Читать книгу Wir waren eine gute Erfindung - Joachim Schnerf - Страница 11
ОглавлениеIch versuche, die Nacht zu verlängern und an jenen Morgen zu denken. Wir lagen im Bett. Das gleiche Bett, das gleiche Licht, das durch die Vorhänge milder wurde, bevor es unsere Gesichter traf; und über unsere noch jungen Lippen einen Schatten warf. An den Wänden befand sich damals eine Tapete mit gelblichen Motiven, an deren genaue Form ich mich nicht mehr erinnere. Wir waren wach, eine schlaflose Nacht, Wange an Wange, die Augen der Zimmerdecke zugewandt. Ein paar Stunden zuvor hatte Sarah mir eröffnet, dass sie schwanger sei, dass wir bald Eltern würden. Die Nachricht kam nicht völlig überraschend, wir sprachen schon lange darüber, und ich wusste, unsere bisweilen gereizten Diskussionen würden in diese Nacht münden, da Sarah ihre Hand auf meine legen und mir die Neuigkeit eröffnen würde. Acht Monate später sollte Denise zur Welt kommen.
Auf die sachlichen Diskussionen, die der Ankündigung vorausgegangen waren, folgten jetzt die Panikattacken. Wie konnte man ein Kind dieser Welt aussetzen? Der Welt der Lager, dem kriegerischen 20. Jahrhundert, das seinen überlebenden Kindern lediglich die Perspektive des Kapitalismus bot. In jener Nacht war mir nicht zum Lachen zumute, ich wagte noch nicht einmal, Auschwitz zu erwähnen. »Du sagst ja gar nichts.« Natürlich sagte ich nichts, die Angst drehte mir den Magen um, und die Bilder der aufgeschichteten Toten legten sich über jeden Gedanken an unser Kind. Wenn ich an das Baby dachte, dachte ich an verwesendes Fleisch. Unmenschen. Ich biss die Zähne zusammen, drückte ihre Hand, blieb stumm, unfähig, zu scherzen. Sie war von meiner Reaktion enttäuscht, ich hatte ebenso belanglose wie panische Sätze gestammelt, als plötzlich der Wecker … War ich doch irgendwann eingeschlafen? Noch bei geschlossenen Augen stellten meine Finger das Klingeln ab, während ich versuchte, meine nächtlichen Gedanken zu entwirren. Wache Gedanken, Visionen und Träume, deren Grenzen nicht auszumachen waren. Sarah hatte nicht versucht, mich aus dieser Innenwelt zu lösen, die ich egoistisch zwischen uns errichtete. Sie wusste um meine Angst vor der Vaterschaft, vor dieser Zukunft im Lichte der Massaker, und doch lag sie neben mir in diesem Bett, als der Wecker klingelte. Ob sie geschlafen hatte?
Unter der Bettdecke suchte ich nach ihrer Hand, fand sie schließlich, eine Faust auf der Höhe ihres Bauchnabels. Verschlossen und kraftlos. Ich bedeckte sie mit meiner und versuchte, die Bilder zu verscheuchen, die mein Kopf während der Nacht hervorgebracht hatte. Die Geburt auf einer modernen Entbindungsstation, ein medizinisch bestens ausgerüsteter Raum, wo die Geräte im Takt eines noch ungeborenen Herzens schrillen. Ein Kreißsaal, wie ich ihn aus dem Kino kannte. Ohne Decke, noch nicht einmal eine gläserne, nur vier Wände und über unseren Köpfen der Himmel. Sarah liegt. Sie ist angespannt. Sie schwitzt. Ihre Finger zerren nervös an ihrem grünen Kittel, während das Krankenhauspersonal sich auf Höhe ihrer Füße zusammendrängt. Ich weiß nicht mehr, ob es mein Traum war oder tatsächlich Denise’ Geburt ein paar Monate später, oder die von Michelle. Die Bilder verschwimmen unter dem grauen Himmel, der den Kreißsaal überspannt. Die gleichen dunklen Wolken, die den Rauch der Krematorien schluckten. Bläuliche Schimmer, die im Rhythmus der Schreie aufleuchteten und verblassten. Ein gefundenes Fressen für den Psychoanalytiker.
Von dieser Episode ist mir vor allem die Stille in Erinnerung, die der Wecker zerriss, um den Anfang meines Lebens als Vater einzuläuten. Es ging nicht mehr darum, sich nach der Berechtigung der Vaterschaft zu fragen, nach ihren Möglichkeiten und Risiken, nach Verantwortung, Schuldgefühl und Pflicht, nach Vermächtnis und Verlassen. Ich wusste, dass trotz allem und trotz dieser Nacht ein Kind, mein Kind zur Welt kommen würde.
Geräuschlos stand Sarah auf. Sie kramte in ihrer Kommode und zog eine Strickjacke aus Kaschmir heraus. Ich setzte mich auf, und sie begann mit fester Stimme, unsere Wohnung zu beschreiben, in der bald nicht mehr ein Paar, sondern eine Familie leben würde. Theatralisch sah sie die Zukunft vor sich und vergaß bereits ihre Enttäuschung. »Stell dir mal vor, das Elternschlafzimmer … Unser Schlafzimmer wird bald Elternschlafzimmer heißen! Los, komm mit, beeil dich ein bisschen, Salomon, schau dir das zukünftige Zimmer unseres Sohnes an, diesen klapprigen Sessel verkaufen wir, hier kommt die Wiege hin und da ein Wickel tisch, außerdem musst du einen Schrank für seine ganzen Sachen bauen, versprich mir das, mit deinen schönen kräftigen Händen, es ist mir so wichtig, dass unser Kind selbst gemachte Möbel von seinem kleinen Papa hat. Ja, du wirst Papa, gewöhn dich nur schnell daran, mein Salomon, kein bisschen Ruhe mehr, sobald wir mit unserem Baby auf dem Arm zurückkommen, stell dir vor, wir drei auf der Türschwelle, kurz davor, unsere neue Wohnung zu betreten. Wir werden alles neu streichen, ich will fröhliche Farben, ich kann diesen düsteren Gang nicht mehr sehen, kannst du dir die ganzen Spielsachen, Plüschtiere und Kinderbücher vorstellen, die überall auf den Fliesen herumliegen? Bis zu den großen Fenstern kein freier Zentimeter mehr, ohne sofort ein Spielzeug zu zertreten. Los, wach auf, Salomon! Bemüh ein bisschen deine Fantasie, siehst du ihn im Badezimmer? Wie er in der Wanne planscht, während du mit der Seife hantierst, darum kannst du dich nicht drücken, ich kann mich nicht um alles kümmern, weißt du, deine Rolle als moderner Ehemann musst du schon ernst nehmen … Er kann in unser Bett schlüpfen, wenn ihm etwas wehtut oder er Trost bei einem von uns sucht. Ich habe gelesen, dass die Geburt eines Geschwisterchens die Großen oft verstört. Was? Wir werden ja wohl nicht nur ein Kind haben!«
An diesen Ausruf erinnere ich mich am klarsten. Sarah, die von einem zweiten Kind sprach, während mein Geist noch im Bahnhof von Drancy festsaß, nächster Halt Auschwitz. Heute könnte ich ihr endlich antworten. »Ja, ich will zwei Kinder, ich hätte liebend gern zwei Töchter, und noch lieber Enkelkinder.« Ich würde ihr so gern antworten, um die Enttäuschung jener Nacht wettzu ma chen. Habe ich ihr im Laufe unseres langen gemeinsamen Lebens oft genug gesagt, dass ich es nicht bereute? Dass mich die Vaterschaft trotz aller Ängste glücklich gemacht hat?
Die Tage vergingen, und als der Geburtstermin näher rückte, musste ein Name gefunden werden. Sarah ließ nicht locker, wir bräuchten keinen weiblichen Vornamen zu suchen, sie erwarte einen kleinen Jungen. Er würde Denis heißen. Nach ein paar rasch entkräfteten Gegenvorschlägen begriff ich, dass es nichts bringen würde, in Geschlechts- oder Namensfragen mit ihr zu streiten, und ich mich besser zurückhielt, um einen unnötigen Konflikt zu vermeiden. Sarah und ich hatten kaum gestritten. Sie hatte gern bei jeder Gelegenheit das letzte Wort, und ich bin Konflikten und Geschrei immer aus dem Weg gegangen. Leider musste ich mich an das meiner Jüngsten gewöhnen, nachdem es mir – bis zu Michelles Geburt – in unserem Leben zu zweit und zu dritt gelungen war, die Ruhe aufrechtzuerhalten. Dabei traute sich unsere Jüngste nie, ihre Mutter oder mich direkt anzuschreien, wir waren bloße Zeugen, machtlose Zuschauer ihrer Gewaltausbrüche, die sich zuerst gegen ihre Schwester, später gegen ihren Ehemann und ihren Schwager richteten. Manchmal auch gegen meine Enkel.
Meine KZ-Witze ärgerten Sarah, doch diese Ausfälle stimmten sie tieftraurig. Sie fühlte sich schuldig, unsere zweite Tochter (die eigentlich ein Junge hätte sein sollen, Michel, Sarahs Mutterinstinkt konnte sie kein zweites Mal täuschen) nicht in ruhigere Bahnen gelenkt zu haben. Nie hörte sie auf, unsere Töchter zu lieben, mit der gleichen Energie, mit der gleichen Ehrlichkeit. Sie hätte so gern einem Jungen das Leben schenken wollen, doch ich wusste auch, dass ihre Mutterliebe weder für Verbitterung noch für Enttäuschung Platz lassen würde. Sie machte die Verstimmungen mit einem Wimpernschlag ungeschehen und liebte uns so. Meine heilige Sarah.