Читать книгу Unter den Augen des Minotaurus - Joachim Koller - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеEin heißer Schwall Luft klatschte Niko entgegen, als er aus dem klimatisierten Flugzeug ins Freie trat. Flugzeugabgase, gemischt mit einer salzigen Brise vom Meer. Gut mitgedacht, fluchte er beim Blick auf seine schwarze, lange Jeans. Er war sich sicher, dass er auch seine Lederjacke in den nächsten Tagen nicht tragen würde. Er setzte seine Sonnenbrille auf, ein Markenstück mit dünnem Rahmen und dunklen Gläsern, die seine Augen versteckten. Der ehemalige Militärflughafen Chania war klein und überschaubar. Das bedeutete ebenso, dass seine Sporttasche binnen weniger Minuten auf dem Gepäckband erschien. In der Ankunftshalle versuchte Niko erfolglos, das Logo seiner Mietwagenfirma ausfindig zu machen. Erst beim erneuten Durchlesen seiner Unterlagen fand er heraus, dass sein Wagen im Stadtbüro auf ihn wartete. Somit beginnt meine Reise mit einer Sightseeingtour durch Chania. Er trat ins Freie und steuerte den ersten Taxiwagen in der Reihe vor dem Flughafen an. »Ich muss zu dieser Adresse in Chania«, meinte er auf Griechisch und zeigte dem jungen Mann die Adresse der Autovermietung. »Aber natürlich, mein Freund, sofort!« Während seine Reisetasche im Kofferraum verschwand, wurde Niko mit Fragen bombardiert. Der Fahrer schien äußerst erfreut, einen Landsmann zu treffen, fragte ihn nach seiner Herkunft und was ihn auf diese Insel verschlagen hatte. »Wie lange machst Du Urlaub auf Kreta?« »Kein Urlaub. Ich bin ... Ich habe einen Auftrag hier und dann fliege ich wieder zurück.« »Das Wetter im September ist perfekt für einige erholsame Tage, glaub mir. Das Wasser ist angenehm warm nach dem heißen Sommer und die Insel bietet so viel, nutze Deine Zeit hier, mein Freund.« Niko nickte ihm nur zu. Es ist zu heiß, ich habe keine Lust auf Erholung und das Meer interessiert mich auch nicht.Innerhalb von zehn Minuten landeten sie an der Hafenpromenade Chanias. »Dort vorne ist das Büro. Ich wünsche Dir einen schönen Aufenthalt. Das erste Mal in Chania?« Niko nickte stumm. »Wenn Du Frauen suchst ...« »Nein.« »Okay, vielleicht hast Du Interesse an einem besonderen Messer?« Niko stutzte und wandte sich seinem Fahrer zu. »Ich höre.« Das Grinsen im Gesicht des Mannes wurde breiter. Er zog eine Visitenkarte aus der Ablage neben dem Lenkrad und reichte sie Niko. »In der Sifaka Straße wirst Du fündig werden. Sie ist allgemein als Messerstraße bekannt. Du findest dort noch echte Handarbeit, keine importierte Billigware. Wenn Du ein ordentliches Messer suchst, dann bist Du dort genau richtig.« Niko dankte dem Mann für den Tipp und marschierte mit seiner Tasche zum Büro der Autovermietung. Im, dank einer modernen Klimaanlage zu tief gekühlten, Büro wurde er schon erwartet. Der Mann hinter dem Tresen blickte ihn an, und nachdem Niko erwähnte, einen Wagen reserviert zu haben, wusste dieser sofort Bescheid. »Herr Dovas Nikólaos?« Es war ungewohnt, seinen vollständigen Namen zu hören. Seit Jahren stellte sich Niko nur mit seinem Kurznamen vor. »Ja, das bin ich.« »Sie sind Grieche?« »Mehr oder weniger«, antwortete er auf Griechisch und erntete ein breites Grinsen. »Wenn das so ist, dann habe ich ein ganz spezielles Angebot für Sie. Wir haben gerade einen Wagen zurückbekommen. Wenn sie möchten, können sie diesen für die gebuchte Woche nutzen, zum selben Preis versteht sich.« »Und wo ist der Unterschied?« »Dass Sie statt eines Kleinwagens mit einem Opel Cascada Cabriolet fahren würden.« Niko kannte sich nicht besonders mit Automodellen aus, aber die Aussicht auf ein offenes Verdeck gefiel ihm. Der weiße Wagen wartete bereits unübersehbar neben der Tür auf ihn. Nichtsdestotrotz entschied sich Niko für einen kleinen Spaziergang durch die Hafenstadt, dem Hinweis des Taxifahrers wollte er nachgehen. Aber nicht, bevor er seine Hose gegen eine kürzere getauscht und die Tasche im Kofferraum verstaut hatte. Die Besichtigung der Hafenpromenade war ihm nur ein paar Minuten wert. Die Fassaden der Gebäude direkt an der Promenade wirkten alt und renovierungsbedürftig. Was für die Touristen ein Relikt der venezianischen Zeit war und auf unzähligen Fotos festgehalten wurde, weckte bei Niko kein Interesse. Souvenirläden reihten sich an Restaurants, beides interessierte ihn nicht im Geringsten. Durch eine schmale Gasse gelangte er stadteinwärts und nach wenigen Minuten in die erwähnte Messerstraße. Die Adresse auf der Visitenkarte war schnell gefunden. Das Geschäft war eindeutig schon viele Jahrzehnte hier untergebracht, die Tafel über der Auslage war stellenweise rostig und vergilbt. Der Schriftzug war aber noch deutlich zu erkennen: »Armenis – Traditionelle Messerschmiede« In der Auslage fanden sich die unterschiedlichsten Messer. Einfache Küchenmesser, Hackbeile, Taschenmesser und kunstvolle Souvenirmesser mit gebogenen Griffen aus Horn waren ausgestellt. Niko erkannte, dass die Klingen nicht maschinenbearbeitet waren. Echte Handarbeit findet man nicht allzu oft.Neben dem Geschäft war die unbesetzte Messerschmiede zu sehen. Niko riskierte einen Blick und sah eine Werkstatt, die scheinbar in der alten Zeit stehen geblieben war. Keine hochmodernen Maschinen, dafür unzählige Hämmer und Schleifwerkzeuge. Die Werkbank mit Trockenschleifer funktionierte noch handbetrieben. Neben ihm erschien eine schwarzhaarige Frau in seinem Alter. Sie stellte sich als Tochter des Eigentümers vor und bat ihm in das Verkaufslokal. Obwohl das Geschäft recht klein war, ließ es für Niko kaum Wünsche offen. Als Messernarr konnte er sich nicht an den unterschiedlichen Angeboten sattsehen. Auch die Verkäuferin erkannte rasch, dass er sich weniger für die herkömmlichen Klappmesser und mit kitschigen Motiven versehene Fahrtenmesser interessierte und legte ihm ein Exemplar eines traditionellen Messers vor. »Diese Art wurde und wird noch heute zur typischen Tracht getragen. Die Besonderheit ist der weiße Griff, er ist aus einem Knochen geformt. Das gehörnte Ende dient dazu, es besser halten zu können, immerhin diente es früher zusätzlich als Waffe. Heute sind sie mehr ein Accessoire. Unsere Messer dieser Art hier im Laden sind alle selbstgemacht, ich habe unterschiedliche Größen im Angebot.« Niko nahm das Messer in die Hand und begutachtete es genauer. »Obwohl die Klinge recht scharf ist, ich würde es eher als Erinnerungsstück nehmen, nicht für den alltäglichen Gebrauch. Ein Messer für den normalen Einsatz wäre dieses hier.« Sie legte ihm ein weiteres Messer hin. Die breite Klinge, auf der ein Text eingraviert war, wirkte sehr scharf. Der Griff aus Olivenholz passte bestens in Nikos Hand, der sich sofort mit dem Messer anfreunden konnte. »Ich nehme beide«, entschied er. Er sprach noch einige Zeit mit der Verkäuferin über Messer und seine eigene Sammlung, bevor er sich wieder in die Hitze hinauswagte. Es war nur eine kurze Überlegung, ob Niko noch weiter in Chania verbleiben wollte. Auf direktem Weg spazierte er zu seinem Wagen.
Das Navigationsgerät auf seinem Handy rechnete mit einer eineinhalbstündigen Fahrzeit bis zu seinem Ziel. Während er in Richtung Hauptstraße fuhr, welche entlang der Nordküste verlief, schaltete er durch die unterschiedlichen Radiosender.
»... hören Sie nun eine Diskussionsrunde aus Athen. Thema der gestern aufgezeichneten Diskussion ist die Rückkehr zur Normalität für die griechischen Bauern, denen die Wirtschaftskrise besonders zugesetzt hat.«
Zufrieden stellte Niko fest, dass er seine Muttersprache immer noch sehr gut verstand, und schaltete weiter.
»... Wetter für Kreta. Es bleibt weiterhin leicht unbeständig. Hitze und Sonnenschein überwiegen, dennoch kann es immer wieder zu kurzen, heftigen Gewittern kommen, vor allem in den Nachmittagsstunden.«
Es wird auch ein Gewitter geben, wenn ich Denise gefunden habe, dachte Niko und suchte den nächsten Sender. »... warnt die Erdbebenwarte von Athen. Leichte seismologische Aktivitäten wurden in den letzten Tagen fünfunddreissig Kilometer nordwestlich von Kreta gemessen. Ein stärkeres Erdbeben ist daher jederzeit möglich.« Auch nicht, was ich suche. Niko versuchte nochmals sein Glück, dieses Mal wurde er fündig. »... Rock FM. Wir spielen ehrliche, laute Musik.« Schon bei den ersten Takten des folgenden Songs drehte Niko die Lautstärke hoch. Zu AC/DC´s »Highway to Hell« fuhr er auf die Küstenstraße auf. Der kühlende Fahrtwind machte die Temperaturen erträglich. Er hatte wenig übrig für die Umgebung, seine Gedanken kreisten nur um den Auftrag, Denise zu finden. Außerdem musste er immer wieder daran denken, daß Kreta die Insel seiner Mutter gewesen war. Eineinhalb Stunden später sah Niko den gesuchten Berg neben der Küstenstraße. Kurz vor der Ausfahrt bekam Niko einen Blick über den Ort direkt am Meer präsentiert. Die weißen Häuser zogen sich entlang der Bucht und einen Hügel hinauf. Er konnte erkennen, dass der Ort mehrere Badestrände hatte, die durch Felsen voneinander getrennt waren. Von der Autobahnausfahrt landete er auf einer Hauptstraße, die durch den Ort führte. Zunächst kam er an einigen nicht fertiggestellten Häusern vorbei, bis der touristische Teil des Ortes begann. Supermärkte und Souvenirläden reihten sich an Autovermietungen, Pensionen und Apartmentanlagen. Was er nicht fand, waren große Hotelkomplexe. Die Ortschaft erstreckte sich über mehrere Hügel, von der Hauptstraße führten immer wieder kleiner Seitengassen hinunter zum Meer. Als er einen weiteren Hügel hinabfuhr und zu einer Kreuzung gelangte, sprang ihm eine Werbetafel ins Auge: Porto Paradiso Tropical Bar Taverna Pizzeria Zuerst ein Zimmer, dann die Bar, beschloss er, davon überzeugt, dass er die Ausreißerin schon bald finden würde. Kurz bevor sich die Straße teilte und zum Hafen hinab führte, sah er ein Apartmenthotel. Direkt davor waren Parkplätze frei, die er nutzte. Mit dem ausgedruckten Bild von Denise und Aléxandros spazierte er neben dem Hotel auf eine Terrasse und sah hinab zum Hafen. Es war eindeutig derselbe. Am kleinen Sandstrand neben dem Pier lagen vereinzelt Personen auf den Liegen. Im Wasser fuhren Tretboote und Jet-Skis über das ruhige Meer. Gegenüber der Bucht konnte er die Küstenstraße und erneut den Berg erkennen, den er inzwischen eindeutig als den von den Urlaubsbildern identifizierte. Unzählige Sträucher und Baumgruppen ließen ihn in unterschiedlichen Grüntönen vom blauen Himmel und dem Meer hervorstechen. »Suchen Sie ein Zimmer?«, holte ihn eine tiefe männliche Stimme aus seinen Gedanken. Niko drehte sich zu dem Mann um und erfuhr, dass die Terrasse zu den Studios des Hotels gehörte. Es gab noch freie Zimmer und nach einem kurzen Blick in das Zimmer entschied sich Niko, seinen Aufenthalt hier zu verbringen. »Wie lange werden Sie bleiben?« »Ich nehme an, nicht länger als eine Woche.« Viel länger kann es nicht dauern, war er sich sicher. Er gab dem Vermieter eine Anzahlung, die für drei Nächte reichte, und versicherte ihm, bei der Abreise für die restlichen Nächte zu bezahlen. »Kein Problem. Du findest mich auf der anderen Seite des Hafens bei der Sea View Bar. Komm einfach vorbei.« Zurück auf der Straße stöhnte Niko auf. In Wien hatte schon der Herbst Einzug gehalten, hier brannte die Sonne herab. Während er überlegte, ob er den Ort über den Hafen und von dort den Hügel hinauf, oder in die andere Richtung erkunden sollte, fiel sein Blick auf zwei Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die beiden alten, vollbärtigen Männer saßen auf einem klapprigen Stuhl an einem maroden Tisch, eine Flasche mit klarer Flüssigkeit und zwei Gläsern vor sich. Beide trugen dunkle Leinenhosen und ein schwarzes, langärmliges Hemd. Sie blickten über die Straße, in einer Hand ließen sie ein Komboloi durch die Finger gleiten. Die Kettchen kannte Niko aus Erzählungen über Griechenland. Die Perlenkette aus unterschiedlichen Materialen gehört vor allem bei den älteren Griechen zur Plichtausstattung. Vielen diente es nur als Spielzeug und Zeitvertreib, andere nutzten es als Meditationshilfe. Jedenfalls lag kein religiöser Grund dahinter, obwohl es sehr an einen christlichen Rosenkranz erinnerte. Als sie Nikos Blick bemerkten, nickten sie ihm zu. »Wieder ein neuer Tourist«, meinte der Rechte. Sie gingen davon aus, dass der Tourist sie nicht verstand. Niko hatte nicht vor, das zu ändern. »Das ist kein normaler Tourist. Er sieht aus, als wäre er auf der Suche.« »Am Hafen wird er heute nichts finden«, meinte der Rechte und wandte sich einer anderen Person zu. Niko wunderte sich nur kurz über die beiden verschrobenen Gestalten und marschierte los, in die Richtung, aus der er mit dem Wagen gekommen war. Die Sonne war schon am Untergehen und leuchtete hinter den Bergen über die Landschaft. Niko spazierte die Straße entlang, vorbei an einer Bäckerei und einem Veranstalter für Inseltouren. Beides interessierte ihn nicht, selbst die kleine Kirche, die neben einen Parkplatz stand, beachtete er nur kurz. Sein Ziel war klar und nach wenigen Minuten zu sehen. Neben einem Supermarkt führte eine schlecht betonierte Straße steil hinab zu einem kleinen Strandabschnitt. Der Strand wurde von einem Felsen, der ins Meer hinausragte, abgegrenzt. Nur noch wenige Personen tummelten sich am Sandstrand und im Wasser. Eine Zufahrtsstraße trennte den Strand von der gesuchten Strandbar »Porto Paradiso«. Die Bar bestand aus zwei überdachten Flächen, unter denen die Gäste Platz fanden. Beim Näherkommen sah Niko, dass der hintere Teil eher einem Restaurant ähnelte. Im vorderen erkannte er einen runden Bartresen. Davor standen mehrere kleine Tische mit Bänken, die dazu einluden, gemütlich auf das Wasser hinauszublicken. An der Mauer war der Name der Bar in großen Lettern angebracht, genau, wie es Niko auf den Bildern von Denise gesehen hatte. Neben der runden Bar, die ein Bambusdach hatte und damit etwas karibisches Flair versprühte, führte ein Weg zu einigen Spielautomaten und einem Billardtisch. Einige Kinder tollten dort herum. Neben ihnen war ein kleiner Garten angelegt, mit einem Miniaturwasserfall, Palmen und einer Bananenstaude in der ein großer Stoffaffe hing.
Er setzte sich an einen der Tische, die etwas erhöht direkt an der Straße lagen, und beobachtete den Strand, an dem immer noch einige Personen im Meer schwammen. Niko hingegen hatte anderes im Sinn. Er verglich nochmals das Bild von Denise und Aléxandros mit der Umgebung. Eindeutig, es war der richtige Ort. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Denise bald an der Bar auftauchen würde.
Nach einem eisgekühlten Mythos, dem griechischen Bier, dessen Logo er schon auf der Fahrt mehrmals begegnet war, beschloss er, heute keine Nachforschungen mehr anzustellen. Es war ein langer Tag gewesen und Niko war müde. Dazu trug auch die Hitze bei, die er nicht gewohnt war.
Hunger hatte er dennoch. Als sein bestelltes Souvlaki serviert wurde, staunte er über die Menge, die vor ihm stand.
Hunger ja, aber wer soll denn das alles schaffen?Die Spieße schaffte Niko, doch an der großen Portion Pommes samt Tsatsiki scheiterte er. Währenddessen sah er zum Meer und den Berg auf der anderen Seite der Bucht. Er kannte die Umgebung schon von den Bildern und musste zugeben, dass sich Denise einen netten Ort ausgesucht hatte, um von daheim abzuhauen. Hoffentlich hat sie die letzten Tage genossen, viele wird sie hier nicht mehr verbringen, überlegte er beim Blick auf das ruhige Meer.
Mist, ich habe vergessen, einzukaufen, war Nikos erster Gedanke, als er munter wurde. Nachdem er gestern Abend nach mehreren Gläsern Bier und ohne jemanden zu erkennen, zurückgekehrt war, hatte er sich nur noch hingelegt und tief geschlafen. Ein paar Minuten später stand Niko auf der Hauptstraße stand. Die beiden alten Männer waren wieder an ihrem Platz. Sie blickten kurz zu ihm, bevor sie weiter miteinander redeten. »Es sieht nach einem Gewitter aus.« »Nein, noch nicht. Aber da kommt noch etwas Heftigeres auf uns zu.« Niko überlegte, ob die beiden wohl den ganzen Tag an dem Tisch verbrachten und spazierte zum Hafen. Bei einem ausgiebigen Frühstück überlegte er seine weiteren Schritte. Die einfachste Möglichkeit sah er darin, den Tag am Strand vor der Bar zu verbringen und nach Denise oder einer der Personen auf den Fotos Ausschau zu halten.
Das Meer interessierte ihn dabei nur wenig. Er nahm sich eine Liege und ließ sich im Schatten des Sonnenschirmes mit einem Buch nieder. Ohne sich auf das Handbuch über diverse Survivaltechniken zu konzentrieren, blickte er immer wieder über den kleinen Strandabschnitt und zur Strandbar. Hinter seiner Sonnenbrille versteckt, fiel es nicht auf, dass er immer wieder den Blick über den Strand und die Bar schweifen ließ. Erfolglos verbrachte er den ganzen Vormittag auf der Liege, wobei die Hitze immer unangenehmer wurde. Zur Mittagszeit entschloss sich Niko etwas Abkühlung im Meer zu suchen. Das Wasser war angenehm temperiert, doch schon die erste kleine Welle, die ihm das salzige Wasser in die Augen schwappte, ließ ihn leise fluchen.
Ich bin nicht hier um Urlaub zu machen, ermahnte er sich selbst und stieg nach nur wenigen Minuten wieder aus dem Wasser. Gerade als er sich abtrocknete und zur Bar blickte, sah er eine junge Frau, deren Haare ihm sofort auffielen. Blond mit vielen knallroten Streifen. Sie war relativ klein, Niko schätzte sie auf einen Meter sechzig. Obwohl sie eher zart wirkte, erkannte er, dass sie sehr sportlich war. Mit einem schwarzen Skateboard unter dem Arm verabschiedete sie sich von einigen Leuten an der Bar und marschierte in Nikos Richtung. Ja, das ist sie, eindeutig, stellte er fest, als er das Gesicht sehen konnte. Neben ihren Haaren fiel sie auch durch eine große Tätowierung auf ihrem Dekolleté auf, das von ihrem Bikinioberteil nicht verdeckt wurde. Niko konnte einen großen blauen Diamanten erkennen, der genau mittig platziert war und von Ranken oder Ähnlichem umgeben war. Die junge Frau, er schätzte sie auf zwanzig, schlenderte den Strand entlang und bog in Richtung Hauptstraße ab. Schnell packte Niko seine Sachen zusammen und marschierte los. Er hielt sich zurück und folgte ihr unauffällig bis zur Hauptstraße, wo sie ihr Skateboard auf den Boden stellte und begann, loszufahren. Zu seinem Glück ging die Strecke bergauf, somit war es leicht für ihn, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Nach einigen hundert Metern sprang sie vor einem einstöckigen Haus ab und spazierte hinein. Niko spazierte auf der anderen Straßenseite daran vorbei und nahm das Gebäude dabei genau unter die Lupe. Ein kleiner Torbogen führte zu einem liebevoll hergerichteten Garten, dem man die Trockenheit des Sommers nicht anmerkte. Unter dem Sonnendach erkannte Niko die offen stehende Eingangstür, die in einen kleinen Vorraum führte. Der erste Stock hatte einen durchgehenden Balkon, die drei Balkontüren waren allesamt verschlossen und die Vorhänge dahinter zugezogen, um die Sonne nicht eindringen zu lassen. Er sah keine Personen im und um das Haus, ging weiter und stoppte erst, als er den Hügel hinauf spaziert war, bei einem Souvenirladen. Möglichst interessiert begutachtete er die Souvenirmagneten und Anhänger an den Aufstellern vor dem Geschäft, während er das Haus weiterhin im Blick hatte. Lange kann ich das nicht machen, ohne aufzufallen, überlegte er, doch schon nach wenigen Minuten kam die Frau wieder aus dem Haus. Sie schien es eilig zu haben, das Skateboard hatte sie wieder unter dem Arm. Anstatt ihres Bikinis trug sie nun ein kurzes, bauchfreies Shirt und dunkelblaue Hotpants. Mit schnellem Schritt ging sie wieder den Weg zurück, bog dieses Mal aber nicht zum Strand ab, sondern blieb auf der Hauptstraße in Richtung Hafen. Niko setzte seine Verfolgung fort, überlegte unterdessen, wie lange er ihr noch nachstellen wollte. Kurz nach dem Stiegenabgang zu seinem Apartment bog die junge Frau in eine Gasse ein, die durch die Nachmittagssonne im Schatten lag. Niko beschleunigte seine Schritte und entschied, ihr nicht mehr nur stumm nachzugehen, sondern sie anzusprechen.
Als er in den Weg einbog, war die Frau verschwunden. Zu beiden Seiten der Gasse waren drei Türen, die alle geschlossen waren. Die Gasse endete an einer drei Meter hohen, weiß gestrichenen Wand. Langsam ging Niko von Tür zu Tür. Sie waren schlicht, ohne Verzierungen, wirkten aber massiv.
Ich habe ein ganz ungutes Gefühl ... Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumwirbeln. Am Anfang der Gasse standen drei junge Männer und kamen ihm langsam entgegen. »Versteht ihr Deutsch?«, fragte Niko. Nach einigen Schritten sah er die Gesichter der Männer. Sie schwiegen und sahen ihn verachtend an. Niko sah sich nochmals um, musste aber erkennen, dass es nur einen Ausweg gab. Und der führte an diesen scheinbar schlecht gelaunten Männern vorbei. Er schätze sie alle um die zwanzig Jahre, muskulös und entschlossen. Zwei der Jugendlichen wirkten wie Zwillinge, wobei sich der stämmigere durch einen dichten Vollbart von seinem Bruder unterschied. »Ich glaube, wir steuern hier auf ein großes Missverständnis zu. Es wäre wirklich besser, wenn wir miteinander reden würden«, versuchte er sein Glück auf Englisch. Knapp zwei Meter vor ihm blieben die Männer stehen, blockierten den Weg und fixierten ihn mit ihren dunklen Augen. Plötzlich nahm einer der jungen Griechen seine Hand hinter dem Rücken vor und präsentierte eine etwa einen Meter lange Eisenstange. »Also das ist nun wirklich eine verdammt dumme Idee«, sagte Niko ruhig, ließ die drei Jugendlichen aber nicht mehr aus den Augen. »Es war dumm, Kira zu folgen. Dieses Mal wirst Du dafür bezahlen«, knurrte der mittlere Mann ihn auf Englisch an. »Dieses Mal? Ich sollte vielleicht klarstellen ...« »Zu spät. Du wirst Kira nicht nochmals belästigten.« Der Jugendliche mit der Stange klang nervös, dennoch kam er einen Schritt näher. Niko nahm langsam seine Sonnenbrille ab und legte sie auf einen vorstehenden Stein an der Wand neben ihm. Bleib ruhig, ermahnte er sich, für genau solche Situation hast Du den Anti-Aggressions-Kurs besucht. »Ich muss mit dieser Kira sprechen, hier und jetzt. Wir haben zwei Möglichkeiten ...« Sein Blick wurde ernst, seine Muskeln spannten sich an, als er ihnen entgegenkam. »Entweder den zivilisierten Weg oder den unangenehmen.« Drei gegen einen, alle wirken körperlich überlegen, das schreit förmlich nach der falschen Entscheidung. »Es wird unangenehm werden, aber für Dich«, stellte der Größte der Burschen klar. »Schlechte Wahl. Sehr schlechte ...« In diesem Moment holte der Junge mit der Stange aus. Niko war sich bewusst, dass er keine Chance hatte, die Situation zu klären und reagierte. Blitzschnell schoss er vor, packte das Handgelenk des Burschen und verdrehte ihm die Hand. Gleichzeitig trat er mit einem Fuß seitlich aus und erwischte den mittleren in der Magengegend. Der Treffer ließ den jungen Mann aufjaulen und zurückweichen. Niko verdrehte den Arm des Jugendlichen noch weiter, bis dieser den Griff lockerte und die Stange fallen ließ. Dann zog er ihn vor und schleuderte ihn gegen seine Freunde. »Können wir das beenden?«, fragte er und bemühte sich, möglichst ruhig zu klingen. Die drei Männer standen ihm gegenüber, die Mauer im Rücken und blickten ihn wutentbrannt an. Ohne lange zu überlegen kamen sie erneut auf ihn zu. »Also nicht«, stellte er resignierend fest und strich seine tiefschwarzen Haare nach hinten. Den ersten Faustschlag blockte er ab, sein Gegenüber bekam im Gegenzug den Ellbogen ins Gesicht. Der Zweite spürte erneut Nikos Fuß, dieses Mal rammte er ihm das Knie in den Unterleib. Der bislang unbeteiligte dritte Mann warf sich von hinten auf ihn, wurde aber mit Wucht gegen die Wand gedrückt und schrie laut auf, als Nikos Hinterkopf gegen seine Nase schlug. Niko machten einen Schritt, sorgte für etwas Abstand und blickte auf die drei angeschlagenen Männer. »Bitte lasst es gut sein. Ich will nicht wütend werden. Nochmals, ich bin nur hier, um mit diesem jungen Ding zu reden. Ihr verwechselt mich.« Die Jugendlichen blieben stehen und starrten ihn nur wutentbrannt an. Erst jetzt nahm er hinter sich ein rollendes Geräusch wahr. Es klang wie ein Skateboard, das über den unebenen Boden rasch näherkam. Niko wandte sich um und sah, wie recht er hatte. Es war das Mädchen von vorhin, das auf ihn zuraste, ihr wild entschlossener Blick verhieß nichts Gutes. Er wollte einen Schritt zur Seite machen, doch die junge Frau sprang von ihrem Board ab und flog in seine Richtung. Nicht auch noch du, dachte er. Nun sah er auch die Tätowierung aus der Nähe. Der blaue Diamant, der auf einem Blütenblatt ruhte und von Dornen und zwei Vögeln umgeben war, leuchtete ihm direkt entgegen. Die blonden Haare mit auffällig roten Strähnen flogen durch die Luft, Niko musste für einen Moment an einen bunten Blitz denken. In der Luft holte sie mit ihrer Hand aus, bevor Niko reagieren konnte, schlug ihre Faust mit voller Wucht in seinem Gesicht ein. Obwohl sie einen Kopf kleiner und weitaus leichter war, sorgte der präzise Treffer dafür, dass Niko zurückgeschleudert wurde und zu Boden ging. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Martins Aussage hallte in seinem Kopf: Es wird ein Spaziergang für Dich, inklusive etwas Urlaub. Toller Urlaub, dachte Niko und rappelte sich auf. Ein weiteres Mal schoss die Faust auf ihn zu. Blitzschnell packte er zu und umklammerte die Faust mit seiner Hand. Niko war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Nicht auszucken, nicht durchdrehen, befahl er sich. Seine Hand, die immer noch die Faust der jungen Frau festhielt, zitterte. »Das reicht jetzt. Du willst nicht, dass ich wütend werde!«, fauchte er. »Ach wirklich?«, antwortete die junge Frau. Die stechend blauen Augen fixierten ihn aggressiv. Niko erhob sich, die Hand dabei fest im Griff. »Wenn ich wütend werde, kommen Leute zu schaden. Glaub mir, das willst Du nicht.« Einer der Angreifer von gerade eben kam auf ihn zugestürmt. »Schwachsinniges Gerede. Du ...« Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie Deutsch mit ihm sprach. Niko blickte kurz zwischen der jungen Frau und dem angreifenden Mann hin und her. Er riss die Hand mit der noch immer geballten Faust nach vor und ließ sie genau auf die Nase des Mannes prallen. Beide Jugendlichen schrien schmerzvoll auf, stolperten zurück und landeten auf dem Boden. Niko holte tief Luft und näherte sich dem Mädchen. »Können wir nun reden?« Obwohl er sich bemühte, klang seine Stimme Angst einflößend, sein eiskalter Blick machte sie nervös. »Damit eines klar ist: Du und Deine Freunde werden nicht nochmal bei Kira einbrechen, oder ihr zu nahe kommen«, fauchte einer der Jugendlichen, der sich nach Nikos Abreibung einige Schritte zurückgezogen hatte. »Ich habe schon erwähnt, es gibt hier eine Verwechslung.« Niko griff nach seiner Sonnenbrille, setzte sie auf und reichte Kira die Hand. »Du heißt also Kira.« »Und Du glaubst, Du siehst mit der Brille cool aus, oder wie?«, giftete sie ihn an. »Nein, aber sie war teuer. Ihr versteht alle die deutsche Sprache. Das ist sehr praktisch. Ich bin nicht wegen Dir hier, sondern wegen diesem Pärchen.« Er zog das Foto hervor, auf dem Denise mit Aléxandros und Kira vor der Strandbar stand. »Was willst Du von meinem Bruder?«, fragte Kira aggressiv, ließ sich aber dennoch von ihm hochziehen. »Bruder? Das wird ja immer besser.«
Flankiert von ihren Freunden, die Niko verächtlich musterten, gingen Kira und Niko zur Straße zurück.
»Wer bist Du? Zuerst verfolgst Du mich und dann machst Du hier auf Chuck Norris?«, wollte Kira wissen. Im Gegensatz zu ihren Freunden wirkte sie etwas gelassener.
»Du kennst Chuck Norris?«
»Wenn Du ihren Fuß im Gesicht hast, weißt Du warum«, keifte einer ihrer Freunde ihn an.
»Ich heiße Niko.«
»Okay, Nikos, und was genau ...«
»Niko«, korrigierte er sie.
»Sorry, in Griechenland heißt es eigentlich Nikos.«
»Ich komme aus Wien, nicht aus Griechenland.« Er sah keinen Grund, ihr etwas über sich zu verraten, schon gar nicht, dass er die Landessprache verstand. Kira sah ihn an, verdrehte die Augen und fragte weiter.
»Was willst Du von Denise?«
»Sie heimbringen.«
»Da wird mein Bruder etwas dagegen haben.«
»Das ist ihrem Vater egal. Er hat mich hergeschickt.«
Abrupt blieb die junge Frau stehen.
»Ihrem Vater? Denise hat uns erzählt, dass sie Bescheid wissen und sie bei meinem Bruder bleiben darf und ...«
Kira verstummte, als ihr plötzlich einiges klar wurde.
»Deshalb redet Denise nicht gerne von ihnen. Sie ist abgehauen!«
»Korrekt.«
»Das wird meinem Bruder nicht gefallen. Kennt Denise dich?«
Niko nickte.
Sie spazierten vom Hafen weg und folgten der Hauptstraße, vorbei an mehreren Souvenirläden. Niko hatte dafür keine Augen, er war in Gedanken schon auf der Heimreise, zusammen mit Denise.
Vor dem einstöckigen Haus, das Niko bereits kannte, blieb Kira stehen. Ihren drei Freunden versicherte sie, dass sie alleine mit Niko zurechtkommen würde. Als sie sich auf den Weg machten, wandte sich Kira Niko zu.
»Komm mit, aber ich erwarte, dass Du dich benimmst.«
Niko schenkte ihr einen missbilligenden Blick und folgte wortlos.
»Denise! Du hast Besuch!«, rief Kira im Vorraum die Stiegen hinauf. Nur Sekunden später tauchte Denise beim Stiegenabgang auf. Sie eilte die Stufen hinab zu Kira, ohne von Niko Notiz zu nehmen. Hinter ihr kam Aléxandros die Treppen herunter.
»Besuch? Wer sollte mich denn ...« Sie erstarrte, als sie Niko wahrnahm, »Du? Was machst du denn hier?« Denise war sichtlich überrascht und erschrocken, ihn zu sehen.
»Schöne Grüße von Deinen Eltern. Ich bin hier, um dich abzuholen.«
Sie wich einen Schritt zurück, suchte neben ihrem Freund Schutz.
»Was soll das heißen?«, fragte Aléxandros verwundert.
»Wie ich gesagt habe, ich werde Denise mitnehmen.«
»Garantiert nicht. Das werde ich nicht zulassen.«
»Danach habe ich nicht gefragt.«
»Niko, ich werde hierbleiben. Alex hat dafür gesorgt, dass ich arbeiten kann und ich will ihn nicht verlassen.«
Denise klammerte sich an ihren Freund, ihr Blick war verängstigt.
»Du kennst mich Denise. Ich habe es Martin versprochen und ich halte mein Versprechen.«
Im Gegensatz zu Denise war Aléxandros nicht eingeschüchtert. Er richtete sich auf und blickte Niko entschlossen in die Augen.
»Meine Freundin bleibt bei mir und daran wirst Du ...«, er stieß Niko mit zwei Fingern gegen die Brust. Im nächsten Moment verschlug es ihm die Sprache, als er von Niko herumgewirbelt wurde, seine Hand ausgestreckt auf den Rücken gedreht. Nikos blitzschneller Angriff zwang ihn auf die Knie, mehr als einen lauten Schmerzenslaut brachte er nicht heraus.
»Dumme Idee, ganz dumme Idee.«
Ohne den Griff zu lockern, richtete Niko den Blick wieder auf Denise.
»Du wirst deine Sachen packen und mitkommen. Dein Abenteuer als Ausreißerin ist vorbei.«
»Wieso Ausreißerin?«, stöhnte Aléxandros, »Ihre Eltern haben es doch erlaubt.«
»Nein.«
»Nein?« Er wollte sich zu seiner Freundin drehen, doch Nikos Griff ließ keine Bewegung zu.
»Bitte lass mich los, ich muss mit Denise reden.«
Niko entließ ihn und sah zu, wie er sich aufrappelte, seine schmerzende Schulter massierte und sich an Denise wandte. Sie hatte Tränen in den Augen, sah verzweifelt zwischen Niko und Aléxandros hin und her.
»Stimmt das? Du hast mir gesagt, deine Eltern haben kein Problem damit.«
Denise schwieg und blieb regungslos stehen. Für sie brach gerade eine Welt zusammen, die sie sich aus ihren Lügen aufgebaut hatte.
»Stimmt es? Sagt er die Wahrheit, wissen Deine Eltern ...?«
»Ich bin volljährig, ich darf machen, was ich will«, versuchte Denise schluchzend eine Erklärung zu finden.
»Ja, aber ich wollte, dass wir uns hier ein gemeinsames Leben aufbauen. Deine Eltern haben ein Recht darauf, zu wissen, wie es Dir geht.«
»Genau das will ich ja. Aber ... Sie hätten es niemals erlaubt ... Ich will nicht ...«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Niko an.
»Du verstehst das nicht, Niko! Du kennst solche Gefühle wahrscheinlich nicht einmal.«
»Es geht nicht um Gefühle. Ich mache nur, was ich Martin versprochen habe.«
Auch Aléxandros war von der Enthüllung geschockt.
»Du hast einen Job. Ich habe denen versichert, dass Du hier bleibst.«
»Ich will ... ich werde auch hier bleiben, bei Dir«, schluchzte Denise.
Während das Pärchen weiterdiskutierte, traten Kira und Niko einige Schritte zurück. Kira reichte ihm eine Dose Cola.
»Mein Bruder ist zurückgekommen, als ihm eine Stelle im Krankenhaus von Heraklion angeboten wurde. Denise und er haben lange überlegt, dann hat sie beschlossen, nach Kreta zu kommen. Sie hat gleich nach zwei Tagen einen Job im Büro des Bali Star angefangen. Sekretärin im Backoffice.«
»Das muss sie ihrem Vater erklären, nicht mir.«
»Du bist nur hier um sie zu holen.«
»Ganz genau.«
»Erst gestern haben wir darüber gesprochen, wie der Winter auf Kreta ist. Denise war überzeugt, dass ihr nicht langweilig werden würde, solange sie bei meinem Bruder ist.«
»Wie gesagt, das muss sie mit Martin klären.«
Die Diskussion zwischen Aléxandros und Denise wurde lauter.
»So, das reicht jetzt«, entschied Kira und trat zwischen sie.
»Jetzt beruhigen wir uns alle. So hat es keinen Sinn. Bruder, Denise, packt euch zusammen, wir gehen runter an die Bar. Bei Bier und Souflaki lässt sich das auch bereden, vielleicht sogar ruhiger und sachlicher.«
»Meine Schwester, die Stimme der Vernunft«, meinte Aléxandros spöttisch. Kiras Antwort kam augenblicklich, ihre flache Hand landete klatschend in seinem Gesicht.
»Idiot! Ich will Dir helfen, also mach, was ich sage.«
Das kann ja noch lustig werden, dachte Niko. »Und Du ...«, Kira wandte sich an Niko, »Du beruhigst Dich ebenfalls, verstanden?!« Er sah auf die junge Frau herab und musste sich ein Grinsen verkneifen. Ja, das wird garantiert noch interessant, war er sich sicher.
Angeführt von Kira spazierten Niko, Denise und Aléxandros in Richtung Strandbar. Touristen in Badekleidung kamen ihnen entgegen, es herrschte große Aufbruchsstimmung an den kleinen Stränden. Keiner sagte ein Wort, eine Situation, die Niko nicht störte. Denise hielt Aléxandros Hand, ihr Blick war aber nur starr auf den Boden gerichtet.
Wortlos suchte Kira einen Tisch direkt neben der Straße zum Strand und winkte den jungen Kellner zu sich.
»Vier große Mythos«, bestellte sie, ohne die anderen zu fragen. Als das Bier vor ihnen stand, sah sie ihren Bruder und Denise an.
»Möchte jemand etwas sagen?«
Denise schüttelte nur den Kopf und sah auf den Strand hinaus.
»Was ist mit Dir, willst Du vielleicht etwas sagen?«, fragte sie Niko zugewandt.
»Nein, aber danke für das Bier«, meinte er kurz und nahm einen großen Schluck.
Als Denise nach knapp fünf Minuten des Schweigens schniefte, trat Kira unter dem Tisch nach ihrem Bruder.
»Kümmerst Du Dich vielleicht um sie?«
Denise drehte sich zu Aléxandros, sie hatte wieder Tränen in den Augen.
»Es tut mir leid, ich wollte doch nur zu Dir. Ich wollte bei Dir bleiben ...«
Er streckte die Hand aus, drückte sie fest an sich und sah zu Niko. Der saß ihm mit stoischer Miene gegenüber und kümmerte sich nur um sein Bier.
»Was soll ich jetzt tun?«, fragte Denise stockend.
»Deine Sachen packen. Der nächste Flug geht in zwei Tagen«, erklärte Niko. Er schob Denise‘ Handy, das sie vor sich liegen hatte, näher zu ihr.
»Aber zuerst rufst Du zu Hause an.«
Selbst er sah, wie schwer es ihr fiel, dieses Telefonat zu führen. Zusammen mit Kira, die sich ebenfalls erhob, ging er zum Bartresen.
»Eigentlich bist Du ein Arsch«, meinte Kira und deutete dem Barkeeper.
»Giannis, gib uns bitte zwei Tequila. Vielleicht wird dieser Esel dann etwas lockerer.«
Niko leerte das Getränk in einem Zug hinab, ohne eine Miene zu verziehen.
»So, vielleicht kann ich jetzt normal mit Dir reden. Wenn Du zu einer normalen Unterhaltung fähig bist?«
»Was willst Du?«
»Wissen, warum Du so bist. Denise ist ein süßes Mädchen, die einfach nur ihren Freund vermisst hat.«
»Sie ist abgehauen.«
»Ja, schon klar. Das war dumm. Aber deshalb gleich so einen Aufstand?«
»Ich bin nur hier um sie ...«
»Abzuholen, ich weiß. Aber siehst Du nicht, wie es ihr geht? Für sie stürzt gerade alles zusammen.«
Sie blickten beide zum Tisch, wo Denise inzwischen mit ihren Eltern telefonierte. Sie lehnte heulend an ihrem Freund und zitterte.
»Ich mache nur das, weswegen ich hergeflogen bin«, sagte Niko und zeigte Giannis die leeren Gläser.
»Noch zwei, bitte.«
Aléxandros brachte das Handy zu ihnen und streckte es Niko entgegen.
»Ihr Vater will mit Dir reden.« Auch er klang verbittert und niedergeschlagen.
Niko leerte den gerade gelieferten Tequila in einem Zug und entfernte sich von den Geschwistern, um ungestört mit Martin reden zu können.
Als Kira nach einigen Minuten von der Toilette zurückkam, hatte Niko sein Gespräch beendet. Er stand an der Bar und sprach mit Giannis, und als er sie kommen sah, bestellte er zwei weitere Gläser Tequila. Aléxandros war mit Denise wieder zurück an ihrem Tisch, wo er sie eng umschlungen festhielt und auf sie einredete.
»Und? Was hat er gesagt.«
Niko nahm das Glas und leerte den Drink hinunter.
»Dass es an mir liegt, wann der Rückflug stattfindet.«
Kira sah ihn überrascht an.
»Dann kannst Du ja noch etwas Urlaub hier machen und vielleicht ...«
»Ich habe Hunger, lass uns etwas bestellen«, unterbrach er sie und ging zurück zu dem traurigen Pärchen.