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Einleitung

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Die Untersuchung des Verhältnisses von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur in der Weimarer Republik versteht sich als Spezialstudie zu dem allgemeineren Problem der Beziehung der sozialen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zu deren politischer Herrschaftsform; in der Analyse dieser Beziehung konstituiert sich eine materialistische Staatstheorie.

Die Variationsbreite der empirischen Konstellationen von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur hat Rosa Luxemburg in einer knappen historischen Darstellung am Beispiel Frankreichs, dem, neben England, klassischen Land bürgerlicher Herrschaft umrissen. »Der Kapitalismus ruft in seinen Anfängen – als Warenproduktion – eine demokratische Verfassung in den städtischen Kommunen ins Leben; später, in seiner entwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absoluten Monarchie seine entsprechende politische Form. Endlich als entfaltete industrielle Wirtschaft erzeugt er in Frankreich abwechselnd die demokratische Republik (1793), die absolute Monarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit (1815 bis 1830), die bürgerliche konstitutionelle Monarchie des Louis Philippe, wieder die demokratische Republik, wieder die Monarchie Napoleons III., endlich zum dritten Mal die Republik.«1

Die Studie versucht, Strukturprinzipien der Vermittlungsformen von sozialer Verfassung und politischem Herrschaftssystem an einem isolierbaren Bereich geschichtlich zu spezifizieren.2 Sie folgt nicht einem antiquarischen Interesse. Denn die Privateigentumsherrschaft bildet die identische gesellschaftliche Grundlage nicht nur der Weimarer, sondern auch der Bonner Demokratie.

Der Begriff der Verfassungsstruktur, der im Unterschied zu dem des Privatrechtssystems in der Rechtswissenschaft keinen so festen Platz hat, soll nicht vorweg abschließend definiert werden, weil seine Konturen erst in historischer Explikation, in der Totalität einer bestimmten historischen Lage sichtbar werden können; »die Begriffe (werden) weniger durch eine Definition, als durch die methodische Funktion, die sie als aufgehobene Momente in der Totalität erhalten, zu ihrer richtigen Bedeutung gebracht.«3 Die Willkürlichkeit vorweggeschickter Definitionen bei wissenschaftlichen Erörterungen hat Hegel bezeichnet. »Eine Definition, mit der irgendeine Wissenschaft den absoluten Anfang macht, kann nichts anderes enthalten als den bestimmten, regelrechten Ausdruck von demjenigen, was man sich zugegebener- und bekanntermaßen unter dem Gegenstande und Zweck der Wissenschaft vorstellt. Daß man sich gerade dies darunter vorstelle, ist eine historische Versicherung, in Ansehung derer man sich allein auf dieses und jenes Anerkannte berufen oder eigentlich nur bittweise beibringen kann, daß man dies oder jenes als bekannt gelten lassen möge.«4 Sehr vorläufig freilich mag davon ausgegangen werden, daß Verfassungsstruktur sowohl den verfassungsrechtlichen Normenbestand wie, vor allem, die Realverfassung des politischen Bereichs meint.

Die Arbeit argumentiert auf zwei Erklärungsebenen. Als eine Erklärungsebene fungiert die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende ökonomische Entwicklung, die sich in bestimmte Rechtsformen übersetzt. Als zweite Erklärungsebene dient das politische Kräfteverhältnis der Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft, der Besitzer der Produktionsmittel und der von der Verfügung über die Produktionsmittel Ausgeschlossenen.

Die beiden Erklärungsebenen sind nicht in eine schlichte Ursachen-Wirkungsbeziehung auflösbar. Marx selber verweist auf die Unmöglichkeit der ökonomistischen Reduktion des politischen Kräfteparallelogramms. «Von verschiedenen Seiten warf man uns vor, daß wir nicht die ökonomischen Verhältnisse dargestellt haben, welche die materielle Grundlage der jetzigen Klassenkämpfe und Nationalkämpfe bilden. Wir haben planmäßig diese Verhältnisse nur da berührt, wo sie sich in politischen Kollisionen unmittelbar auf drängen.«5 Die politische Form des Klassenkampfes steht nicht in einem Implikationsverhältnis zur Warenanalyse.6 »Die als Kritik durchgeführte politische Ökonomie leitet nicht alle Erscheinungsformen, mithin auch den existierenden Klassenkampf, logisch eindimensional aus dem Verwertungsprozeß des Kapitals ab.«7 Zwar ist »die ökonomische Lage (…) die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegreiche Klasse festgestellt, usw. – Rechtsformen (…) üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen vorwiegend deren Form«.8

Die in politökonomische Verhältnisse nicht auflösbare Eigendynamik der staatlichen Herrschaftsverfassung, die wesentlich durch das geschichtlich prozessierende Kräfteverhältnis der Klassen bedingt ist, nötigt zu einem erweiterten Bezugsrahmen für eine materialistische Staatstheorie. In der Marxschen Theorie fällt eine an systematischen Kategorien zu orientierende Staatstheorie zwischen den ökonomiekritischen Schriften, die die Entmystifikation der Selbstbewegungsformen des Kapitals betreiben, und den Verlaufsanalysen konkreter Klassenkämpfe hindurch.9 Marx hatte bekanntlich vor, der Funktion des Staates eine gesonderte Untersuchung zu widmen.10 Ein Bezugrahmen für eine materialistische Staatstheorie ist im Kern bis heute nicht entwickelt. In der kürzlich geführten Kontroverse zwischen Poulantzas und Miliband11 über die Funktion des kapitalistischen Staates besteht das von Marx explizit nicht behandelte Problem fort: Die Staatsfunktion wird zerrissen in die politische Ökonomie allgemeiner Basisbedingungen (Poulantzas) und empirisch konstatierbarer Wechselbeziehungen zwischen kapitalistischen Interessen und Staatsaktivitäten (Miliband).12 In dem von Habermas13 und Offe14 vertretenen systemtheoretisch angereicherten Ansatz wird der gordische Knoten einer politökonomisch und klassenanalytisch fundierten Staatstheorie durchschnitten: tendenziell nimmt der Staat Subjektcharakter an; er wird zum lernfähigen System, das prinzipiell weder werttheoretisch noch klassenanalytisch zu erfassen ist. Dieser Ansatz ist mit weitreichenden Prämissen verbunden; sie de-thematisieren die Krisenproblematik und unterstellen die prinzipielle Latenz von Klassenauseinandersetzungen.15

In dieser, sehr kursorisch skizzierten, Theorielage kann ein Bezugsrahmen für eine materialistische Staatstheorie nicht in einem abstrakten Vorgriff entworfen werden. Vielmehr soll ein begrenzter Gegenstandsbereich, aus dem ein Baustein für eine materialistische Staatstheorie gewonnen werden könnte, historisch-empirisch aufgearbeitet werden: in der Form systematisierter Geschichte. Dies kann aufgrund der gegebenen Theorielage zu einem Teil unter nur deskriptiven Kategorien geschehen.

Die Kapitel I-III arbeiten die bürgerliche Interessenfundierung der Beziehung von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur im 19. Jahrhundert heraus: die Privateigentumsherrschaft setzt sich in die Verfassungsstruktur um. Der entscheidende Einschnitt erfolgt mit der Weimarer Republik, weil in ihr die Mechanik dieses Umsetzungsprozesses gestört erscheint. Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur geraten in ein widersprüchliches Verhältnis. Denn im Bereich der Verfassungsstruktur haben die Unterklassen prinzipiell die gleichen politischen Rechte wie die Repräsentanten des Privatrechtssystems. Die bürgerliche Interessenlage gebietet, diesen Widerspruch aufzulösen, das Privatrechtssystem in die Verfassungsstruktur zu verlängern. An drei Brennpunkten, in denen sich Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur schneiden, wird dieser Prozeß exemplarisch analysiert. Zuerst wird der Schutz des Grundpfeilers der Privatrechtsordnung, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, untersucht (Kap. V). Als zweiter Komplex erscheint die andere Seite des mit dem Privatrechtssystem gesetzten Klassenverhältnisses: die Stellung der Lohnarbeiterklasse im Rahmen der Privatrechtsordnung (Kap. VI). Schließlich werden die auf den Markt bezogenen, tauschvermittelnden Konnexinstitute des Privateigentums, die sich zu Instanzen privater Rechtssetzungsmacht ausbilden, verfolgt (Kap. VII). Die Schlußkapitel zeigen, wie sich in der ökonomischen Krise die in Kapitel V-VII konstatierte Inkorporation der Verfassungsstruktur in das Privatrechtssystem auf qualitativ höherer Stufe fortsetzt – bis zur Zertrümmerung der Weimarer Verfassungsstruktur im Faschismus.

1 R. Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Politische Schriften I, Frankfurt 1966, S. 107 f. Carl Schmitt analysiert den Sachverhalt in der gleichen Weise: »In dem Maße, in dem das Bürgertum den politischen Kampf nur noch unter dem Gesichtspunkt seines wirtschaftlichen Interesses führte (…), konnte es sich auch damit begnügen, den politischen Einfluß, den es brauchte, mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Macht durchzusetzen und sich im übrigen mit den verschiedenen Regierungen abzufinden: mit Bonapartismus, konstitutioneller Monarchie deutschen Stiles und demokratischer Republik, sofern nur das Privateigentum nicht bedroht und der Einfluß der wirtschaftlichen Interessen auf die Zusammensetzung der Volksvertretung nicht gefährdet war.« C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 19654, S. 312.

2 Zum Begriff der geschichtlichen Spezifizierung vgl. K. Korsch, Karl Marx, Frankfurt 1967.

3 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 11.

4 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, ed. Moldenhauer/Michel, Frankfurt 1969, S. 42 f. Hervorhebungen von Hegel. Vgl. auch T. W. Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, Frankfurt o. J. (1971), S. 54 f.

5 K. Marx, Lohnarbeit und Kapital, K. Marx/F. Engels, Werke (MEW) Bd. 6, Berlin 1970, S. 397. Hervorhebung von Marx.

6 J. Ritsert, C. Rolshausen, Der Konservatismus der kritischen Theorie, Frankfurt 1971, S. 54.

7 Ebenda.

8 f. Engels, Brief an J. Bloch, MEW Bd. 37, Berlin 1967, S. 463, Hervorhebung von Engels.

9 Vgl. H. J. Krahl, Produktion und Klassenkampf, in: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt 1971, S. 384 ff.

10 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 175. Vgl. auch das Vorwort des Marx-Engels-Lenin-Instituts zu diesem Band, S. IX.

11 N. Poulantzas, Das Problem des kapitalistischen Staates; R. Miliband, Der kapitalistische Staat: Antwort an N. Poulantzas, Kritische Justiz 2/1971, S. 201 ff. Die Kontroverse bezog sich auf das Buch von R. Miliband, The State in Capitalist Society, London 1969.

12 Vgl. die Rezension des ebenda genannten Buches von Miliband durch J. Ritsert, Kritische Justiz 2/1971, S. 221 ff.

13 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt 1968, S. 48 ff., ders., Bedingungen für eine Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Marx und die Revolution, Frankfurt 1970, S. 24 ff.

14 C. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen – Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaften, in: G. Kress/D. Senghaas, Politikwissenschaft, Frankfurt 1969, S. 155 ff.

15 Zur Kritik vgl. J. Ritsert, C. Rolshausen, a. a. O. (Anm. 6), S. 27 ff. und das unveröffentlichte Arbeitspapier von H. Neuendorff/U. Rödel, Projektentwurf. Untersuchung der Funktionen staatlicher Wissenschafts- und Technologiepolitik in spätkapitalistischen Systemen am Beispiel der Bundesrepublik.

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