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Kapitel 1

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Zwei Wochen später

Langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Der Fensterplatz ermöglichte es Niko, das Flughafengebäude von Wien vor der aufgehenden Sonne zu sehen und die unterschiedlichen Flugzeuge zu betrachten. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt geflogen war, aber es gelang ihm nicht. Die letzten Jahre waren geprägt von falschen Freunden, Einbrüchen, Diebstählen und einem Aufenthalt hinter Gittern. Sein letzter Flug war in der Kindheit gewesen, damals noch als Familie mit seiner Mutter und seinem Bruder. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt.

Beim Blick auf die Uhrzeit, 06:13, dachte er daran, dass er noch vor 24 Stunden keine Ahnung davon hatte, was ihn erwarten würde. Während das Flugzeug abhob, schloss er die Augen und erinnerte sich, wie der gestrige Tag verlaufen war.


Tags zuvor16:50 UhrNach einem langen Arbeitstag im Fitnessstudio entspannte Niko auf seiner Couch. Vor ihm lagen die auf dem Heimweg gekauften Zeitschriften, die sich mit den Themen Kampfsport, Messern und Survival beschäftigten.Er wollte gerade aufstehen, als sein Handy läutete.»Martin, grüß Dich. Wie geht ...«»Ich brauche Deine Hilfe, Niko. Es betrifft Denise, ich hoffe, Du kannst mir helfen. Wo bist Du?« Der Anwalt klang aufgeregt, nervös.»Was ist passiert?«»Sie ist weg! Meine Tochter ist abgehauen!« Martin schrie förmlich vor Aufregung.»Ich kann in zwanzig Minuten bei Dir daheim sein.«Während der Autofahrt dachte Niko über die achtzehnjährige Tochter seines Freundes nach. Er war schon einige Male mit dem Paar und den Kindern unterwegs gewesen und hatte Denise als ruhiges, besonnenes Mädchen kennengelernt. Von Martins Erzählungen wusste er, dass sie die Schule abgeschlossen hatte und studieren gehen wollte.Martin und Claudia standen im Wohnzimmer, beiden war die Aufregung anzusehen.»Schuld ist dieser Grieche. Er hat ihr diese Flausen in den Kopf gesetzt«, fluchte Claudia.»Das wissen wir nicht. Vielleicht hat sie auch selbst ...«»Nein, sie ist ein braves, kluges und verantwortungsvolles Kind. Sie würde niemals von alleine auf solche verrückten Ideen kommen.«Niko bat, ihm die Geschichte in Ruhe zu erzählen.Martin drückte ihm eine geöffnete Flasche Bier in die Hand und holte sich eine weitere, während er anfing zu berichten.»Diese Liebesgeschichte, wegen der Denise weg ist, hat letzten Herbst angefangen. Ich hatte einen Mandanten aus einem österreichischen Unternehmen mit Sitz in Athen. Da die Besprechungen für vier Tage angesetzt waren und genau auf die Woche fielen, in der Denise und Paul nur zwei Schultage hatten, sind wir alle geflogen.«Martin nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Er hatte große Mühe, seine Erregung zu unterdrücken.»Denise hat diesen Jungen am ersten Abend in der Hotelbar kennengelernt. Auf den ersten Blick ein ganz netter Kerl.«»Wie heißt er, was kannst Du mir über ihn verraten?«, unterbrach Niko. Er blickte über die schwach beleuchtete Stadt unter ihnen und wirkte abwesend. Doch der Eindruck täuschte, er war darauf konzentriert, jede Einzelheit zu speichern.»Aléxandros, den Nachnamen weiß ich nicht. Er ist drei- oder vierundzwanzig und studiert Medizin. Angeblich ist er sehr flott und so gut wie fertig. Er lebt mit zwei Freunden am Stadtrand Athens, jedenfalls war es damals so.Seit ihrem ersten Treffen waren Denise und er unzertrennlich. Er hat Sightseeing-Touren und einen Chauffeur für uns organisiert und meine Tochter jeden Abend heimgebracht. Ich weiß, dass er mehrmals die Nacht bei ihr verbracht hat.«»Was mich schon damals gestört hat«, sagte Claudia, die aufgewühlt neben der offenen Terrassentür auf und ab ging.»Eine typisch, kitschige Ferienliebe. Wie ging es weiter?«»Nach der Woche blieben die beiden in Kontakt. Jeden Tag ist sie stundenlang vor dem PC gesessen und hat mit ihm geschrieben oder gesprochen. Ein schwerer Fall von Liebeskummer, der sich aber nicht auf ihre Noten ausgewirkt hat.«»Denise war immer schon eine sehr gute Schülerin. Ihr war die Schule wichtig und sie wollte studieren. Und jetzt wirft sie alles hin, nur um zu diesem Jungen abzuhauen. Das passt nicht zu ihr, er hat sicherlich ...«, meinte Claudia aufgeregt.»Sie wird nicht viel nachgedacht haben. Blind und naiv vor Liebe.« Niko blickte zu Martin, um ihm weiter zuzuhören.»Vor drei Monaten, Mitte Juni, ist Aléxandros zu Besuch gewesen. Denise hat ihm Wien gezeigt und er war auch mehrmals bei uns. Er hat von seinen Plänen erzählt, nach dem Studium nach Wien zu ziehen, da die Chancen in Griechenland zurzeit eher schlecht sind. Ein sehr vernünftig klingender Mann ...«»Vernünftig? Er hat unserer Tochter den Kopf verdreht und jetzt ist sie alleine in einer fremden Stadt.«Im Gegensatz zu Martin ließ sich Claudia nicht beruhigen.»Sie wird nicht ganz unschuldig sein«, sagte Niko und erhob sich. Claudia reichte ihm ein gefaltetes Stück Papier.»Sie hat nur diesen Zettel hinterlassen.«»Keine Sorge, mir geht es gut. Ich kann einfach nicht ohne Aléxandros leben und er hat mir angeboten, mit ihm ein eigenes Leben aufzubauen.Bitte versucht mich zu verstehen, ich liebe ihn und muss bei ihm sein. Hab Euch lieb , Denise«»Kein Hinweis, wohin sie geht, oder ob sie sich meldet. Wir kommen hier um vor Angst und sie ...«»Wie soll ich helfen?«, fragte Niko.»Wir vermuten, dass sie nach Athen geflogen ist.«Niko sah seinen Freund an.»Ich soll nach Athen und sie holen?«»Da Du Griechisch sprichst, habe ich gedacht ...«»Gib mir ein Bier und eine Stunde Zeit, dann weiß ich mehr, um sie zu finden.«»Du klingst sehr zuversichtlich.«»Sie ist jung, verliebt und naiv.«Zu dritt suchten sie Denises Zimmer auf, wo sich Niko umgehend mit ihrem Computer beschäftigte. Nachdem Martin die Logindaten eingegeben hatte, durchforstete Niko alle Ordner und gespeicherten Internetseiten der jungen Frau. Schnell kam er auf diverse Hotel- und Flugseiten. Als er den Internetverlauf studierte, musste er der jungen Frau kurz in Gedanken gratulieren. Sie hatte nach Hotels in Athen, Korfu, Kreta und Rhodos gesucht, um ihre Spuren zu verwischen.

»Gab es in letzter Zeit oft Streit?«, fragte er nach.»Naja ...«»Sei ruhig ehrlich, Claudia. Natürlich gab es den. Denise wollte unbedingt nach Griechenland und wir haben ihr klargemacht, dass sie sich auf die Uni konzentrieren soll. Sie war im Sommer zwei Wochen mit Aléxandros auf Kreta. Nachdem sie zurückgekommen ist, hat sie nur geheult und wollte zurück zu ihm.«»Wieso Kreta?«, wollte Niko wissen, der bei der Erwähnung der Insel zusammenzucke.»Seine Eltern leben dort«, erklärte Martin.Bitte nicht Kreta, durchfuhr es Niko.»Erst vor Kurzem hat sie uns an den Kopf geworfen, dass wir ihr Leben zerstören und sie es uns nie verzeihen wird ...«»Seit wann genau ist sie weg?«, bohrte Niko weiter nach.»Sie hat vor einer Woche einen mehrtägigen Ausflug mit ihrer Freundin geplant. Erst gestern haben wir zufällig erfahren, dass dies gelogen war.«Niko öffnete einen Ordner mit Bildern und sah sich die Miniaturansichten durch. Martin hörte sein Telefon und ließ seinen Freund mit seiner Frau alleine im Zimmer.»Zuerst muss ich wissen, wohin sie geflüchtet ist«, überlegte Niko.Er ging davon aus, dass die Flucht wohlüberlegt war. Denise musste obendrein davon ausgehen, dass ihre Eltern sie suchen würden.»Nach Athen, wohin sonst? Zu diesem Alex«, gab sich Claudia überzeugt.Niko öffnete ein Bild. Darauf war Denise zu sehen, wie sie in Unterwäsche auf ihrem Bett saß. Mit einem verführerischen Lächeln und großen Augen blickte sie in die Kamera. Niko wunderte sich kurz über ihre Frisur, er kannte sie nur mit langen, braunen Haaren, doch nun waren sie zu einem Pagenkopf zurechtgeschnitten.»Genau solche Fotos hat sie ihm geschickt«, meinte Claudia verärgert.»Das Bild hat eine sehr hohe Auflösung.«»Sie hat vor ihrem Urlaub auf Kreta eine neue Kamera von uns bekommen«, erklärte Claudia.Da Niko längere Zeit auf das Bild blickte, sah sie ihn skeptisch an.»Hilft es Dir, wenn Du sie so anstarrst?«»Sie ist mir egal, aber das hier ...«, er vergrößert einen Ausschnitt, »... könnte interessant sein.«Unter ihrem Oberschenkel lugte ein Reiseführer hervor. In der Vergrößerung war zu erkennen, dass es sich um ein Buch über Kreta handelte.»Das Bild ist vor zwei Wochen entstanden.«»Kreta? Dort war sie doch erst? Oder glaubst Du, sie ist wieder auf die Insel geflogen?«, Claudias Stimmung wechselte zwischen Verärgerung und Angst um ihre Tochter.Niko reichte ihr die leere Bierflasche und bat um ein weiteres. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sagen, dass es leichter wäre, wenn sie ihm nicht andauernd über die Schulter sehen würde.Als er alleine war, öffnete er den Ordner mit den Bildern von Denises Urlaub im Kreta und ging jede Aufnahme durch. Dabei kam ihm wieder in den Sinn, dass er gerade diese Insel immer meiden wollte und jetzt im Begriff war, genau dorthin zu fliegen.Die Fotos zeigten sie und Aléxandros in verschiedensten Situationen. Zusammen auf dem Zimmer, bei einer Shoppingtour durch einen Straßenmarkt, Bilder von einem Bootsausflug, eng umschlungen am Strand vor einer Bar. Dass nicht alle Fotos jugendfrei waren, interessierte ihn nicht. Bei einer Aufnahme von Denise beim Sonnenbaden an Deck eines Bootes blieb er hängen.»Sie hätte wenigsten ein Oberteil anziehen können«, meinte Claudia empört, die mit einer neuen Bierflasche hereinkam.»Ich weiß, wie eine Frau aussieht«, kommentierte Niko ihren strafenden Blick, »Gib mir noch zehn, zwanzig Minuten alleine, dann komme ich zu Euch hinaus.«Obwohl sie offensichtlich wenig begeistert von seiner Aufforderung war, ließ sie ihn alleine im Zimmer.Eine halbe Stunde später erschien Niko bei dem Paar auf der Terrasse. »Weißt Du, wo sie ist?«»Ja.«»Du bist Dir ganz sicher?«, hakte Claudia nach.Niko legte einige ausgedruckte Fotos auf den Tisch.»Es war eine gute Idee, ihr einen neuen Fotoapparat zu besorgen. Eine der vielen Funktionen der Kamera ist die Möglichkeit, Fotos via WLAN gleich an einen Computer zu schicken. Oder, wie es hier der Fall war, auf ihren Dropbox-Account. Sie hat in den letzten Tagen einige Bilder gemacht.«Insgesamt vier Bilder hatte er ausgedruckt und ihnen vorgelegt.Auf dem ersten standen Denise und Aléxandros auf eine Straße, links davon eine Strandbar. An der Steinmauer war der Name der Bar deutlich zu lesen: »Porto Paradiso«Rechts war ein Sandstrand mit einigen Liegen zu sehen. Hinter ihnen führte eine Straße den Hügel hinauf, vorbei an Souvenirläden und Lokalen. Auf dem zweiten stand Denise auf einem hohen Felsen, hinter ihr war ein Strandabschnitt mit Lokalen zu sehen. Es war derselbe Strandabschnitt, an dem auch das vorige Bild entstanden war, nun war mehr von der Ortschaft zu erkennen. Beim nächsten Bild verdrehte Claudia erneut die Augen. Denise lag hüllenlos auf einer Sonnenliege und ließ die Sonne auf ihren Rücken scheinen.»Schon wieder«, stöhnte Claudia auf.»Vergiss den Hintern. Sie ist nackt und vermutlich auf einer privaten Terrasse. Im Hintergrund sieht man einen Berg, davor eine Küstenstraße«, erklärte Niko. Er legte eine ausgedruckte Karte von Kreta dazu.»Wenn man die Bilder als Anhaltspunkt nimmt, kommt man zum Ort Bali. Derselbe wie im Sommer.«»Also wird sie jetzt in Kreta sein?«»Auf jeden Fall vor zwei Tagen. Deshalb werde ich an diesem Ort anfangen. Wenn sie nicht mehr dort ist, wird man mir sicherlich weiterhelfen.«»Wer sind die anderen zwei Personen?«, fragte Martin und deutete auf das letzte Bild.Denise und Aléxandros saßen zusammen mit einem älteren Herrn und einer Jugendlichen beim Abendessen an einem reichlich gedeckten Tisch im Freien. Die junge Frau fiel dabei besonders auf. Ihre Haare waren blond mit knallroten Strähnen. Auf der Lippe trug sie ein silbernes Piercing. Auch in der Rinne zwischen Nase und Oberlippe blitzte ein kleiner Stein.»Könnten Vater und Tochter sein. Jedenfalls kennen sie Denise. Ich werde sie suchen und fragen, wo Eure Ausreißerin ist.«»Und wenn keiner etwas verraten will?«, fragte Claudia.»Ich werde erfahren, wo sie ist«, war sich Niko sicher.Martin deutete auf sein Smartphone.»Der nächste Flug geht schon morgen früh. Ist das ein Problem für Dich?«»Nicht für mich, aber ich habe einen Job und einen Bewährungshelfer.«»Darum kümmere ich mich«, versicherte ihm Martin, »Natürlich auch um die Kosten für die Unterkunft und den Mietwagen.«»Das klingt fast wie Urlaub. Ich hatte schon sehr lange keinen Urlaub mehr.«»Wenn Du Dich ein, zwei Tage erholst, soll es kein Problem sein ...«»Hauptsache, Du bringst Denise so schnell wie möglich wieder zurück«, warf Claudia ein.»Sie ist nicht in Gefahr. Ich werde sie ausfindig machen, in den nächsten Flieger setzen und zurückkommen. Das wird keine große Sache werden.«»Das glaube ich auch. Es wird ein Spaziergang für Dich, inklusive etwas Urlaub«, meinte Martin zuversichtlich. Niko besaß nicht viel, weshalb das Einpacken sehr schnell erledigt war. In einer Schublade hatte er seine Messersammlung untergebracht. Ein Schweizer Taschenmesser mit unzähligen Funktionen, einigen Wurfmessern, Klappmessern und eine 30cm lange Machete befanden sich darin. Ohne nachzudenken, packte Niko seinen Umhängerucksack. Nur als Glücksbringer, sagte er zu sich, als ein weiteres Klappmesser in die Tasche wanderte. Als würde ich diese Dinge wirklich brauchen. Trotzdem landeten neben seinem Taschenmesser und einem Wurfmesser noch eine Box mit Survivalutensilien und ein Dietrich-Set in seinem Gepäck. An Schlafen war nicht zu denken. Immer wieder kreisten seine Gedanken um seine Mutter, Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit kamen hoch.»Warum gerade Kreta?«, fragte er sich. Martin hatte ihm nahegelegt, auch ein paar Tage Urlaub zu machen, aber daran wollte er nicht denken. Kreta war seit dem Tod seiner Mutter zu einem Ort geworden, den er niemals besuchen wollte.»Das Schicksal mischt die Karten, aber wir spielen«, kam ihm die Stimme seines Bewährungshelfers in den Sinn.Was soll´s. Hinunterfliegen, die kleine Ausreißerin finden und mit ihr retour, das kann nicht so schwer werden, war er sich sicher.

Unter den Augen des Minotaurus

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