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Kapitel 3

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Der folgende Tag begann für Niko mit einem ausgiebigen Frühstück auf dem großzügigen Balkon vor seinem kleinen Studio. Von diesem aus sah er über den Strand und den Hafen hinweg zu dem markanten Berg auf der anderen Seite der Küstenstraße.

Er ließ sich Zeit, für den heutigen Tag war bislang nur geplant, dass sich Denise am späteren Vormittag vor dem »Porto Paradiso« einzufinden hatte.

Nachdem sie am Vorabend erfahren hatte, dass Niko nun über ihr Schicksal bestimmen würde, hatte sie ihm den ganzen Abend lang bereitwillig alles erzählt. Von ihrem Fluchtplan, von den ersten Tagen auf der Insel und wie ihre weiteren Pläne mit Aléxandros aussahen.

Niko hatte fast die ganze Zeit geschwiegen, musste aber zugeben, dass Denise alles sehr sorgfältig durchdacht hatte. Sie war vielleicht blind vor Liebe, aber sicherlich nicht unvorbereitet nach Kreta geflogen.

Als er die Stiegen zur Straße emporgestiegen war, erblickte er die beiden alten Männer.

Dieses Mal hatten sie eine Flasche mit honigfarbenem Inhalt vor sich stehen. Als sie ihn bemerkten, nickten sie ihm grüßend zu.

»Auch wenn er so grimmig schaut, im Herzen ist er ein guter Mensch.«

»Ein guter Mensch, aber immer noch auf der Suche.«

»Es wird nicht unser Problem sein. Kümmern wir uns lieber um diese Flasche Rakomelo.«

Mit diesen Worten öffnete er die Flasche und schenke seinem Gegenüber ein Glas ein.

Niko schmunzelte und überlegte kurz, ob er ihnen verraten sollte, dass er sie verstand. Er ließ es und machte sich auf den Weg zur Bar.

Denise erwartete Niko bereits und kam ihm entgegen.

»Bevor Du etwas sagst, habe ich einen Vorschlag für Dich. Aléxandros und Kira wollen mit uns nach Rethymno. Etwas shoppen und dann ...«

Niko nahm seine Sonnenbrille ab und sah auf sie herab.

»Du fragst mich ernsthaft, ob ich shoppen gehen mag?«

»Ja ... also, ich meine nur ... Du kennst die Insel ja noch nicht und die Stadt ist wirklich ... also eine schöne Stadt.«

»Und Du möchtest mich milde stimmen und mir zeigen, was für ein Traumpaar ihr seid.«

Denise schwieg und blickte betreten zu Boden. Für einen Moment hatte Niko Mitleid mit der jungen Frau.

»Wann geht es los?«, fragte er und erntete einen überraschten Blick.

Die halbstündige Fahrt nach Rethymno verlief in angespannter Ruhe. Aléxandros lenkte seinen Wagen wortlos über die Küstenstraße, neben ihm sah Kira mit versteinerter Miene aus dem Fenster. Denise blickte immer wieder verstohlen zu Niko, der mit geschlossenen Augen im Sitz versunken war. Seine Gedanken kreisten um seine Mutter, aber auch um seine Sitznachbarin. Es war ungewohnt für ihn, dass er über eine Person entscheiden sollte.

Von der Küstenstraße führte eine kurvige Straße hinab zum Hafen der Stadt. Niko öffnete die Augen, als sie auf einen Parkplatz neben der Küste einfuhren.

»Von hier kommen wir direkt in die Altstadt und die Promenade«, erklärte Aléxandros, »Ich nehme nicht an, dass unser Gast Interesse an einer Sightseeingtour zur Festung hat.«

Niko beachtete die spitze Meldung nicht und öffnete die Tür. Im nächsten Moment kam ihm ein Schwall heißer Luft entgegen. Die Klimaanlage des Wagens hatte über die tatsächliche Temperatur hinweggetäuscht.

Kira übernahm das Kommando und schritt voran. Zielstrebig marschierte sie durch die Gassen und führte sie zur Promenade.

Hier reihten sich Souvenirläden, Bekleidungsgeschäfte und unzählige Bars aneinander. Die Lokale boten eine schattige Sitzmöglichkeit mit Blick auf den Hafen und Strand von Rethymno, doch Kira steuerte eine Seitengasse an. Während Niko ihr wortlos folgte und sich dabei nur wenig umsah, gingen Denise und Aléxandros hinter ihm, die Hände fest ineinander verschlungen und flüsterten unentwegt.

In einer recht engen Gasse, die parallel zur Promenade verlief, hielt Kira an.

»Hier sind wir richtig. Egal ob nach links oder rechts, hier findet man alles, was es auf Kreta so gibt.«

Durch die hohen Häuser und die schmalen Gassen waren sie im Schatten, was die Temperaturen erträglicher machte. Niko sah sich um und bemerkte als Erstes die hölzernen Erker, die in den oberen Etagen der Häuser in die Gasse ragten. Zu seinen Füßen glänzten die glatten, dunkelgrauen Pflastersteine, während die Hauswände in hellen Farbtönen, meistens beige und weiß, strahlten. Zu beiden Seiten waren Geschäfte, die ihre Waren bis auf die Straße hinaus anboten. Neben den üblichen Souvenirs gab es auch Schwämme, jede Menge Gewürze, Vasen, Tischdecken und Lederwaren.

»Wer kauft auf Kreta eine Lederjacke?«, meinte er verwundert.

»Jemand, der die Qualität der Handarbeit schätzt und nicht nur den Sommer hier verbringt. Wenn die Touristensaison vorbei ist, wird es auch auf der Insel kühler.« Aléxandros versuchte, ihm in einer ruhigen Tonlage zu antworten, seine Abneigung gegenüber Niko war trotzdem deutlich herauszuhören.

Niko blickte ihn kurz missmutig an und wandte sich dann der Auslage auf der anderen Straßenseite zu.

»Ich brauche einige Gewürze. Wenn Du in der Zwischenzeit in den Laden möchtest ...« versuchte Kira freundlich zu vermitteln.

Niko nickte ihr nur zu und verschwand in dem Laden, dessen Auslage mit griechischen Götterstatuen, diversen Rüstungen und Waffen aus längst vergangenen Zeiten ausgestattet war.

Während sich die anderen mit frischen Gewürzen und Getränken versorgten, ging Niko in den hinteren Teil des Ladens. Neben den inzwischen schon bekannten Messern entdeckte er Reproduktionen von antiken Schwertern und Dolchen. Er beugte sich zu einem Regal, in dem mehrere Dolche mit unterschiedlichen Motiven auf dem Griff lagen.

»Minoische Kunst. So sahen die gefundenen Waffen in Knossos aus.«

Neben ihm erschien ein bärtiger Mann, der ihn freundlich anlächelte.

»Diese Nachbildungen wurden vom Archäologischen Museum in Heraklion in Auftrag gegeben und sind identisch mit den Fundstücken in der Tempelanlage. Haben Sie schon Knossos besucht?«

Niko schüttelte den Kopf und hob einen der Dolche hoch. Die Klinge war künstlich verrostet, eine Haftnotiz auf der Schatulle betitelte das Objekt als bronzenen Zeremoniedolch. Der goldfarbene Griff war mit einem halbrunden Knauf am Ende versehen, die Fassung für die Klinge war mit einem Stierkopf verziert.

Auch wenn das Messer nicht Nikos üblicher Sammlerleidenschaft entsprach, war er von dem Dolch angetan.

»Wie viel soll er kosten?«

»Das ist echte Handarbeit, jeder dieser Dolche wurde ...«

Niko deutete auf den Aufkleber in griechischer Schrift in der Schatulle.

»Produziert in Heraklion. Man sieht, dass es keine maschinelle Herstellung war. Also wie viel?«

Der Verkäufer blickte ihn kurz an und wechselte von Englisch auf Griechisch.

»Du bist Grieche?«

»Ja«, seufzte Niko. Wenn er damit dieses Gespräch schneller beenden konnte, dann war ihm diese Annahme recht.

Sein Gegenüber griff nach der Schatulle und ließ sie zuschnappen.

»Dann werden wir nicht lange herumfeilschen. Zwanzig Euro.«

Jetzt sah Niko auch den angegebenen Preis, der am Boden der Schachtel klebte, vierzig Euro.

»Sehr gerne«, meinte er mit einem Anflug eines Lächelns.


Wieder im Freien wartete Niko auf die anderen, die in dem Laden mit traditionellen griechischen Produkten noch bei den Kosmetikartikeln standen. Niko hingegen interessierte sich mehr für das Regal voller Messer, das an der Wand lehnte. Er erkannte schnell, dass diese eher als Souvenir gedacht waren, und entschied, dass er davon schon genug hatte. Neben dem Regal war ein Korb, der mit Miniaturflaschen gefüllt war. Sowohl mit landestypischem Rakí, als auch dem honigfarbenen Likör, den er einige Stunden zuvor gesehen hatte.

Wieder vereint bummelten sie die Marktgasse entlang, wobei Niko sich bemühte, die Umgebung etwas besser wahrzunehmen.

Abseits der Geschäftsgasse waren die Häuser verfallener, an den Hauswänden prangten künstlerisch wenig wertvolle Graffitis und anstatt Touristen schlenderten die Bewohner der Stadt an ihnen vorbei. Sie landeten an einem Platz, der von einer schneeweißen Kirche dominiert war. Daneben erhob sich ein Glockenturm in den blauen Himmel. Die hellbraunen Ziegel des Turms wirkten wie frisch herausgeputzt.

Aléxandros bemerkte Nikos Blick über die Fassade und den Turm und schien seine Gedanken erraten zu haben.

»Hier in den Gassen fahren keine Autos. Deshalb bleibt die Kirche auch so schön weiß«, erklärte er ihm, bevor er ins Innere verschwand.

»Aléxandros ist sehr religiös. Er wünscht sich auch eine richtig traditionelle Hochzeit, mit der ganzen Verwandtschaft und allen Freunden ...«, erklärte Denise.

»Deine Verwandtschaft?«, unterbrach Niko und erntete dafür einen bösen Blick von Kira.

»Ich verbiete Euch beiden, heute noch über dieses Thema zu sprechen, verstanden? Wir machen uns zu viert einen halbwegs schönen Tag. Mehr will ich nicht hören!«, fauchte sie.

Niko blickte sie an, verzog keine Miene und betrachtete wieder die Kirche vor ihnen.

Der Ausflug endete an der Strandpromenade, in einem Lokal mit Blick auf den Venezianischen Hafen und dem Leuchtturm. Bei kühlen Getränken und einer Gyrosplatte für alle wurde die Stimmung etwas lockerer. Als Kira das kretische Nationalgetränk Rakí erwähnte, meldete sich Niko zu Wort.

»Ich habe von einem Getränk namens Rakomelo gehört.«

Aléxandros klärte ihn auf, inzwischen ohne Groll in seiner Stimme.

»Ja, auch den gibt es. Obwohl er meistens in den kühleren Monaten getrunken wird. Dieser Likör wird mit Honig und verschiedenen Gewürzen, zum Beispiel Zimt, hergestellt und kann auch warm getrunken werden. Auf der Insel gibt es mehrere offizielle und auch einige nicht ganz legale Herstellungsbetriebe.«

»Interessant.«

»Wenn wir zurück in Bali sind, kann ich dir in einem Laden einen besonders guten empfehlen. Du musst nur aufpassen, diese süßen Liköre sind schon für viele der Untergang gewesen.«

Niko wollte antworten, schluckte seine Meldung aber im letzten Moment hinunter.

»Danke für den Hinweis«, sagte er stattdessen und nahm einen Schluck von seinem Bier.

Ich kann wenigstens versuchen, etwas freundlicher zu sein, dachte er sich. Zurück von ihrem Ausflug verabredeten sie sich für später an der Strandbar. »Anstatt Deiner etwas unpassenden langen Kleidung kannst Du auch in Badehose kommen. Und wenn Du nur solche Sachen hast, dann sollte ich mit Dir einkaufen gehen«, meinte Kira und zupfte an Nikos schwarzem Shirt. »Nicht notwendig.« So erschien Niko kurze Zeit später in knielanger Badeshorts und machte es sich auf einer Liege neben Denise bequem. Kurz darauf ließ er sich überreden, mit den anderen eine Runde schwimmen zu gehen. Die Abkühlung im Meer tat gut, wie Niko zugeben musste. Dabei bemerkte er immer wieder, wie er von Denise und Aléxandros gemustert wurde. Kira hingegen schien ihr abenteuerliches Kennenlernen überwunden zu haben und unterhielt sich ganz normal du freundlich mit ihm. Sie versuchte, mehr über ihn zu erfahren, musste aber schnell einsehen, dass Niko noch nicht redseliger geworden war. Außer, dass seine Mutter aus Kreta stammte und er vorübergehend in einem Fitnessstudio arbeitete, erfuhr Kira nicht viel über ihn. Um ihren Bruder und Denise etwas Zeit alleine zu gönnen, zog sie Niko mit an die Bar. »Du bist nicht sehr gesprächig, kann das sein?«, stellte Kira fest, als sie an der Bar saßen und einen Cocktail tranken. »Ja«, war seine knappe Antwort. »Manche Leute könnten das als arrogant interpretieren.« »Nicht mein Problem.« Sie seufzte laut auf. »Freundin hast Du keine, oder?« »Nein.« »Warum wundert mich das nicht?« Sie winkte den Barkeeper zu sich und orderte zwei Shots Tequila. »Vielleicht macht Dich das lockerer.« »Dazu würde es mehr als nur einen brauchen.« Wenig später, beim gemeinsamen Abendessen in der Strandbar, fingen Aléxandros und Kira eine Diskussion auf Griechisch an. Denise war zwar dabei, die Sprache zu lernen, verstand aber noch zu wenig. Niko tat ebenso unwissend. Es interessierte ihn auch nicht, da es ein familiäres Problem war. »Du weißt genau, was Opa mir bedeutet hat. Also, ja, ich will unbedingt hinunter«, keifte Kira ihren Bruder an. »Schön für Dich, aber ich habe morgen zu tun und brauche den Wagen.« »Das sagst Du jedes Mal. Du willst nicht mit mir fahren und deshalb kommt eine Ausrede nach der anderen.« »Frag doch Denise‘ Aufpasser, vielleicht macht er mit Dir einen Tagesausflug.« Beide blickten zu Niko. »Was?«, fragte er, wissend, was gleich kommen würde. Kira setzte ein Lächeln auf und rückte näher zu ihm. »Sag mal, hast Du morgen schon etwas vor?« »Wieso?« »Ich könnte Dir einen der schönsten Plätze der Insel zeigen. Das einzige, kleine Problem wäre, wir müssten mit einem Auto ... mit Deinem Auto fahren.« »Ernsthaft?« Niko legte den Kopf schief und sah sie eindringlich an. »Was ist mit Deinen Freunden, die sich so eindrucksvoll bei mir vorgestellt haben?« »Die sind entweder arbeiten oder zu jung für einen Führerschein. Du musst morgen noch nicht abreisen und die zwei Turteltauben werden auch nicht abhauen. Bitte.« Niko schüttelte den Kopf. Aufpasser, Babysitter und jetzt Taxifahrer. Das wird immer besser. »Wo soll es hingehen?« »Nur auf die andere Seite der Insel, an die Südküste«, meldete sich Aléxandros zu Wort. »Genau«, pflichtete ihm Kira bei, »Ein gemütlicher Ausflug, nichts Besonderes. Du wirst auch nicht viel reden müssen, das verspreche ich Dir.« Nach einem weiteren Kopfschütteln ließ sich Niko dazu überreden. Es kann nicht schaden, noch etwas von der Insel zu sehen, auch wenn es gerade morgen sein muss, dachte er.

Unter den Augen des Minotaurus

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