Читать книгу Wir waren eine gute Erfindung - Joachim Schnerf - Страница 10

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Ich frage mich, was Sarah jetzt wohl täte, wo sie gerade wäre. Wahrscheinlich würde sie leise durchs Zimmer gehen und versuchen, sich fertig zu machen, ohne mich zu wecken. Ihre Füße streiften die Parkettleisten, streichelten sanft den Boden. Ich frage mich das, obwohl ich doch weiß, dass Sarah überall ist. Sarah. Ich mag es, ihren Namen zu flüstern, sie in meine Gedanken einzumauern, um das Vergessen an seinen Streifzügen zu hindern. Ich wickle meine Frau in unsere Teppiche und in unsere Vorhänge ein, ich zerstückle ihr Bild, damit kein Nazi sie ganz erwischen kann. Statt der Lampenschirme sehe ich ihre bläulichen Pupillen, statt der Kopfkissen ihre warmen Hände.

Und ich höre sie schimpfen: »Warum die Nazis, immer noch?« Sie hatte genug von der ständigen Shoah, aber ist es überhaupt möglich, eine Gedächtniswunde zu heilen? Sie infiziert sich immer wieder, sie wimmelt von Sarkasmen. So suchte ich sonntagnachmittags Zuflucht im Café unten, wo zwischen befreundeten Überlebenden der Lagerkrieg tobte, unser Shoah-Café, wo ich ungehindert lachen konnte: »… dein Struthof, eine Kur in den Vogesen, von dieser ver fluch ten Krankenversicherung finanziert … und die Duschen in Bergen-Belsen, ein Luxus, verglichen mit den Thermal bädern in Baden-Baden …« Unsere verborgensten Ängste mischten sich unter unsere spöttischen, notwendigen Tränen.

Der Hass auf den KZ-Humor, den Sarah entwickelt hatte, verstärkte sich nach der Episode mit den Fischen, die, wie sie behauptete, unsere beiden Töchter traumatisiert habe. Denise war damals acht, Michelle sechs. Ich hatte sie am Tag vor dem 14. Juli auf den Jahrmarkt mitgenommen. Nach ein paar Runden Karussell flehten sie mich an, mich beim Entenangeln zu versuchen und einen Goldfisch einzuheimsen. Mit sicherer Hand gewann ich zweimal, und meine Töchter durften jeweils eine mit Wasser gefüllte Plastiktüte nach Hause tragen. Darin schwamm ein winziges geschupptes Viech. Im Auto stritten ihre hellen Stimmen um die Namen für die neuen Freunde, bis ich sie daran erinnerte, dass ich derjenige war, der sie gewonnen hatte, und sie dementsprechend auch taufen durfte. Stille hinten. Lachen am Steuer. Sarah kam spät von der Arbeit zurück und entdeckte die beiden in einer Salatschüssel schwimmenden Goldfische. Ganz aus dem Häuschen übernahm Denise die Vorstellung: »Mama, das sind Goebbels und Göring, sie sind Brüder. Und ihre Namen fangen gleich an! Goebbels gehört mir, und Göring Michelle.« Sarah wurde kreidebleich und brüllte: »Salomon!«

Einer der beiden Fische starb nach achtundvierzig Stunden, ohne dass man gewusst hätte, ob nun der Herr über die Lüfte oder der Herr über die Propaganda verschieden war. Michelle bestimmte, indem sie Denise das Ableben ihres Goldfisches aufnötigte. »Göring hat überlebt, so ist das eben. Du kannst deinen Goebbels selbst ins Klo schmeißen, das mach ich bestimmt nicht für dich.« Sprachlos wohnten Sarah und ich der Szene bei, und mit gesenktem Blick tat Denise wie ihr geheißen. Unsere Passivität sollte Sarah rasch bereuen, als wir am folgenden Tag von Denise’ Klassenlehrerin einbestellt wurden. Sie zeigte uns ein Aufgabenheft voller Herzchen, die sieben unschuldige Buchstaben rahmten: G – u – e – b – e – l – s.

Sie verzieh mir, jedes Mal. Nie grollte sie mir länger als ein paar Stunden, meine gedächtnislose Heilige. Woher soll ich heute Abend die Kraft nehmen, die Frucht der Rebe zu heiligen, den Weinsegen zu sprechen, der den Sederabend eröffnen wird? Sarahs Milde ist unvergänglich, und dennoch wird sich in jenem ersten Kelch Wein der Tod spiegeln. In der Tischmitte thront der Becher für den möglicherweise jederzeit eintreffenden Messias. Doch diese Nacht, diese so andere Nacht wird dem Becher keine Hoffnung lassen: Er wird immer der für die Abwesende sein. Ihre Lippen werden sich dem geheiligten Wein nicht nähern, wenn die fünf Erwachsenen- und zwei Kindermünder den ersten der vier Sederbecher trinken. Ein feierliches Gebet, das ich mit zitternder Stimme werde rezitieren müssen. Dabei werde ich die Brille zurechtrücken, obwohl meine Lider, die ich erst gegen Ende der Lobpreisung des Weins wieder zu öffnen wage, geschlossen sind. Lieber würde ich einnicken, in den rührseligen Erinnerungen der Sklaverei schwelgen und mir weinend ausmalen, wie die Peitschenhiebe der ägyptischen Vorarbeiter auf mich niedergehen.

Aber Sarah wird nicht da sein, und der erste Becher wird gefüllt bleiben. Warum diese Nacht ohne sie? Wie soll ich diese, den anderen allzu ähnliche Nacht überstehen? Seit fünfzig Jahren habe ich Pessach nicht ohne meine Frau gefeiert. Gut vierzig Jahre lang haben Michelle und Denise kein ungesäuertes Brot ohne ihre Mutter gegessen. Die Schwiegersöhne rechnen lieber nicht nach, und die Enkel haben keinen Zeitbegriff. Diese Familie, die Sarah so teuer war. Denise und ihr Pinhas, der mediterrane Märchenerzähler, mit dem sie keine Kinder hat. Dann Michelle und Patrick, die zwei reizende Dämonen zur Welt gebracht haben. Tania, die Ältere, die Rebellin. Und Samuel, inzwischen zwölf, mit seinem glatten, unschuldigen Puppengesicht, das Sarah mit ihren faltigen Händen so gern bis in den letzten Winkel ertastete, wenn er sich bei den Familienessen neben sie setzte. Immer saß er am Sederabend zwischen ihr und mir. Um vom Auszug aus Ägypten zu hören, bereit, mir bei jeder Gelegenheit Fragen zu stellen. Denn so ist es, der Pessachabend ist die Nacht der Überlieferung an die Jüngsten, die Nacht der Fragen. Die Nacht, in der man die Trauer entdeckt.

Die Haggada nennt vier Sorten Kinder, mit denen die Erwachsenen an jenem Abend zu tun haben können: das weise, das böse, das einfältige Kind und das, das-nochnicht-einmal-zu-fragen-versteht. Genau in diesem Moment kriegten sich für gewöhnlich unsere beiden Monster, Samuel und Tania, unter dem liebevollen Blick ihrer Großmutter in die Haare. Und wie im vergangenen Jahr wird Tania, ganz das Vorzeigekind, auch heute Abend die Stimme erheben, um die erste Passage zu lesen: »Was sagt der weise Sohn?« Samuel wird die Geschichte des zweiten Sohnes erzählen wollen, aber die Fingernägel seiner Schwester werden sich Stille gebietend in seinen Oberschenkel krallen. Dann wird es weitergehen wie jedes Mal. Sie wird mit dem zweiten Sohn, dem bösen, fortfahren, dann mit den übrigen und Samuel dabei breit grinsend anschauen. Um schließlich auch noch die übrige Tischgesellschaft mürbe zu machen, wird sie genüsslich mit den Quasten der um ihren Hals geschlungenen Kufiya spielen. Tania trägt sie ostentativ, um uns zu ärgern, vor allem aber, wie sie sagt, um die unglücklichen Unterdrückten auf der Welt nicht zu vergessen. Tania ist fast fünfzehn und kleidet sich mit ihrem Engagement.

Im vergangenen Jahr erlebte Tanias Austauschpartnerin diese Szene mit, ohne einen Mucks zu wagen. Leyla wirkte hin- und hergerissen zwischen der wachsenden Anspannung der Tischgäste und der Freude, an den Traditionen ihrer Gastfamilie teilzuhaben. Ein paar Wochen nach dem Sederabend erzählte meine Enkelin mir, dass ihre Austauschpartnerin tatsächlich noch nie ein Fest mit ihrer Familie gefeiert habe. Als sie nach dem Abendessen wieder in Tanias Zimmer waren, hatten sie sich unterhalten.

Leyla kannte ihren Vater nicht und war in der kleinen Berliner Wohnung, in der Tania damals untergekommen war, allein mit ihrer Mutter aufgewachsen. Als sie jünger war, hatte sie Geschwister gewollt, und später hatte sie ihre Mutter zu überzeugen versucht, den Kontakt zu ihren in der Türkei verbliebenen Cousins wieder aufzunehmen. Doch es war nichts zu machen, im Laufe der Jahre hatte sich die Einsamkeit immer weiter ausgebreitet. Sie war glücklich gewesen, wenn sie neben ihrer Mutter vor dem Fernseher zu Abend aß, beide aufs Sofa gefläzt. Später hatte sie andere Kinder kennengelernt und neue Möglichkeiten entdeckt, den Tag zu beschließen. Erzählen, einander anschauen.

Sie traute sich aber nicht, jemanden zu sich einzuladen, bis zu dem Pflichtaustausch mit einer gleichaltrigen Französin. Die erste Freundin, die sie in einer fremden Sprache und inmitten ihrer exzentrischen jüdischen Familie erlebt hatte. Ihrer eigenen Mutter hingegen konnte sie stets nur für einen Sekundenbruchteil in die Augen schauen. Wenn sie zusammen waren, saßen sie sich nie gegenüber, immer nur nebeneinander. Leyla hatte lernen müssen, das Profil ihrer Mutter zu entschlüsseln, ihre Launen an den Winkeln der Augenlider abzulesen. Traurigkeit zum Beispiel. Sie hatte ihre Mutter weinen gehört, aber nie weinen gesehen. Leyla ahnte ihre Sorgen auf Höhe der Schläfen, an den gräu lichen Wurzeln, die an ihrem prachtvollen schwarzen Haar zehrten, in dem sie sich so gern vergrub. Aber sie kannte die Gesichtszüge ihrer Mutter, die Form ihrer Lippen nicht genau. Keine Küsse, nur ein Hals und das lange Haar, um darin zu vergehen.

Wir waren eine gute Erfindung

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