerk wohnte die Familie des Händlers mit ein paar Bediensteten. Wen führte Chong Ng in einen kleinen Raum zu einem Schreibtisch, ließ ihn Platz nehmen und setzte sich gegenüber. Ein Angestellter goss beiden grünen Tee ein und verschwand dann, die Tür hinter sich schließend. „Ihr scheint mir noch eine ganze Menge Futons vorrätig zu haben, verehrter Herr Wen, ich kann mir nicht vorstellen, wozu Ihr meine Dienste benötigt?“, eröffnete Chong Ng. „Nun ja, für gewöhnlich ist mein Geschäft nicht schlecht sortiert, durch einen außergewöhnlichen Umstand mangelt es mir jetzt jedoch an Futons erster Qualität“, erklärte der Angesprochene. „Die Umstände sind meist außergewöhnlich, wenn ich gerufen werde“, Chong Ng beugte sich beim Reden leicht vor, nahm eine der Tassen und trank ein paar Schlucke. „Das dachte ich mir schon, geehrter Herr Ng und Ihr sollt der Beste sein, wenn es darum geht, die entsprechend nachgesuchte Ware schnell und diskret zu besorgen.“ „Ihr schmeichelt mir, verehrter Herr Wen, wer immer Euch das sagte, hat dabei maßlos übertrieben.“ „Eure Bescheidenheit gereicht Euch zur Ehre, aber ich denke, mein Informant hat die Wahrheit gesprochen“, nun war es Wen, der sich ein paar Schlucke seines Tees gönnte. Chong Ng verneigte sich kurz mit einem Lächeln, lehnte sich dann wieder zurück in seinen Stuhl und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Damit war die Einleitung abgeschlossen und der geschäftliche Teil konnte beginnen. „In der Somerset Road eröffnet ein neues Hotel und auf eine Empfehlung hin, erhielt ich den Auftrag für die Lieferung von 60 Futons bester Qualität. Diese Ware wird nicht allzu oft nachgefragt und schon gar nicht in der Menge. 20 Futons habe ich auf Lager, den Rest habe ich bei der Fabrik bestellt, die letzte Woche, aus noch ungeklärten Umständen, abgebrannt ist, mit den kompletten Vorrats- und Auslieferungsbeständen. Wenn ich nicht in spätestens zwei Tagen liefern kann, bin ich ruiniert, in vier Tagen soll das Hotel eröffnen“, Wen tat einen langen Seufzer der Verzweiflung. „Verstehe. Nun, ich denke um diesen kleinen Engpass solltet Ihr Euch nicht länger sorgen, verehrter Herr Wen.“ Dessen Augen begannen zu leuchten, während er sich im Stuhl aufrichtete und in leicht angespannter Haltung dasaß. „Ja, ich denke ich hätte da eine mögliche Quelle, die auch sehr kurzfristig liefern könnte, nur…“, Chong Ng ließ den Satz unbeendet. „Ja, was, äh, gibt es doch ein Problem?“, Wen beugte sich besorgt nach vorne. „Nun ja, der Preis könnte ein Problem werden“, gab Chong Ng halblaut, fast gedankenverloren von sich. Wen sackte leicht zusammen. „Nun, was denkt Ihr, äh, was verlangt Ihr geehrter Herr Ng?“ Ich schätze, Ihr berechnet 10 Silbertael pro Futon, richtig verehrter Herr Wen?“ „Ja, richtig, aber woher wisst Ihr das?“ „Ihr habt hier eine Warenlieferliste mit Preisen auf Eurem Schreibtisch liegen. Der Lieferant berechnet 5 Silbertael. Ich nehme an, Ihr gebt den Preis mit 100% Aufschlag an Eure Kunden weiter“, erklärte Chong Ng. „Ja, normalerweise schon, aber in diesem Fall habe ich, wegen der großen Liefermenge, einen Nachlass von 10% gewährt, also 9 Silbertael pro Futon.“ „Gut, ich denke ich kann Euch die fehlenden Futons für 7 Silbertael pro Stück besorgen.“ „Waas, da bleiben mir ja gerade mal 2 Tael Marge pro Futon! Wovon soll ich meine Angestellten bezahlen, meine Kredite und Außenstände begleichen, meine Kinder ernähren“, rief Wen außer sich. Chong Ng blieb ganz ruhig. An diesem Punkt des Gesprächs reagierten alle in die Bredouille geratenen Kaufleute gleich. Jeder gab an, er würde vor dem Ruin stehen, wenn Chong Ng ihm nicht aus der Patsche helfen würde, aber das diese Rettung auch einen entsprechenden Verzicht auf Marge und Gewinn verlangte, wollte keiner wahrhaben. „Ah, ich fürchte, da lässt sich nichts machen. Besagte Quelle ist natürlich auch über den Brand in der Fabrik informiert und weiß, dass dies kurzfristig die Nachfragemenge in die Höhe treibt, bis die Lücke wieder geschlossen wird.“ Der arme Wen raufte sich die Haare. „Ich dachte, das wäre das Geschäft meines Lebens und jetzt bringt es mich fast ins Grab!“, jammerte er. Chong Ng mochte das zwar bezweifeln, er hatte aber auch keinen besonderen Spaß daran, seine Kunden zu quälen. „Also gut“, lenkte er ein, „dies ist unser erstes Geschäft miteinander, da räume ich Neukunden manchmal einen kleinen Nachlass ein. Ich berechne Euch pro Futon sechseinhalb Silbertael, das ist mein letztes Wort.“ Sein Gegenüber hörte auf zu jammern und besiegelte zähneknirschend den Deal per Handschlag. „Über den entsprechenden Betrag stellt Ihr mit dann einen sofort fälligen Barwechsel auf meinen Namen aus und gebt ihn bitte meinen Lieferanten mit. Hier meine Namenskarte, damit es keine Verwechslungen gibt“, damit streckte Chong Ng dem Futonhändler eine kleine Karte hin, die seinen Namen in chinesischen Schriftzeichen darstellten. Es gab verschiedene Schriftzeichen, die man zwar gleich aussprach, welche aber eine völlig unterschiedliche Bedeutung hatten. Gerade bei Namen gab es meist eine gewisse Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten. Oft wurden deshalb Mönche oder Gelehrte zu Rate gezogen, welche der Möglichkeiten besonders verheißungsvoll oder Glück bringend waren. Wen begleitete ihn nach unten bis auf die Strasse und flüsterte ihm noch zum Abschied zu: „wenn es ein paar mehr als 40 sind, nehme ich die auch gerne. Wer weiß, wann wieder Ware auf den Markt kommt, sonst bin ich in dieser Kategorie komplett ausverkauft.“ Chong Ng nickte kurz und beschleunigte seine Schritte auf den Weg zum nächsten Auftraggeber.

Kai Shen Liang war ein alter Bekannter und langjähriger Kunde. Nur diese Ware hatte er bisher noch nie nachgefragt. Es handelte sich um Chicken Essence. Chong Ng war schon auf die Geschichte gespannt, die Kai Shen ihm sicher gleich präsentieren würde. Er hatte sein Geschäft am Anfang der Victoria Street. Als Chong Ng eintrat, wurde er von mehreren Angestellten gleichzeitig begrüßt. Es handelte sich um einen Gemischtwarenladen für den alltäglichen Bedarf. Verschiedene Lebensmittel und Getränke, Alkohol, Gemüse, Früchte, Bekleidung, Werkzeuge, Haushaltsgegenstände und vieles mehr. Dementsprechend vermischten sich auch die Gerüche unterschiedlichster Art zu einem unidentifizierbaren Potpourri. Da kam der Inhaber auch schon aus einem der vielen kleinen Gänge gewatschelt und begrüßte ihn mit einem freundlichen Schulter klopfen. „Da bist Du ja, mein Guter. Komm gleich mit rauf ins Büro.“ Kai Shen ging voraus ins Obergeschoß, wobei die Treppenstufen unter seinem Gewicht ächzten. Er sah fast so aus wie ein chinesischer Buddha, klein und rund, mit einem Kugelbauch, dazu große Ohren mit langen Ohrläppchen und einem freundlichen Gesicht in dessen Mitte eine ungewöhnlich große rote Nase prangte. Nur in diesem, nicht zu übersehenden, Detail unterschied sich Kai Shens Aussehen von der üblichen chinesischen Darstellung des Glücksbuddha. Irgendwann vor langer Zeit avancierte Kai Shens Riechorgan schließlich zu seinem Markenzeichen und wurde gleichzeitig sein Spitzname „Rotnase“. Alle Kunden, seine Angestellten, ja sogar seine eigene Familie nannten ihn so. Einzig Chong Ng bildete eine Ausnahme und redete ihn weiter bei seinem echten Namen an. Einmal hatte ihn die Rotnase darauf angesprochen und seine schlichte Antwort war: „ich folge ungern der Masse.“ Nur wenn er mit dritten über den gutmütigen Gemischtwarenhändler sprach, benutzte er dessen Spitznamen, denn mit Kai Shen konnte keiner mehr etwas anfangen. Die Rotnase zwängte sich zwischen Regalen und Türmen aufgestapelter Waren hindurch, fast ein Wunder, dass er dabei nichts anrempelte. Auch hier wohnte die Familie im dritten Stock des Shophouses. Kai Shen hatte einige Söhne und Töchter, wovon die Älteren ihm alle im Laden oder im Haushalt halfen. Sie setzten sich ins kleine, voll gestellte Büro, während Ling, eine der Töchter, ihnen beiden Tee einschenkte. Sie war 12 Jahre alt und Gott sei Dank nach ihrer Mutter geraten. Man konnte schon gut erkennen, dass sie einmal eine echte Schönheit werden würde. „Ling, du bist ja schon wieder ein bisschen hübscher geworden, seit meinem letzten Besuch!“, rief Chong aus und zwinkerte ihr dabei zu. Das Mädchen verschüttete fast den Tee, lief rot an und verschwand schleunigst um die Ecke. „Ah, du solltest ihr nicht solche Komplimente machen, am Ende bildet sie sich noch ein, dich unbedingt heiraten zu wollen“, schalt ihn die Rotnase. „Da mach’ dir mal keine Gedanken, bis es soweit ist, werden sich die Verehrer hier noch die Türklinke in die Hand geben. Aber sag mal, was hat es denn mit der Chicken Essence auf sich?“, wollte Chong wissen. „Ach ja, du kennst doch meinen Großonkel Minh Jong, oder?“ „Du meinst den, der schon fast 100 Jahre alt ist?“ „Ja genau. Er weiß zwar selber nicht so genau, wann er geboren wurde, aber über 90 ist er bestimmt. Also, Minh Jong hat demnächst Geburtstag und will eine kleine Feier veranstalten, nur mit der eigenen Familie, die Freunde sind inzwischen eh alle weggestorben. Du kennst ja die Leutchen, die kommen vom Land, da wird gespart wo’s nur geht, das heißt kein Restaurant, alles findet zu Hause statt, es wird selber gekocht, usw. Jetzt möchte der gute Onkel allen eine Runde Chicken Essence ausgeben, weil er meint, dass er der regelmäßigen Einnahme dieses Getränks sein hohes Alter zu verdanken hat. Das haben sie natürlich bei mir bestellt, 20 Fläschchen, mein gesamter Vorrat, denn das Zeug wird bei mir nicht so oft nachgefragt. Großonkel Minh Jong hat aber noch Verwandte in Kanton und Hokkien, die auch irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Nun stell Dir vor, da bringt doch einer von denen das Gerücht auf, dass Minh Jong dieses Jahr 100 wird und es doch eine feine Überraschung für den alten Herrn wäre, noch mal seine gesamte Großfamilie vor sich versammelt zu sehen. Denen geht es natürlich hauptsächlich darum, sich hier ordentlich durchfüttern zu lassen. Sie haben sich netterweise per Brief angekündigt, nur dass selbiger so lange unterwegs war, dass sie ihn fast noch eingeholt hätten. Die Lawine ist also nicht mehr aufzuhalten. Übermorgen steigt die Feier, mit ca. 100 Leuten mehr als geplant. Das bringt die Familie hier in ihrem kleinen Häuschen natürlich nicht mehr unter, also wurde kurzfristig noch ein Restaurant gebucht, in Guest Houses nach freien Zimmern gefragt, alle sind in heller Aufregung. Die Familie rauft sich schon die Haare und hofft nun, dass die Geldgeschenke für den Onkel wenigstens einigermaßen die Ausgaben decken werden. Jetzt kommt dein Part. Minh Jong besteht weiterhin darauf, dass alle ihre Chicken Essence bekommen sollen, ich brauche also kurzfristig 100 Fläschchen, möglichst der besten Qualität zum günstigsten Preis.“ Während der Erzählung von Rotnase hatte sich Chong Ng gemütlich in seinen Stuhl zurückgelehnt und seinen Tee geschlürft. „Hm, was verlangst du denn von Deinen Kunden für ein Fläschchen?“, fragte er. „Sechs Schilling“, kam die Antwort. „Und für wie viel kaufst du sie ein?“ „Für drei Schilling 6 Pence.“ „Ich fürchte an dem Geschäft lässt sich nicht viel verdienen“, seufzte Chong. „Komm schon, du musst mir helfen, ich kann doch vor der eigenen Verwandtschaft nicht mein Gesicht verlieren“, flehte Kai Shen. Chong Ng überlegte kurz. „Also gut, ich denke, ich kann Dir die Chicken Essence für 5 Schilling pro Fläschchen besorgen.“ Der Händler atmete erleichtert aus. Ihm ging es nicht mehr darum, einen großen Gewinn zu erzielen, sondern einzig und allein, die eigenen Verwandten nicht zu enttäuschen. Er dachte auch nicht daran zu handeln, denn er hatte keinen Zweifel, dass Chong Ng ihm den bestmöglichen Preis machte, dafür kannten sie sich beide schon zu lange. Sie besiegelten das Geschäft mit einem Handschlag. „Das Geld gibst du dann Wee und Zhao mit, wenn sie die Ware liefern. Bis bald“, verabschiedete sich Chong und war schon dabei die Treppe runter zu laufen. Jetzt musste er sich sputen um rechtzeitig zu seinem eigenen Shophouse zurückzukommen.

Als er bei seinem Laden ankam, warteten Ho und Wong bereits auf ihn, sowie eine junge Frau in einem weiten, schlichten Gewand aus heller Seide. Siu Li hatte sich in den Schatten des Hauses gestellt und kümmerte sich nicht um die neugierigen Blicke der beiden Arbeiter. „Sieh an, die junge Dame hat schon aus dem Bett gefunden“, begrüßte er sie. „Du hast keine Ahnung, was ich heute schon alles erledigt habe“, erwiderte Siu Li. „Du meinst abgesehen von dem zweistündigen Vollbad in Eselsmilch und Honig und der anschließenden einstündigen Massage? Da hast Du recht, davon habe ich wirklich keine Ahnung“, stichelte Chong. Ho und Wong verfolgten interessiert die Unterhaltung. Siu Li beschloss sich nicht ärgern zu lassen und quittierte die Stichelei mit einem milden Lächeln. In einem stillschweigenden Übereinkommen verzichteten sie beide auf die förmlichen Anreden „junge Schwester“ und „älterer Bruder“. Nachdem Chong Ng den Klanchef Sim Lim bereits geduzt hatte, würde das jetzt ein wenig komisch anmuten. „Ich habe noch ein bisschen zu tun mit zwei Aufträgen, die der dringenden Erledigung bedürfen. Du kannst entweder hier in der Hitze auf mich warten, oder später noch mal wiederkommen.“ „Wie lange wird es denn ungefähr dauern?“ „Ich schätze noch bis Mittag, dann würde ich aber gerne erst noch ein bisschen was zu mir nehmen, also vielleicht treffen wir uns besser gleich am frühen Nachmittag“, schlug Chong vor. „Gut, ich werde um ca. 1 Uhr hier wieder auftauchen.“ „Alles klar, ich tue mein Bestes, bis dahin einen roten Teppich aufzutreiben.“ Siu Li zog die rechte Augenbraue leicht nach oben und verschwand in der nächsten Gasse. „So, nun zu euch beiden Leichtmatrosen. Ich hoffe, ihr habt die kleine Einlage genossen“, richtete sich Chong Ng mit einem freundlichen Lächeln an seine Tagelöhner. „Ich gehe noch kurz in den Laden, dann brechen wir auf.“ Die beiden Angesprochenen nickten eifrig. Chong schloss die Tür seines Ladens auf und trat ins Innere. Er lief zu seinem Geldversteck, das gut getarnt in den Boden eingelassen war. Dort nahm er sich so viel heraus, wie er meinte, dass es für die beiden anstehenden Einkäufe reichen sollte, brachte alles wieder in den ursprünglichen Zustand, trat vor die Tür und verriegelte sie. „Wir laufen zum Bugis Viertel, wenn alles gut geht, werdet ihr dort jeder 20 Futons auf eure Transportkarren laden. Es handelt sich um erste Qualität, ist also entsprechend schwer. Werdet ihr das ziehen können?“, fragte Chong Ng. „Klar, kein Problem, das schaffen wir“, war die einhellige Antwort. „Sobald ich euch ein Zeichen gebe, bleibt ihr zurück und wartet, bis ich euch rufe. Der Händler, von dem ich die Ware zu beziehen gedenke, braucht euch vor Abschluss des Geschäfts nicht unbedingt zu bemerken. Ho und Wong bestätigten mit einem Nicken und sie machten sich zu dritt auf den Weg. Ironischer Weise war der Eigentümer der niedergebrannten Futonfabrik, bei welcher der Händler Wen seine Bestellung aufgegeben hatte, auch gleichzeitig die Quelle, bei der er die nicht gelieferten Futons einkaufen wollte. Chong Ng hatte viele Informanten in der Stadt, die er immer gut für ihre Neuigkeiten bezahlte. Dieser stetige Fluss an Informationen war essentiell für seine Art von Geschäft. So hatte er unter anderem Erfahren, dass ein Vorarbeiter der besagten Fabrik, zusammen mit einigen Angestellten, noch eine stattliche Anzahl Futons hatte in Sicherheit bringen können, bevor diese ein Raub der Flammen wurden. Einer soll sich dabei sogar leichte Verbrennungen zugezogen haben. Fong, der Fabrikbesitzer, hatte sich aber dazu entschlossen, der Versicherung einen Totalverlust zu melden. So konnte er die gerettete Ware heimlich nebenher verkaufen und zweimal kassieren. Chong Ng spekulierte nun, dass der Vorarbeiter wahrscheinlich zuerst die beste und teuerste Ware zu retten versucht hatte, also genau die Futons erster Qualität, die der Händler Wen brauchte. Wie dieser allerdings auch schon bemerkt haben dürfte, verkauften die sich nicht so schnell und einfach. Chong vermutete nun, dass Fong immer noch auf dem größten Teil der Ware saß und sich nicht allzu lange Zeit lassen konnte um sie loszuwerden. Sie waren im Bugis Viertel angekommen. Jetzt suchte Chong Ng nach einer Gruppe von größeren Lagerschuppen, die im Karret angeordnet waren. Der Informant hatte ihm die Lage sehr gut beschrieben. „Ich glaube da vorne ist es. Ihr zwei wartet hier im Schatten, bis ich Euch hole.“ „Klar, Boss“, gab Wong zur Antwort. Chong Ng ließ die beiden Tagelöhner zurück und näherte sich dem vorderen Holzgebäude. Zwischen den einzelnen Schuppen war jeweils ein mehrere Meter großer Freiraum. Er bewegte sich hindurch und befand sich nun im Innenhof. Vor dem Lager auf der gegenüber liegenden Seite lungerten ein paar Männer herum. Er ging auf sie zu und grüßte höflich. „Ist wohl ein Meister Fong anwesend?“, fragte Chong in die Runde. „Ich habe gehört, er hat hier etwas zu verkaufen.“ Die Männer grüßten mit einem Kopfnicken zurück und einer bewegte sich langsam in den Lagerschuppen. Kurz darauf kam er mit einem drahtigen kleinen Kerl zurück. Er trug eine Robe aus dunkelroter Seide, sowie eine Kappe gleichen Materials und Farbe auf dem Kopf. Sein verschlagen wirkendes Gesicht zierte ein dünner Schnurbart. „Fong“, stellte er sich kurz angebunden vor, „und mit wem habe ich die Ehre?“ „Mein Name ist Ng, ich bin erfreut Eure Bekanntschaft zu machen, Meister Fong.“ „Ganz meinerseits. Was kann ich für Euch tun Meister Ng?“ „Nun, mir wurde zugetragen, Ihr hättet einige fabrikneue Futons günstig abzugeben, daran wäre ich unter Umständen nicht ganz uninteressiert.“ Fong sah ihn mit leicht schief gelegtem Kopf an. „Kenne ich Euch vielleicht?“ „Ich denke nicht. Unter Händlern genieße ich eine gewisse Bekanntheit, nicht jedoch was Fabrikanten betrifft“, antwortete Chong. „Nun gut, die Ware liegt hier im Schuppen, ich nehme an, dass Ihr sie erst mal besichtigen wollt“, Fong streckte den rechten Arm in Richtung der offenen Schiebetür aus, in der er vorhin erschienen war. „Selbstverständlich“, bestätigte Chong und folgte dem kleinen Mann ins Innere des lang gestreckten Gebäudes. Die Luft war stickig und es roch ähnlich, wie im Hause des Händlers Wen. Die Futons lagen in vier Türmen aufgestapelt, jeweils einzeln in dünne Baumwollsäcke verpackt, an der Längswand, nahe der Tür. Chong Ng trat näher, öffnete wahllos einige der Säcke bei allen vier Türmen und prüfte deren Inhalt. Er lag richtig mit seiner Vermutung bezüglich der Qualität. Genau das, was er brauchte. Insgesamt zählte er 42 Stück. Jetzt kam es darauf an, einen guten Preis auszuhandeln. „Scheint mir keine schlechte Ware zu sein. Was wollt ihr dafür haben, Meister Fong?“ Der blickte ihn mit zornig zusammengekniffenen Augen an. „Was heißt hier keine schlechte Ware! Eine bessere Qualität bekommt Ihr bis Hong Kong nicht!“, brachte er wütend hervor. Chong Ng betrachtete ihn leise lächelnd und wartete ab. Fong hatte sich soweit wieder gefasst. „Sechs Silbertael pro Futon.“ „Ich biete Euch drei.“ „Das soll wohl ein schlechter Scherz sein, wenn ihr die Ware beim Händler kauft, müsst ihr dafür mindestens 10 Silbertael hinlegen!“, brauste Fong wieder auf. „Das mag wohl sein. Dafür handelt es sich hier aber auch um heiße Ware, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kann sogar noch einen leichten Brandgeruch wahrnehmen. Ich weiß, dass die Futons aus Eurer niedergebrannten Fabrik stammen und auch, das der Versicherung ein Totalschaden gemeldet wurde. Was habt Ihr als Schadenssumme angegeben? Bestimmt den doppelten Verkaufswert. Und jetzt wollt Ihr noch mal zusätzlich Kasse machen und sogar mehr verlangen, als ihr üblicherweise vom Händler bekommt.“ Fong warf den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch. „Falls Ihr darauf anspielt, das ich mir wegen der Polizei Sorgen machen müsste, die werden in dieser Sache gar nichts unternehmen, dafür ist gesorgt.“ Chong lächelte verbindlich. „Oh, ich spiele nicht auf die Polizei an, mir ist schon klar, dass die Herren diesbezüglich keinen Finger rühren werden. Ich denke da eher an die Versicherung. Die Brandursache ist ungeklärt und Ihr fordert ein kleines Vermögen ein. Da wäre es nicht verwunderlich, wenn die Gesellschaft ein paar Detektive herumschnüffeln lässt, bevor sie sich von ihrem hart verdienten Geld trennt. Diese Privatschnüffler haben in der Regel deutlich mehr auf dem Kasten, als unsere treuen Gesetzeshüter, was daran liegen könnte, dass sie nur im Falle eines Erfolges richtig Geld sehen. So ein Detektiv arbeitet natürlich auch mit einem Netz von Informanten und genau wie ich Nachricht darüber bekam, dass Ihr hier eure nicht abgefackelten Futons an den Mann bringen wollt, könnte das, vielleicht gerade in diesem Moment, irgendjemand einem der Versicherungsdetektive stecken. Wenn der Euch auf die Schliche kommt, könnt Ihr euch nicht nur das eingeforderte Sümmchen in den Schnurbart schmieren, sondern dürft auch mit einem Verfahren wegen Versicherungsbetrug und mehreren Jahren kostenloser Verpflegung in Staatsverwahrung rechnen.“ Fong schluckte deutlich hörbar. Seine Selbstsicherheit war auf einmal verflogen und er wirkte sichtlich nervös. „Ihr mögt recht haben. Trotzdem kann ich weit mehr als 3 Silbertael pro Futon erzielen. Einige habe ich auch schon verkauft.“ „Wie viele Futons wurden vor dem Feuer gerettet?“ „Insgesamt 48.“ „Dann seid Ihr ja gerade mal 6 Stück losgeworden. Wahrscheinlich habt Ihr sie unter dem Herstellungspreis an die Arbeiter verscherbelt, die sie für Euch aus dem Feuer geholt haben.“ Fong verzog keine Miene. „Ihr wisst selber sehr gut, dass sich Ware dieser hohen Qualität, zum entsprechenden Preis nicht so einfach verkaufen lässt. Ihr aber müsst die Futons so schnell wie möglich los werden. Wenn die Beweise verschwunden sind, kann kein Versicherungsdetektiv etwas machen. Ich bin bereit, Euch den gesamten Bestand auf einmal abzukaufen. So werdet Ihr auf diskrete und elegante Weise den Mahlstein um den Hals los, der Euch in die Tiefe reißen könnte. Ich nehme an, Eure Herstellungskosten liegen bei zweieinhalb Silbertael pro Stück. Ich biete Euch dreieinhalb Silbertael, immerhin noch 40% Gewinn. Das ist mein letztes Wort, schlagt ein, oder riskiert die nächsten paar Jahre gesiebte Luft zu atmen“, Chong Ng hatte sein Plädoyer abgeschlossen. Jetzt lag es an Fong. Die Vorstellung, eventuell ins Gefängnis zu wandern, machte ihm arg zu schaffen. Er war schließlich kein abgebrühter Krimineller, sondern nur ein etwas zu gieriger Kaufmann, obwohl böse Zungen behaupteten, da gäbe es keinen großen Unterschied. Nervös trat er von einem Bein aufs andere und blinzelte in die Luft. „Also gut“, gab er zerknirscht auf und schlug ein. Der Handel war besiegelt. „Ihr schuldet mir 147 Silbertael in Bar, Meister Ng.“ Chong zog sich ein wenig in die Mitte des Raumes zurück, drehte sich kurz um und nahm die entsprechende Summe aus seinem Beutel. Er übergab Fong die kleinen Barren, der sie geschickt durchzählte. Dann nickte er Chong zu: „verfügt Ihr über eine Transportmöglichkeit?“ Der Angesprochene nickte. „Ich bin gleich zurück.“ Chong Ng trat aus dem Lagerhaus ins Freie, überquerte den Innenhof und lief durch die Lücke zwischen den Gebäuden zu der Stelle, wo Ho und Wong geduldig auf ihn warteten. „Los geht’s ihr beiden, es wartet Arbeit auf euch.“ Zu dritt machten sie den Weg zurück zum Lagerschuppen. Dort luden die beiden Tagelöhner die Futons auf die Transportkarren, die anwesenden Männer halfen ihnen dabei. Als jeweils 21 Baumwollsäcke auf die beiden Karren gestapelt waren, warfen Ho und Wong Planen aus grobem Hanfstoff darüber und befestigten sie mit einer Schnur. Schließlich stiegen sie zwischen die beiden, vorne geschlossenen, Zugstangen und warfen ihr Gewicht gegen die Trägheit der Masse. Nach einigem drücken und Anschiebehilfe von Hinten, gelang es ihnen die schweren Gefährte in Bewegung zu setzen. Von nun an ging es im Laufschritt weiter, möglichst ohne anzuhalten. Chong wandte sich noch einmal kurz zur Verabschiedung um und ließ einen leicht säuerlich dreinblickenden Fong mit seinen Angestellten zurück. Als sie wieder auf der Straße waren, gab Chong Ng seinen Leuten Adresse und Namen des Futonhändlers Wen, mit einer kurzen Lagebeschreibung und trug ihnen noch auf, den Barwechsel entgegenzunehmen und zu seinem Shophouse zu bringen. Er selber begleitete sie nicht, sondern lief gleich weiter zu seinem nächsten Ziel, dem siamesischen Händler Jeab, wobei er unterwegs Zhao und Wee abholte.

Die beiden Arbeiter hatten gerade ihre Transportrikschas abgestellt, als Chong Ng im Laufschritt um die Ecke kam. „Ihr braucht euch gar nicht erst hinzusetzen, es geht gleicht weiter“, rief er ihnen zu. Sie liefen ungefähr 20 Minuten durch enge Straßen und Gassen, bis sie in eine Gegend kamen, die sich River Valley nannte. Hier hatte Jeab vor gut einem Jahr seinen Laden für siamesische Spezialitäten eröffnet. Eine überschaubare Anzahl seiner Landsleute versorgte sich bei ihm mit allem Notwendigen, was es bei der lokalen Händlerschaft nicht zu kaufen gab. Allmählich wurde sein Geschäft aber auch als Geheimtipp unter den Chinesen und einigen Restaurantbesitzern gehandelt. Jeab hatte sich diese Lage ausgesucht, da viele Siamesen gerne in der Nähe fließenden Wassers wohnten und er darauf baute, dass sich die meisten seiner Landsleute deshalb in seiner Nähe ansiedeln würden. Mittlerweile hatte er sich sehr gut in die Nachbarschaft integriert und pflegte ein freundschaftliches Verhältnis mit den meisten Anwohnern. Das war jedoch nicht von Anfang an so gewesen. Gleich zu Beginn geriet er mit einer Straßengang aneinander und wurde, nicht zuletzt auch deshalb, von den Nachbarn sehr argwöhnisch beäugt. Die Leute hier wollten ihre Ruhe haben. Ein Auftrag hatte Chong Ng in die Gegend geführt, in der er ansonsten eher selten zu tun hatte. Er kam zufällig vorbei, als einige Mitglieder der Straßengang gerade dabei waren Jeabs Laden auseinander zu nehmen, da dieser, auch nach wiederholten Zahlungsaufforderungen, das Schutzgeld nicht rausrücken wollte. Auf solche Art gewalttätiger Einschüchterung reagierte Chong äußerst gereizt und obwohl er überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatte, mischte er sich ein. Niemand sonst wollte sich für einen Fremden mit den Gangstern anlegen. Er packte den Anführer, der wie ein Unbeteiligter außerhalb des Ladens stand und wohlwollend begutachtete, was seine Schergen da anrichteten, unversehens am Kragen und fragte ihn mit ausgesuchter Höflichkeit, ob er denn auch genügend Geld mit sich führen würde, um für den ganzen Schaden aufzukommen. Der fuhr zunächst erschrocken zusammen und nach einigen verzweifelten, jedoch erfolglos verlaufenden, Versuchen sich selber zu befreien, rief er jammernd seine Leute herbei. Daraufhin ließen diese ihr destruktives Werk vorübergehend ruhen und näherten sich zu acht, teilweise mit Knüppeln und Messern bewaffnet, Chong Ng und ihrem zappelnden Boss. Wie es ihm sein Meister eingebläut hatte, vermied er es in der Öffentlichkeit für gewöhnlich strickt, von seiner Kampfkunst gebrauch zu machen, aber in so einem Fall machter er gerne mal eine Ausnahme. Ohne den Griff, mit dem er den Chef der Bande am Schlafittchen gepackt hielt, auch nur eine Sekunde lang zu lockern, vermöbelte er die Angreifer, die gar nicht recht wussten, wie ihnen geschah. So eine Show bekam die Nachbarschaft höchst selten geboten, so dass sich alsbald dutzende von Schaulustigen einfanden, welche, auf einmal mutig geworden, nun ihrerseits die, in arge Bedrängnis geratenen, Gangster beschimpften und mit Gegenständen, welche sich gerade in Reichweite befanden, zu bewerfen begannen. Derart gedemütigt, winselten die Strolche um Gnade. Chong ließ sie ihre Taschen lehren und übergab das, auf diese Weise zusammengekommene, Geld als Entschädigung dem total verdatterten Jeab. Um die Erniedrigung perfekt zu machen, verlangte Chong Ng von den Gangstern noch einen dreifachen Kotau vor Jeab mit der Bitte um Verzeihung, bevor er sie endlich entließ. Die Bande wurde in dem Viertel nie mehr gesichtet und der Siamese genoss mit einem Mal großes Ansehen, da er sich so tapfer widersetzt hatte. Seither pflegten die beiden eine gute Bekanntschaft. Kurz bevor sie seinen Laden erreichten, rief Chong Ng mit lauter Stimme: „Sei gegrüßt Jeab!“ Der Angerufene kam hinter einigen Girlanden getrockneter Chilischoten, die von der Holzdecke hingen, hervor und lächelte voller Freude, als er erkannte, wer da zu Besuch gekommen war. „Ah, mein strahlender Held aus vergangenen Tagen“, grüßte er zurück. Chong Ng lachte. „Wie laufen die Geschäfte, mein Freund?“, fragte er. „Nicht übel, nicht übel. Ich glaube, ich kann schon bald meine Familie nachkommen lassen.“ Jeab hatte Frau und Kinder bei Verwandten in Siam zurückgelassen, denn er wollte zunächst herausfinden, ob er sich in Singapur mit seinem Geschäft etablieren konnte, bevor er sich komplett hier niederließ. „Na, dann ist es mit deinem Lotterleben als Strohwitwer ja endgültig vorbei“, bemerkte Chong mit einem Augenzwinkern. „Erinnere mich nicht daran. Komm’ lieber rein und setz dich. Kann ich dir irgendetwas anbieten?“, fragte Jeab. Dabei fiel sein Blick auf die beiden Arbeiter mit ihren Transportrikschas. „Hast du vor etwas Größeres bei mir einzukaufen?“ Chong lächelte gequält. „Jeab, es fällt mir nicht leicht, aber ich muss dich heute um einen großen Gefallen bitten. Es ist nicht für mich, ein alter Freund von mir sitzt in der Patsche und ich will ihm gerne helfen.“ Sie setzten sich auf zwei einfache Hocker im Schatten des Ladens. „Um was geht es denn?“, wollte der Siamese wissen. „Das ist eine längere Geschichte. Letztendlich läuft es darauf hinaus, dass ich 100 Fläschchen von deiner exzellenten Chicken Essence benötige.“ Mit dem Lob in Bezug auf die Qualität des Gesundheitselixiers hatte Chong durchaus nicht übertrieben. Schon bei früherer Gelegenheit hatte er einmal davon probiert und war sehr positiv überrascht gewesen. Unter anderem deswegen kauften auch immer mehr Chinesen bei Jeab ein. „100 Fläschchen, das ist mein gesamter Lagervorrat! Da bleiben mir ja nur noch die rund 30 hier vorne im Laden. Die Ware wird bei mir sehr stark nachgefragt, was soll ich da meinen Kunden sagen?“ „Nun, zufälligerweise habe ich vom Hafenmeister gehört, dass er bis spätestens Übermorgen ein neues Schiff aus Krung Thep erwartet. Da würde es mich doch sehr wundern, wenn nicht auch für dich wieder Nachschub dabei wäre“, konterte Chong Ng. „Dir kann man wohl gar nichts vormachen, wie?“ „Hm, schwerlich“, der Chinese lächelte und legte dabei seinen Kopf leicht schräg. „Also gut“, lenkte Jeab ein, „ich nehme an, du willst sie nicht zum regulären Preis kaufen, stimmt’s?“ „Jedes Mal von neuem bewundere ich deinen Scharfsinn.“ Beide lachten. „Wie viel zahlst du im Einkauf“, wollte Chong wissen. „Umgerechnet 2 Schilling 6 Pence.“ „Wärst du damit einverstanden, wenn ich sie dir für vier Schilling pro Fläschchen abkaufe?“ „Hm“, Jeab runzelte die Stirn. „Chong, ich würde dir die ganze Ware sogar schenken, denn ohne dich gäbe es mich wahrscheinlich gar nicht mehr“, gestand er. „Nun übertreib’ mal nicht“, wiegelte Chong ab. Ich will auch nichts geschenkt von dir, nur einen Gefallen. Du verkaufst die Chicken Essence für 5 Schilling 6 Pence, richtig?“ Der Angesprochene nickte. Bei der Menge von 100 Stück würdest du mir eh einen kleinen Rabatt einräumen, sagen wir 6 Pence pro Fläschchen. Damit verzichtest du insgesamt auf 100 Schilling, oder 5 Pfund Sterling, Gewinn. Das mache ich an anderer Stelle wieder gut.“ „Das brauchst du nicht“, winkte der Siamese ab. „Aber wenn es sich trotzdem einmal zufällig ergeben sollte, wäre ich nicht undankbar“, fügte er noch lachend hinzu. So einigten sich beide und Chong wies Zhao und Wee an, jeweils 50 Fläschchen aus Jeabs Lager auf ihre Karren zu laden. Anschließend zahlte er an Jeab 20 Pfund Sterling und sie verabschiedeten sich herzlich voneinander. Als die Transportrikschas fertig beladen waren, machten sie sich zu dritt auf den Weg. Einen Teil der Strecke liefen sie gemeinsam, während dessen informierte Chong Zhao und Wee, dass sie die Ware zu Rotnase bringen und den Kaufpreis von 25 Pfund Sterling danach bei ihm im Shophouse abliefern sollten. Er selber wollte sich in seinem Lieblings Nudelrestaurant noch eine kleine Stärkung zu Gemüte führen, bevor er Siu Li entgegentrat.

Die Bezeichnung Restaurant war eigentlich maßlos übertrieben. Es handelte sich lediglich um einen kleinen, überdachten Stand im Schatten eines großen Regenbaumes, mit ein paar Tischchen und Hockern davor. Aber die Nudelsuppe mit Fleischeinlage, sowie die Wontonsuppe, schmeckten ganz vorzüglich. Chong grüßte den Restaurantbesitzer Hsiao, der in persona auch Koch und Kellner war und bestellte sich eine Nudelsuppe mit Entenfleischeinlage. Er machte es sich auf dem einzigen freien Hocker bequem, von dem gerade jemand aufgestanden war und sah in die Runde. Alle Tischchen waren voll besetzt. Manche der Gäste standen sogar und hielten sich die dampfende Porzellanschüssel mit der einen Hand vors Gesicht, während sie, in der anderen Hand die Essstäbchen haltend, deren Inhalt in sich hineinschlürften. Andere hatten sich vor den Baum gesetzt und lehnten nun mit ihren Rücken an dessen Stamm. Chong Ng dachte über die beiden, heute Vormittag, getätigten Händel nach. Der Letztere mit Kai Shen war nicht besonders ertragreich gewesen, doch mit den Futons hatte er 126 Silbertael Gewinn gemacht. So ein gutes Geschäft kam nicht allzu häufig vor. Hsiao kam mit der Bestellung und unterbrach damit kurz Chongs Gedankengänge. Der pustete erst mal in die dampfende Suppe, die noch viel zu heiß zum Essen war. Er überlegte gerade, ob er sich von einem Teil des Geldes vielleicht einen kleinen Luxus gönnen sollte, als er jemand seinen Namen rufen hörte. Verdutzt blickte er auf und sah sich um. Tatsächlich, da kam Ho auf ihn zu gelaufen und winkte ziemlich aufgeregt. „Chong Ng, du musst sofort mitkommen, es ist etwas schlimmes passiert!“, brachte er, ganz außer Atem, hervor. Chong erhob sich sofort, nahm Ho ein wenig auf die Seite und fragte ihn, was denn geschehen sei. „Ein Polizist hat Wong verhaftet!“, bekam er als Antwort. Für eine Sekunde wurde er ganz starr vor Schreck, dann gewann er seine Fassung wieder und hakte weiter nach. „Wann und wo und was für ein Polizist war das?“ „Vor einer knappen Stunde, es war nicht mehr weit zum Händler Wen. Wir liefen auf der Strasse, ich voraus und Wong ein Stück hinterher. Da geht doch so ein Ang Moh (in Singapur allgemein gebräuchlicher Ausdruck für Weiße) aus einem Teehaus direkt auf die Straße, ohne sich dabei umzusehen. Wong hat bei dem Gewicht auf dem Karren gar nicht erst versucht zu bremsen, was letztendlich sogar besser war, denn so ist der Ang Moh genau in die Futons hinten drauf gerannt. Von dort ist er dann ziemlich weich abgeprallt und hat sich schließlich auf seinen Hosenboden gesetzt. Die umstehenden Leute haben sich ausgeschüttet vor Lachen, muss wohl ziemlich lustig ausgesehen haben. Zumindest hat es mir einer der Passanten so erzählt, denn bis ich meine Rikscha zum Stehen brachte, war alles schon vorbei. Der Ang Moh stand wieder auf, klopfe sich den Staub aus den Kleidern und lief ganz rot an, vor Zorn und Scham. Dann hat er den armen Wong zusammengeschissen, aber du weißt ja, wir können nur ein paar Brocken Englisch. Der hat den Mann also nur verständnislos angeglotzt und wollte sich schon wieder auf den Weg machen, da dem Engländer ja nichts weiter passiert war. Da zückt der auf einmal eine Polizeimarke und wedelt damit herum. Die anderen Leute haben sofort aufgehört zu lachen und sich verdrückt. Der Ang Moh hat weiter auf Wong eingeredet und wollte wohl irgendein Papier von ihm sehen. Wong hat nur den Kopf geschüttelt. Der Polizist hat ihn schließlich gepackt und abgeführt, mitsamt dem Karren. Ich bin ihnen bis zur großen Polizeiwache gefolgt. Beide sind ins Gebäude gegangen, die Rikscha wurde in Verwahrung genommen. Ich konnte weiter nichts machen, also habe ich mich dazu entschieden erst mal die Ware abzuliefern und dich dann zu suchen. Dem Händler Wen habe ich erzählt, dass der zweite Teil der Lieferung bald nachfolgt. Dann bin ich zuerst zu deinem Laden gelaufen und habe eine Weile dort gewartet, bis ich auf die Idee kam, hier bei deinem Lieblingsrestaurant nach dir zu suchen“, so sprudelte es aus Ho heraus. „Das hast du gut gemacht. Komm mit, wir gehen sofort zu dieser Polizeiwache“, sagte Chong mit festem Ton. Zuvor zahlte er aber noch für sein Essen und entschuldigte sich bei Hsiao, dass er dringend weg musste. Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick Richtung Suppenschüssel und einem sich deutlich zu Wort meldenden Magen, ließ er diesen Ort kulinarischer Genüsse des einfachen Mannes hinter sich. Wieder im Laufschritt ging es zu besagter Polizeiwache. Dort angekommen, bat er Ho besser draußen zu warten. Alleine betrat er das große Gebäude aus Ziegelstein und wandte sich im Eingangsbereich an den diensthabenden Sergeant, der hinter einer Art Pult thronte. „Guten Tag Sergeant. Vor gut einer Stunde wurde einer meiner Angestellten, ein gewisser Wong, verhaftet und hierher gebracht. Ich würde gerne mit ihm sprechen“, sagte er in astreinem Oxford Englisch. Der Polizist blickte von seinem Pult auf, wo er anscheinend gerade dabei war, etwas in ein Buch einzutragen. „Hm, Wong sagen Sie. Ja, ich kann mich erinnern, aber der wurde nicht verhaftet, sondern nur zur Befragung hierher verbracht. Er sitzt jetzt in einem der Verhörzimmer.“ „Was denn, wird er gerade verhört?“, fragte Chong leicht erschrocken. „Aber nein, nur der Übersetzter hat momentan noch anderweitig zu tun und da lassen wir ihn eben dort so lange warten.“ Das war erst mal eine gute Nachricht. Als Ho ihm berichtete, Wong sei von einem Polizisten verhaftet worden, hatte er schon das schlimmste befürchtet. Jetzt schien das ganze doch nicht so dramatisch zu sein. „Vielleicht kann ich auch behilflich sein. Wer ist denn der verantwortliche Polizeioffizier?“, fragte Chong. „Inspektor Wigglesworth hat Ihren Mann hergebracht.“ „Würden Sie mir freundlicherweise mitteilen, wo ich den finden kann?“ „Selbstverständlich. Am ende der Halle, ganz hinten links ist sein Office.“ „Vielen Dank. Wenn Sie mir noch eine letzte Frage erlauben. Arbeitet dieser Inspektor schon lange hier?“ „Im Gegenteil, der ist noch ganz frisch. Gerade letzte Woche aus London hier eingetroffen. Der hat noch Hummeln im Hintern, wenn Sie verstehen, was ich meine. Will hier unbedingt Karriere machen“, fügte der Sergeant noch mit einem Grinsen hinzu. „Vielen Dank noch mal für die Auskunft“, verabschiedete sich Chong Ng. Er wandte sich um und durchschritt die Halle in der vom Sergeant angegebenen Richtung. Einige Schreibtische standen dort großzügig verteilt, an welchen uniformierte Polizisten saßen und entweder Protokolle erstellten oder einfach miteinander plauderten. Eine dünne Holzwand trennte einige kleine Offices vom Rest der Halle ab. Vor dem letzten blieb Chong stehen und klopfte leise an das in den Holzrahmen der Tür eingefasste Glas. „Ja bitte“, erscholl eine kräftige Stimme von innen. Er öffnete die Tür und trat ein. „Verzeihen Sie bitte die Störung Inspektor. Mein Name ist Chong Ng, Händler. Ich bin hier wegen Mr. Wong, den Sie vor einer guten Stunde aufs Polizeirevier gebracht haben.“ Der Angesprochene erhob sich und reichte Chong die Hand. „Gestatten, Wigglesworth. Francis Bartholomew Wigglesworth. Der Inspektor war sehr schlank und groß gewachsen. Er hatte mittelblonde Haare, dunkelblaue Augen und sein Gesicht zierte eine große Nase, sowie ein Backen- und ein Schnauzbart, der ihn ein wenig älter wirken ließ. Chong Ng schätzte ihn auf Anfang bis Mitte 20. Der Engländer trug einen hellen Tweed Anzug aus leichter Sommerwolle. Wigglesworth war der drittgeborene Sohn einer alten Offiziersfamilie. Sein Vater hatte es in der königlich britischen Armee bis zum Major General gebracht. Der älteste Bruder tat es dem Vater nach und war Offizier bei den Horse Guards. Dem mittleren männlichen Sprössling, es gab außerdem noch vier Schwestern, hatte der Vater ein Studium der Theologie und Philosophie finanziert, da er sich zur Kanzel berufen fühlte. Der junge Francis hingegen vermochte weder dem Schlucken von Kasernenstaub noch dem Sermon der anglikanischen Kirche einen besonderen Reiz abzugewinnen und entschied sich, hinsichtlich der beruflichen Familientradition, jungfräuliche Pfade zu beschreiten. Der Vater erlaubte ihm, ein Studium der Rechtswissenschaften aufzunehmen, welches er auch mit Erfolg abschloss. Um Richter oder Staatsanwalt zu werden, respektive die höhere Laufbahn eines Ministerialbeamten einzuschlagen, hatte er die erforderliche Examensnote jedoch knapp verfehlt. Sich in der manchmal stürmischen See des freien Marktes als selbständiger Anwalt zu behaupten, lag nicht in seinem Blut. Da zog er doch den sicheren Hafen des Staatsdienstes bei weitem vor. Als einzige Option blieb hier nur, den Polizeikräften ihrer Majestät beizutreten. Aufgrund seiner akademischen Vorbildung, wurde er sogleich als Inspektor eingestellt. Mit einem gesunden Ehrgeiz ausgestattet, strebte Francis nun an, so bald als möglich die Karriereleiter empor zuklettern, sah sich hier aber einer schier überwältigenden Anzahl Gleichgesinnter ausgesetzt, größtenteils dazu noch weit älter und erfahrener. Seine einzige Chance sah er darin, sich freiwillig für den Dienst in den Kolonien zu melden, dort schnell einen Namen zu machen und mit einem höheren Rang ausgestattet, alsbald in die, seiner Ansicht nach, einzig lebenswerte Metropole der Welt zurück zu kehren: London. So kam es, dass ihn die Polizeiadministration schließlich nach Singapur versetzte.

Der hoch gewachsene Brite setzte sich wieder und bot Chong einen Platz gegenüber an. „So, dieser Wong, der mich beinahe umgerannt und dann auch noch mit seinem Karren überfahren hätte, gehört also zu ihren Leuten“, hob er an. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, für dieses unverzeihliche Missgeschick. Natürlich übernehme ich die volle Verantwortung, schließlich habe ich Mr. Wong extra zur Eile angetrieben“, versuchte Chong dem Inspektor gleich zu Beginn den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Nun gut, Gott sei Dank ist ja nicht viel passiert. Ich bin quasi mit dem Schrecken und einem leicht lädierten Allerwertesten davongekommen“, lenkte dieser ein. Chong Ng atmete innerlich tief durch, seine Strategie der sanften Töne schien anzuschlagen. „Für die Zukunft sollten Sie ihren Transporteur aber wirklich anweisen im Straßenverkehr besser Acht zu geben“, mahnte Wigglesworth. „Selbstverständlich Herr Inspektor, ich werde ihm umgehend die Leviten lesen. So etwas wird nie wieder vorkommen. Darf ich Mr. Wong jetzt mitnehmen?“, fragte Chong und wollte sich bereits erheben. „Ah, da wäre nur noch eine Kleinigkeit Mr. Ng. Weshalb ich den Verkehrsrowdy eigentlich mitgenommen habe und weiter befragen wollte. Als ich ihn nach dem Lieferschein für seine Fuhre fragte hat mich Mr. Wong nur verständnislos angeblickt und den Kopf geschüttelt. Es kam mir beinahe so vor, als schien er überhaupt nicht zu wissen, was ein Lieferschein ist. Vielleicht mag es aber auch ein ganz schlichtes Verständigungsproblem gewesen sein. Es kann offensichtlich nicht mehr als ein paar Brocken Englisch. Sie können mir da sicherlich weiterhelfen Mr. Ng, haben Sie den Lieferschein wohl zufällig zur Hand?“, fragte Wigglesworth. Chong schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Warum wollte der Inspektor unbedingt den Lieferschein sehen, den es natürlich nicht gab. Wusste er vielleicht etwas von seinem Deal mit Fong? Nein, das war schlicht unmöglich, er war rein zufällig in die Rikscha von Wong gelaufen. Außerdem war er erst seit kurzem in Singapur und konnte noch gar nicht die Verbindungen haben um an solche Informationen zu gelangen. Was war es dann? Vielleicht einfach nur eine Kombination aus leicht verletztem Stolz, da er auf offener Straße wegen dem kleinen Unfall ausgelacht worden war und dem Übereifer eines ehrgeizigen jungen Beamten. Der Inspektor suchte nach einem Fehler, um Wong und ihm eins für die versetzte kleine Ehrschädigung auszuwischen. Ja, das musste es wohl sein. Chong ging in die Offensive und versuchte, ihn ein wenig zu verunsichern. „Verehrter Inspektor Wigglesworth, es scheint mir, dass Sie sich erst kurze Zeit in Singapur aufhalten. Erlauben Sie mir, ihnen die Situation etwas näher zu bringen. Lieferscheine sind hier größtenteils noch völlig unbekannt. Fast der gesamte Handel zwischen Chinesen und Malaien, was über 80% des Gesamtvolumens ausmachen dürfte, wird quasi per Handschlag abgeschlossen und sofort oder bei Lieferung bezahlt, ohne dass auch nur ein Fetzen Papier dabei beschrieben würde. Nur beim Handel mit, oder unter den Briten und anderen Ausländern, kommt besagter Lieferschein zum Einsatz.“ Der Polizist staunte. „Es ist mir ein Rätsel, wie sich eine ordnungsgemäße Buchführung gewährleisten lässt, ohne Rechnung zum entsprechenden Eintrag im Kontenbuch und abgezeichnetem Lieferschein zur jeweiligen Rechnung.“ „Sie kennen sich aber sehr gut im kaufmännischen Bereich aus. Ist das ihr Ressort, Herr Inspektor?“ „Ähem, nein“, räusperte sich dieser, „ich bin Kriminaler, aber ich blicke immer gerne ein wenig über den Tellerrand hinweg.“ „Verstehe Sir, eine überaus lobenswerte Eigenschaft für einen Polizisten, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Was die Buchführung anbelangt, so haben wir Asiaten natürlich noch sehr viel von den Briten zu lernen“, glättete Chong Ng ab. Insgeheim dachte er sich, dass sein Volk bereits über eine ordnungsgemäße Buchführung verfügte und selbige auf gebundenen Papierbänden festhielt, als die Briten noch Kelten hießen und gerade von den Römern verdroschen wurden. Wigglesworth war jedoch für derartige Schmeicheleien nicht ganz unempfänglich und bohrte nicht weiter in dieser Richtung. „Nun gut, wenn das so ist, habe ich keine weiteren Fragen, Sie können ihren Mann gleich mitnehmen.“ „Vielen Dank, Herr Inspektor“, sagte Chong erleichtert, „ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt in Singapur.“ Beide Männer erhoben sich und reichten sich nochmals die Hand zum Abschied. „Vielen Dank, Mr. Ng und Ihnen wünsche ich noch viele erfolgreiche Geschäfte.“ Chong Ng durchquerte die Halle bis zum Pult des Sergeant vom Dienst und erklärte diesem, dass alle Fragen mit dem Inspektor geklärt seien und er seinen Mitarbeiter nun mitnehmen dürfe. Zum Zeichen, dass die Sache in Ordnung ging, hob Wigglesworth, der im Türrahmen seines Office stand, die Hand. Der Sergeant zeigte ihm das Verhörzimmer, wo der Tagelöhner, wie ein Häuflein Elend, auf einem Stuhl saß. „Komm mit Wong, ich habe alles geklärt, wir können gehen“, sagte Chong und nickte ihm aufmunternd zu. Dieser erhob sich so langsam, als würde eine tonnenschwere Last auf ihm liegen. Dann schlurfte er durch den Raum zur Tür, wo Chong ihn in Empfang nahm und beide schließlich das Gebäude verließen. Draußen vor der Polizeiwache konnte er nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus. „Es tut mir so leid Chong Ng, ich wollte dich wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber der Ang Moh ist mir einfach rein gelaufen, ich konnte gar nichts machen. Und dann stellt er sich auch noch als Polizist raus.“ „Nun beruhige Dich Wong“, Chong klopfte ihm auf die Schulter, „ich weiß, du kannst nichts dafür und du hast mich auch nicht in Schwierigkeiten gebracht. Es ist alles mit dem Inspektor geklärt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Sie holten den Karren aus der Verwahrung und gingen zurück zur Straße. „Ich halte es für besser, wenn Ho die Lieferung zu Wen übernimmt, dann sieht es so aus, als hätte er den Transportauftrag alleine übernommen und auf zwei Fuhren aufgeteilt“, erklärte Chong. Ho nickte und machte sich gleich auf den Weg. „Und du gehst erst mal etwas kräftiges Essen und Trinken, auf den Schreck hin“, damit drückte Chong dem immer noch schniefenden Wong einen halben Schilling in die Hand und verabschiedete sich einstweilen. „Wir treffen uns später alle bei meinem Laden, ich muss mich beeilen, habe noch einen Termin mit der Drachenlady von vorhin.“ Die letzten Worte sprach er bereits im gehen.

Die Gelegenheit und ihr Dieb

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